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Erinnerungskultur?

Es gab da heute eine kleine Lücke in meinem Tagesplan. Da stand in erster Linie die Erprobung eines Hörgerätes. Seit Jahren lässt mein Hörvermögen nach. Warum ist eigentlich das Hören von großer Bedeutung? In den Praxisräumen meines kürzlich verstorbenen HNO-Artzes hing ein Spruch, den ich vor Jahren ins Langzeitgedächtnis übernommen habe: Das Nicht-Sehen-Können trennt von den Dingen - das Nicht-Hören-Können trennt von den Menschen.

Kleine Randbemerkung: Mit meinem langjährigen Institutsleiter an der Uni verband mich früh die Erfahrung, dass wir im großen Hörsaal, indem immerhin 600 Plätze vorgehalten werden, zunehmend Mühe hatten, eine Kommunikation auf Augen-, pardon, auf Ohrenhöhe zu führen. Wir waren schlicht zu befangen, zu dumm, zu stolz(?) und einzugestehen, dass wir dringend auf eine Hörhilfe angwiesen waren.

Dieser Merksatz mit Tiefgang lässt sich ohne Weiteres auf weitere sinnstiftende Aspekte in sozialen Systemen anwenden. Also: Ohne die Fähigkeit sehen oder hören zu können, unterliegen wir massiven Einschränkungen, die unsere Möglichkeiten zur Kommunikation fundamental berühren. Kommen wir zurück auf den weiter oben erwähnten, unverhofften Zeitbenefit. Er erlaubte mir auf dem Münzplatz in der Kaffeewirtschaft einen Kaffee und das obligatorische stille Wasser. Ich kann soviel vorausschicken, dass in der nächsten Stunde nur das Wasser still blieb. Es begann wie geplant: Heute eine Eintragung in die Kladde Leos. Leo ist mein ältester Enkel. Folgendes erschien mir eintragenswert:

18. März 2025: Gut sieben Wochen bis zu Deinem sechsten Geburtstag. Jule und Du werdet die meisten - und auch die regelmäßigen Einträge in Eurer gemeinsamen Kladde finde. Andererseits werden - solange mir das möglich sein wird - die Einträge in Eure individuellen Kladden persönlicher ausfallen; allein schon, weil Du in diesem Jahr eingeschult wirst. Dazu passt der Vermerk, dass vor gut einer Woche die Zahnfee bei Dir zu Besuch war. Dein erster Zahn, den die Zahnfee mitgenommen hat, und den Du unters Kopfkissen gelegt hast, damit sie ihn dort findet, hat Dir im Tausch zu einem Jo-Jo verholfen, mit dem Du schon recht gekonnt umzugehen verstehst.
Diese kleine Eintragung soll Dir zeigen, dass die Welt der Mythen und geheimnisvollen Geschehnisse hinter den vordergründigen Erscheinungen und Ereignissen noch wirksam und lebendig ist - noch bist Du fünf! Der Kokon einer Welt der unbedingten Aufmerksamkeit und der Behütung ist um Euch so dicht gewoben, dass alle Sorge, alle Fürsorge und Liebe Euch nach wie vor umhüllt! Dieser dichte, wohlige Kokon ist ein Spiegel - ein reales Pendent bzw. ein Symbol (eine Metapher) - zu der Aufmerksamkeit, die Euch Enkelkindern von allen Familienmitgliedern entgegengebracht wird: von Mama, Papa, den Omas und Opas (Ihr habt ja derer bis heute noch alle vier!), den Tanten, Onkeln, Cousin und Cousinen bis hinaus in die äußeren Kreise einer konzentrisch geordneten sozialen Welt. [Im Übrigen bedeutet das ja keineswegs, dass Ihr die Spielräume Eurer Autonomiebestrebungen nicht konsequent und radial ausloten würdet - bis hin zu durchaus peinlichen Exzessen, wie zuletzt auf dem Gülser Markt! Da kollidieren schon einmal ganz selbstverständlich notwendige Begrenzungen und Einschränkungen mit Eurem Freiheitsdrang. Ein kleines Beispiel: der Gülser Markt (jeden Freitag auf dem Gülser Festplatz) stellt einen relativ geschützten Raum dar, in dem Ihr Euch inzwischen recht selbstständig bewegen könnt. Da gab und gibt es aber das Verbot den Marktplatz zu verlassen - insbesondere in Richtung der Pastor-Busenbender-straße oberhalb des Marktplatzes. Da fließt der innerörtliche Verkehr, der Bürgersteig ist schmal, und Kinder, die unverhofft in ihrer Dynamik auf der Straße landen, hat ein (unaufmerksamer) Autofahrer schnell übersehen! Also: Verbot, den Marktplatz in Richtung Pastor-Busenbender-Straße zu verlassen! Was macht Ihr? Ihr rennt natürlich einem Mädel hinterher - schon ein Schulkind - und als Vierjährige bzw. Fünfjähriger interessiert Euch die Straße und der Verkehr nicht die Bohne! Das Einschreiten des Opas wird mit Gebrüll und Renitenz quittiert. So sorgt man für Aufsehen und zeigt sich in der Situation uneinsichtig. Heute auf der Rückfahrt aus dem Kindergarten beim Befahren der Pastor-Busenbender-Straße hast Du, Leo, gemeint, Ihr hättet das alles im Griff und würdet darauf achten nicht unverhofft über die Straße zu laufen.

Ein typischer Eintrag in die Kladde. Bevor ich nun dazu komme, was die Stille auf dem Münzplatz so unverhofft aus dem Lot brachte, ein entscheidender Hinweis, den ich einordne in die wahrnehmungsabhängige soziale Welt des Hörens, des Sehens -
im Übrigen auch des Riechens: 

E R I N N E R U N G S K U L T U R !

Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.

"Nicht nur Individuen, sondern auch Kulturen bilden ein Gedächtnis aus, um Identitäten herzustellen, Legitimation zu gewinnen und Ziele zu bestimmen. Aleida Assmann fragt nach den verschiedenen Aufgaben kultureller Erinnerung, ihren Medien (wie Schrift, Bilder oder Denkmäler) sowie nach den Formen des Umgangs mit gespeicherten Wissen, bei denen neben Politik und Wissenschaft auch der Kunst eine wachsende Bedeutung zukommt." Uns stellt sich schlicht die Frage, welche Bedeutung Erinnerung, ihrer Kultivierung, ihrer Weitergabe für unsere Identität zukommt? Wer sich dieser Frage nicht stellt - auch im sozialen Kernphänomen Familie - begibt sich der Möglichkeit identitätsstiftende und habitusbegündende von Selbst- und Fremdbildern zu reflektieren. Erinnerungskultur erweist sich im Nexus sozialer Kernbeziehungen als Schmiermittel und sinnstiftendes Elexier, ohne die wir ohne Bodenhaftung bleiben!



E R I N N E R U N G S K U L T U R ? Da stößt man auch auf düstere Seiten: 
 Die Weltenläufte, die wir gegenwärtig beobachten und erinnern, sind in vielfacher Hinsicht - vor allem für Kinder -     

    S C H E I S S E !

S C H E I S S E: In der Ukraine lässt Putin Kinder totschießen, verstümmeln, entführen. In Gaza ist Netanyahu - ebenso wie die Hamas - für entsprechende Gräuel verantwortlich; an vielen Orten der Welt geht es Kindern schlecht, werden Kinder getötet, verstümmelt, dem Hungertod ausgesetzt, medizinisch unzureichend versorgt!

Und ich gestatte mir E R I N N E R U N G S K U L T U R ! Ja, ich gestatte mir Erinnerungskultur! - und dies immer schon in der Phantasie, dass allen Kindern - neben den fundamentalen Grundrechten auf körperliche und seelische Unversehrtheit - das Aufwachsen in einer Welt, geprägt von Aufmerksamkeit und liebevoller Zuwendung garantiert sei; den Weg zu sich selbst bis hinein in eine verantwortungsbewusste Haltung sich selbst und den Anderen gegenüber. Dies entspricht dem Bildungsbegriff, dessen Ausrichtung Wolfgang Klafki skizziert hat (Passwort: wiro2015); mit der Fähigkeit zur Selbst- und Mitbestimmung bis hin zu einer solidarischen Grundhaltung!

