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Ilse Aichinger: "Erfüllte Wünsche sind ein Unglück"

Den Abdruck des Fotos auf Seite 31 in Iris Radischs "Lebensendgesprächen" muss Ilse Aichinger auatorisiert haben. Sie schaut wie ein Eimer saure Milch - es gibt im Übrigen andere Fotos von ihr. Vermutlich ist es ein zeitnahes Foto aus den 90er Jahren. Das Interview fand am 24. Oktober 1996 statt. Am 11.11.2016, vor wenigen Tagen, ist Ilse Aichinger gestorben. Und dennoch kommt einem das Interview 20 Jahre zuvor wie ein "Lebensendgespräch" vor. Und es wird von Iris Radisch auch so geführt bzw. Ilse Aichinger lässt ihr gar keine Alternativen. In der Einleitung vermerkt Iris Radisch, dass Günter Eich bereits ein Vierteljahrhundert tot ist - solange ist Ilse Aichinger Witwe. Ihre "Nabelschnur" zur Welt pulsiert über einen jungen Mann, Richard Reichensperger, der - wie Radisch betont - ihre Werke herausgegeben hat und darüber seit vielen Jahren zum wichtigsten Mann in ihrem Leben geworden sei.

Im letzten Absatz ihrer Einführung bekennt Iris Radisch, dass sie einen Satz Ilse Aichingers seinerzeit nicht in das Interview aufgenommen habe. Sie - Ilse Aichinger - hatte im Verlauf des Gesprächs geäußert, dass sie die junge Gestorbenen beneide. Auf Radischs Nachfrage, warum, antwortet sie: "Wenn man schon lebt, würde man sich wünschen, so jung zu sterben wie der Georg Büchner oder wie der Hans Scholl, es ist besser, das ist meine Ansicht." Die Ironie des Schicksals lässt die Aichinger dann noch einmal auf dramatische Weise erfahren, wie sich dies - als Beobachterin - aufgrund von Ereignissen im unmittelbaren Umfeld anfühlen muss. Mit den Worten Iris Radischs: "Im Nachhinein wird er (dieser Satz, Verf.) gespenstisch: Zwei Jahre nach unserem nächtlichen Spaziergang stürzt Ilse Aichingers Sohn Clemens Eich in Wien und stirbt wenig später an den Folgen des Sturzes im Wiener Allgemeinen Krankenhaus im Alter von 43 Jahren. Sechs Jahre nach dem Tod von Clemens Eich stürzt auch Richard Reichensperger in Wien und stirbt ebenfalls an den Folgen des Sturzes im Wiener Allgemeinen Krankenhaus im Alter von 43 Jahren. Diesselbe Todesart, derselbe Ort, dasselbe Krankenhaus, dasselbe Alter. Elfriede Jelinek schrieb in ihrem Nachruf auf Richard Reichensperger: 'Und Ilse Aichinger hat viele viele Gründe gehabt, dass immer und immer wieder etwas Schreckliches zu ihr und aus ihr gekommen ist."

Wir gehen mit Iris Radisch zurück in den Oktober 1996. Ich stelle unmittelbar nach den ersten Repliken fest: Warum, verdammt noch Mal, muss - will diese Frau noch zwanzig Jahre Leben??? Sie lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sie Imre Kertészs Vorstellung: "Ich glaube, ich habe alle meine Augenblicke schon erlebt" wie kaum jemand anders verinnerlicht hat. Sie ist die Inkarnation der Feststellung: "Es ist fertig, und ich bin noch da." Und dennoch habe ich persönlich bislang in keinem der Interviews einen so intensiven Lernprozess begonnen! Aber eins nach dem anderen:

  • Ilse Aichinger bekennt, dass sie nie Schriftstellerin werden wollte: Ihr Roman Die größere Hoffnung sei eigentlich ein Missverständnis: "Ich wollte zunächst nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zu viel darin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig." Iris Radisch fragt nach: "Nur einen Satz über den Krieg?" Und Aichinger kommt zu der interessanten Feststellung, dass der Krieg ihre glücklichste Zeit gewesen sei: "Was ich da mit angesehen habe, war für mich das Wichtigste im Leben. Die Kriegszeit war voller Hoffnung. Man wusste sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht, was man in Wien heute nicht mehr weiß. Der Krieg hat die Dinge geklärt."

Wie alt ist man eigentlich mit 75? Und was mag es dann heißen, noch zwanzig Jahre leben zu müssen und mit 95 endlich den Löffel abgeben zu müssen/dürfen? Ilse Aichinger hat darauf mehrere ernüchtende Antworten parat, die sich gewissermaßen zu einer pränatal begründeten Lebensmüdigkeit verdichten:

  • "Ich hatte schon als Kind den Wunsch zu verschwinden [...] Der Wunsch ist immer noch da. Ich habe es immer als eine Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt."
  • "Man begreift, dass die ganze Biologie eine terroristische Überlebensstrategie ist, der man eigentlich nicht gewachsen sein möchte. Man wird nicht gefragt. Man wird auch nicht gefragt, ob man sterben will. Ich will tot sein, aber sterben möchte ich auch nicht, weil ich einige Male mit angesehen habe, wie lange das dauern kann. Diese Zumutungen, nicht nur an mich, sondern an jeden, der lebt."

Das nervt! Es klingt larmoyant. Bei dem, was war - und bei dem, was da noch kommt von Ilse Aichinger versteht man diese Art von weinerlichem Selbstmitleid überhaupt nicht. Ilse Aichinger hat - wie Iris Radisch feststellt, den Krieg mit ihrer jüdischen Mutter irgendwie in einem kleinen Zimmer in Wien notdürftig überlebt. Die Großmutter wurde deportiert und kam um. Einer der nüchternsten Erkenntnisse fasst Ilse Aichinger in dem Satz zusammen: "Man überlebt nicht alles, was man überlebt." Sie konkretisiert auf die Nachfrage, was sie nicht überlebt habe:

"Den Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewissheit, dass meine Großmutter, die mir der liebste Mensch war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind eine einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg."

Die Kehre: Ilse Aichingers Botschaft: "Die Präsenz der Menschen - manchmal auch der Tiere". Iris Radisch fragt nach: "Was ist das?" Ilse Aichinger holt etwas weiter aus:

"Ich habe einmal ein Gespräch mit einem fremden Menschen abgebrochen und bin weggegangen, weil ich zu müde war. Heinrich Böll war dabei, und ich sagte zu ihm: 'Ich habe diesem Herrn nicht gute Nacht gesagt', und habe ihn gebeten, es für mich zu tun. Und Böll sagte: 'Der ist nicht existent, dem muss niemand gute Nacht sagen.' Existent und nicht existent, das war ein genialer Ausdruck. Dieses Existentsein, ob man schon lebt oder tot ist, ob man schon da war oder nie da war, das ist für mich ein Begriff."

Ok, ich habe auch gezuckt. Aber bitte sorgfältig hinschauen. Es kann schon der Eindruck entstehen, Heinrich Böll nehme jemanden die Existenz und Ilse Aichinger applaudiere. Aber das ist wohl nicht gemeint. Der Schrecken wird erst nachhaltig, wenn man die Idee auf die eigene Existenz, das eigene Existieren anwendet. Wir können nun zu den essentiellen Aussagen und Erkenntnissen Ilse Aichingers vordringen, zu dem, was zumindest mir zu denken gibt. Zunächst fragt Iris Radisch daraufhin: "Es gibt lebende Menschen, die nicht existent sind?" Und Ilse Aichinger antwortet:

"Die meisten. Aber sie könnten es ssein. Es ist natürlich komplizierter, schwieriger, es fordert eine gewisse Askese, existenz zu sein. Vor allem eines ist nötig, es zu merken, dass man nicht existent ist. Denn jeder ist bis zu einem gewissen Grad nicht existent. Mit dieser Nichtexistenz zu leben, ist die einzige Askese, die heute möglich ist."

Vermutlich ein wenig erstaunt fragt Iris Radisch nach: "Askese?" Aichingers Antwort ist frappiernd und entwaffnend zugleich:

"Verzicht. Ich habe gelernt, dass die Wünsche des Wichtigste sind. Und dass erfüllte Wünsche ein Unglück sind. Es ist extrem schwierig, ohne unerfüllte Wünsche zu leben."

Iris Radisch und Ilse Aichinger sitzen im Café Imperial - mitten in Wien. Und Iris Radisch macht den Text auf die Tauglichkeit dieser verblüffenden Kehre und fragt: "Sehen Sie den Menschen ihre Existenz oder Nichtexistenz auf den ersten Blick an? Auch hier im Café Imperial? Und Ilse Aichinger bleibt die Antwort nicht schuldig - ganz im Gegenteil geht sie gewissermaßen in die Offensive und meint:

"Hier besonders. Selbst wenn ich nur den Rücken sehe, die zu sprechen oder zuzuhören. Das gibt es heute nicht mehr, heute sprechen immer alle gleichzeitig. Es ist zu Ende." Iris Radisch insistiert: "Und die Toten, die Opfer? Die Hoffnung, das ihre Leiden nicht sinnlos waren, ist verloren?"

Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Die Düsternis in Ilse Aichingers Weltsicht hellt sich unverhofft auf:

"Sie werden präsent bleiben. Ich glaube an die Präsenz der Lebenden und der Toten. Ich weiß nicht, ob sie wirklich erreichbar sind. Aber ich spüre eine Präsenz. Sophie und Hans Scholl zum Beispiel, dass diese beiden präsent sind, das spüre ich immer. Das gehört zu den wenigen beruhigenden Dingen, die es gibt."

Ich möchte zum Abschluss noch auf eine gewisse Nähe hinweisen. Ilse Aichinger ist jahrgangsmäßig meiner eigenen Mutter drei Jahre voraus, meiner 93jährigen Schwiegermutter, mit der ich seit gut einem halben Jahr unter einem Dach lebe, ist sie zwei Jahre voraus. Ilse Aichingers Antwort auf Radischs Frage, was sie denn täte, wenn sie heute 28 Jahre alt wäre, konfrontiert mich mit einem Privileg, das sich auch in diesem aktuellen Blog-Eintrag manifestiert: Ilse Aichinger würde Philosophie studieren und daneben etwas tun, "was helfen kann, sei es psychisch oder einfach jemandem zuhören". Ich höre Ilse Aichinger zu:

IR: "Warum Philosophie?" - IA: "Um die Begründung der Existenz zu erfahren." IR: "Die Antwort auf die Frage, warum sind wir?" IA: "Ja." IR: "Wissen sie das nicht schon längst?" IA. "Ich möchte es nachlesen, schwarz auf weiß." IR: "Sie haben immer wieder gesagt, dass das Schweigen das ist, worauf alle Worte, die sie schreiben, zulaufen. Dass man sich selber und er Welt am besten Schweigen auferlegen sollte."

IA: Auch wenn man spricht, die Währung müsst gedeckt sein durch Stille. Früher hatte man dieses altmodische Wort Betrachtung, das meint: genau hinschauen und lange hinschauen. Immer durch diesselben Straßen gehen und warten, bis man etwas entdeckt. Ich bin nicht für Abwechslung. Ich reise nicht gerne. Betrachtung ist für mich ein äußerst wichtiges Wort. Zu Beginn mag es langweilig sein, weil man es nicht beherrscht. Später kann man erfahren, dass Geist in der Welt ist. Immer die gleiche kleine Menge."

Der Liebe und dem Ausblick ist das letzte Wort vorbehalten. Von allen Interviews, die ich bisher bearbeitet habe, hinterlässt dieses mit Ilse Aichinger sicherich den nachhaltigsten Eindruck - vielleicht auch deshalb, weil ich - angewiesen auf die heilsame Kraft der sanften Ironie - lerne, mit den unvermeidbaren Paradoxien des Lebens zurechtzukommen; tatsächlich hilft mir Ilse Aichinger dabei. Was hat sie denn noch zu sagen. So Sätze wie:

  • "Ich wollte nie ein Frauenleben führen, allerdings als die Kinder dann da waren, war ich glücklich mit ihnen."
  • "Nein. Mein Mann gehört zu diesen Präsenzen, die nicht weggehen" antwortet sie auf die Frage, ob sie sich in den 24 Jahren seit dem Tod ihres Mannes, Günter Eich, unvollständig gefühlt habe.
  • "Ich hätte keinesfalls jemand anderen geheiratet, nur um zu heiraten. Es war eigentlich eine Gegenaktion gegen mich selbst. Und ich habe es mir immer auch eine Spur übel genommen. Aber ich habe es nicht bereut" antwortet sie auf die Frage, ob es das gebe: den einen Menschen, der der einzig richtige ist und kein anderer?
  • "So fremd wie das, was man liebt, kann das Ungeliebte nie werden. Es muss extrem sein, sonst ist es banal." Das ist Ilse Aichingers Antwort auf Iris Radischs Hinweis, dass sie geschrieben habe, die äußerste Liebe sei die äußerste Einsamkeit.

Was wünscht sich Ilse Aichinger am 24 Oktober 1996 für ihre Zukunft? "Dass meine Zukunft nicht mehr zu lange dauert."

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund