Imre Kertész: "Ich habe alle meine Augenblicke schon erlebt. Es ist fertig, und ich bin noch da."
Iris Radisch trifft Imre Kertész zum ersten Mal 1997 und zum zweiten Mal 2013. Von seinem Lebensbuch "Roman eines Schicksallosen" sei eine moralische und literarische Revolution ausgegangen. Es sei kein "weiterer edler Tropfen im Strom der Neuerscheinungen, sondern ein Staudamm, an dem man nicht vorbeikommt." Sie stellt einen Vergleich an, indem sie davon ausgeht der "Roman eines Schicksallosen" bedeute für die europäische Literatur, was die "Blechtrommel" für die deutsche Literatur bedeutet: "Den Autoren beider Bücher war klar, dass man an die Vor-Auschwitz-Sprache nicht mehr anknüpfen konnte. Und beide fanden eine neue Sprache, um in die Abgründe der Vergangenheit hinabzusteigen. Eine satte, körperwarme Sprache der eine, eine ausgenüchterte, atonale Sprache der andere." Bei Imre Kertész beeindruckt - man könnte auch sagen schockiert, ähnlich wie bei Ruth Klüger, das nüchterne, kontingenzgewärtige Resümee eines unwahrscheinlichen Lebens:
Iris Radisch nimmt auf Imre Kertész' Tagebücher Bezug und fragt ihn, warum er mit sich selber so hart ins Gericht gehe und sich immer wieder mit dem Vorwurf quäle: Ich lebe das falsche Leben. Kertész schlichte Antwort lässt uns ratlos zurück:
"Wer weiß, welches Leben man hätte leben können."
Ähnlich wie Hannah Arendt beginnt Imre Kertész seine eigene Lebensgeschichte unter dem Signum der "Banalität des Bösen" zu begreifen und zu beschreiben. Auf die Frage, was ihn zum Künstler gemacht habe, antwortet er:
"Ein einziger Augenblick. Ich war 25 Jahre alt. Bis dahin hatte ich nur Anekdoten über Auschwitz erzählt. Eines Tages wurde mir schlagartig klar: Ich bin nicht einfach ein Mensch, der Auschwitz überlebt hat, sondern es ist eine großartige Geschichte mit mir passiert. Und das muss ich ergreifen. Ich wurde von einer Sekunde zur anderen ein ganz anderer Mensch."
Wie sehr ihm bei alledem eine "ausgenüchterte, atonale Sprache" entspricht, illustriert Kertész in seiner Abgrenzung von Jorge Semprún, der ihm von Iris Radisch als sein "großer Gegenspieler in der Literatur des Holocaust" entgegen gehalten wird. Am Beispiel von Ilse Koch, der Ehefrau des Kommandeurs von Buchenwald, werden die unterschiedlichen - ja gegensätzlichen - Konnotierungen deutlich: Für Semprún sei sie selbst eine Henkerin gewesen. Er sei hingegen der Auffassung, diese Psychologie habe in Romanen nichts zu suchen. Der Totalitarismus verändere den Menschen. Er vergesse, wer er eigentlich gewesen sei: "In ihrem zivilen Leben hat Ilse Koch gelernt, dass man nicht morden soll. Und sobald sie in Buchenwald war, hat man ihr beigebracht, das Morden eine Tugend ist." Er greift Radischs Resümee auf, dass man die Verwandlung der Sekretärin Koch in die KZ-Kommandeuse Koch nicht mit den traditionellen Mitteln des psychologischen Realismus beschreiben könne:
"Ich wollte die Literatur nicht revolutionieren. Aber ich habe diese Entdeckung gemacht."
Imre Kertész stirbt im Frühjahr 2016 im Alter von immerhin 87 Jahren. Drei Jahre vor seinem Tod gibt ihm Iris Radisch zu bedenken, dass er mit dieser Entdeckung und seinem daraus folgenden Lebenswerk doch alles richtig gemacht und seinen Auftrag vorbildlich erfüllt habe. Kertész räumt das durchaus ein - allerdings mit der Einschränkung, sein einziger Fehler sei eben, dass er nicht zur rechten Zeit über seinen Tod verfügt habe: "Ich kann das jetzt nicht mehr ändern." Und auf die Frage, ob es denn nicht immer noch Augenblicke gebe, für die sich das Leben lohne, antwortet Imre Kertész resigniert:
"Ich glaube, ich habe alle meine Augenblicke schon erlebt. Es ist fertig, und ich bin noch da."