Und siehe da: Plötzlich war es vorbei mit der Stille auf dem Münzplatz: Ich saß am äßersten Rand der großen Terrasse in der strahlenden Morgensonne. Es näherte sich mir eine junge Frau, ansprechend gekleidet und durchaus auch ansehnlich. Sie sprach mich an und meinte, sie habe Hunger. Vermutlich hatte sie mit Zurückweisung oder - im besten Fall - mit einer 50-Cent-Münze oder gar einem Euro gerechnet. Ich war bei meinem Eintragungen in die Kladde und meinte zu ihr, wenn sie Hunger habe, würde ich ihr einen Kaffee und ein Croissant bestellen. Schon in diesem Augenblick näherte sich die Bedienung - eine Enddreißigerin mit Migrationshintergrund - und forderte die junge Frau auf, die Terrasse zu verlassen. Ich insistierte und sagte, alles habe seine Ordnung, und sie solle der jungen Frau eine Tasse Kaffee und ein Croissant bringen. Dies geschah, wie erbeten. Nach zehn Minuten war die junge Frau weg. Zuvor hatten wir uns kurz unterhalten: Junge Frau mit bulgarischem Pass, des Deutschen auf durchaus passable Weise mächtig. Ich empfahl ihr Kontakt zu ARGE aufzunehmen. Es würden allenthalben arbeitswillige und -fähige Kräfte gesucht.

Als die junge Frau außer Sicht- und Hörweite war, kam ich mit zwei Damen - gleichermaßen Ende dreißig, wie die Kellnerin - ins Gespräch; eine der beiden wohnt in Güls und wir kannten uns oberflächlich. Die beiden fragten mich höflich, ob ich denn immer so naiv sei? Die Diskussion, die sich anschloss, erinnerte mich an häufig geführte Debatten in meinem Pensionistas-Kreis (sieben pensonierte bzw. verrentete ältere Herren, die im Alter allesamt ein auskömmliches Leben führen). Auch hier hat sich die radikale Haltung durchgesetzt, jeder Form des Bettelns abweisend zu begegnen. Man wisse doch um die kriminellen Hintergründe und die Ausbeutung derer, die da in vorderster Reihe an die Bettelfront geschickt würden.

Ich habe folgenden Einwand, und den halte ich für außerordentlich bedeutsam auf dem Hintergrund meines Kladdeneintrags und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Ich argumentierte folgendermaßen:

Kaffee und Croissant haben mich € 7,50 gekostet. Ich habe bewusst auf eine Geldgabe verzichtet. Das Begehren um Essen und Trinken kam mir authentisch vor. Das Gespräch mit der jungen Frau war von Aufmerksamkeit und Wertschätzung beiderseits geprägt. Und nun kommt mein Haupteinwand den Vorbehalten sowohl der beiden Gäste als auch der Bedienung gegenüber: Ich wurde wohl etwas lauter und sehr entschieden, indem ich die Frage stellte: Wissen Sie eigentlich, was die harte, krude Ablehnung, der Platzverweis für die junge Frau bedeutet? Vorausgesetzt Ihre Annahmen stimmen (wofür gewiss einiges spricht), und die junge Frau wird zum Betteln geschickt und abgezockt, dann ist Folgendes der Fall: Die junge Frau erfährt von ihren Pressern, dass sie Scheiße ist und nichts wert! Sie erfährt dies gleichermaßen durch unsere Zurückweisung. Ich sei davon zutiefst überzeugt - so meine weitere Argumentation -, dass man auf diese Weise das Selbstbild und das Selbstwertgefühl von Menschen zutiefst beschädigt. Unsere Erfahrung und Deutung der Situation sei wohlfeil und sehe radikal davon ab, auch nur ansatzweise wissen zu wollen, was Menschen, wie diese junge Frau, letztlich in diese prekäre Lage gebracht habe. Es gibt noch eine weitere fatale Konsequenz aus dem sich hier zeigenden Kreislauf: Die Erfahrung der Abwertung, der Missachtung, der Ausgrenzung - gleich welche Hintergründe hier eine Rolle spielen - gehen ein in den Kreislauf sozialer Grunderfahrungen, einer sozialen Kultur, die mit Blick auf ausgegrenzte Menschen zur Unkultur wird. Sie hat Folgen; Folgen vor allem auch in der Hinsicht, mit der solche Menschen auf uns schauen.

[Ich musste an 2015 denken, an Frau Lange-Quessowski aus Güls, die sich eines syrischen Flüchtlings annahm, ihm Wohnung und Sprachkurs und letztendlich einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz verschaffte. Dieser syrische junge Mann ist 2024 eingebürgert worden und hat seither einen deutschen Pass.] Ja, ich weiß: nicht ganz vergleichbar. Aber wer alles vergleichen will, hat immer ein Argument parat, sich selbst möglicherweise nicht mehr menschlich zeigen zu müssen. "Sei a Mensch" - dies habe sein Vater ihm mit auf den Weg gegeben, hat Marcel Reif vor dem Deutschen Bundestag gesagt. Sei ein Mensch! Vielleicht besinnen sich Menschen erst angesichts des Todes. Bei Henning Mankell war das nicht notwendig:

Ein Textausszug - u.a. Henning Mankell zugedacht: Wie hatte Susanne Mayer eingeleitet: "Es gibt ein Blau des Himmels, das wider alle Vernunft den Eindruck erweckt, im Leben könne nichts Böses passieren, man möchte es das Kinderblau nennen." Das Kinderblau mutiert hier zum fahlen Blau des schwedischen Winterhimmels bei 30 Grad Kälte. Henning Mankell erklärt auf die Nachfrage hin, ob er verletzt oder gestärkt aus dieser Kindheit herausgekommen sei, ganz zweifelsfrei: "Verletzt." Aber er habe das in eine Art Stärke verwandeln können: "Keine Ahnung. Aber ich habe alle Frauen, mit denen ich lebte, gefragt, ob sie von meiner Seite einen Wunsch nach Bemutterung spürten, und alle sagten: Nein, nie!" Aber Henning Mankell fragt nach - alle seine Frauen. Die Unsicherheit bleibt. Mich erinnert diese Verlegenheit Henning Mankells an einen Hinweis, den Donata Elschenbroich in ihrer Bildungsminiatur zum "Ich-als-Kind-Buch" gibt (in: Das Weltwissen der Siebenjährigen - übrigens eine Resenzion von Susanne Mayer):

"Die Aufmerksamkeit der (bedeutsamen, Verf.) anderen gegenüber der eigenen Entwicklung wird allmählich zur eigenen. Der Blick der Erwachsenen auf das Kind lenkt die Introspektion, er verwandelt sich allmählich in Selbstreflexion. Wiederkehren kann das später im Blick auf die eigene Familie. Und vielleicht wird dieser Blick, den man auf sich ruhen fühlte - gleichgültig, aufmerksam oder ängstlich -, zurückgelenkt auf die Gesellschaft als Ganzes."

Sie spricht im Fortgang ihrer Argumentation eine milde Variante in der Aufmerksamkeit der Erwachsenen den Kindern gegeüber an, wonach vorsätzliches oder verlegenes Wegschauen in Kindern Formunsicherheit erzeugen könne. Henning Mankell hat Wallander erfunden. Vielleicht sollte man Wallander unter diesen Gesichtspunkten noch einmal genauer betrachten.

Nun ja, danach kommt der Verweis auf Luther und Calvin, sein protestantisch geprägtes Arbeitsethos relativiert durch die Unwichtigkeit der Frage, ob seine Chancen erinnert zu werden gut stünden. In fünfhundert Jahren - so seine Entgegnung würden allenfalls Einstein oder Gandhi erinnert werden. Und: "Bach wird bleiben!"

Seine Antwort auf die Frage, ob er sich je in seiner Krankheit abhanden gekommen sei, ist bedenkenswert:

"Es ist offensichtlich, dass sie (die Krankheit, Verf.) mich zu etwas brachte, was mich ausmacht. Ich erinnere mich an den ersten Tag, als ich die Diagnose bekam und die Ernsthaftigkeit verstand. Ich war von Agonie erfüllt, aber ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ich verstand, ich musste ihr begegnen mit den Erfahrungen und Gedanken der Kraft, die ich in meinem früheren Leben gesammelt hatte [...] In diesen ersten Wochen und in dem ganzen vergangenen Jahr habe ich einmal geweint. Vielleicht fünf Minuten lang." Und in Momenten der Verzweiflung. Wie er ihnen begegne, fragt Susanne Mayer: "Ich gehe zu meinem Manuskript. Oder nehme mir ein Buch. Wenn die Agonie kommt, lese ich und verschwinde einfach in einem Buch. Es kann ein Buch sein, das ich schon zehnmal gelsen habe. Lesen beruhigt mich besser als eine Pille. Bücher sind meine Kathedralen."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund