In: Die schönsten deutschen Kindergedichte, gesammelt von Herbert Heckmann und Michael Krüger (Carl Hanser Verlag, Müchen 1974) habe ich Bertolt Brechts Wiegenlied entdeckt. Ein schönes Wiegenlied - oder soll man Herbert Heckmann und Michael Krüger Zynismus unterstellen. Ich habe es aktualisiert und eine Frage gestellt - die entsprechenden Strophen sind hier grün unterlegt.
Bertolt Brecht - Wiegenlied - versehen mit Fragen
Mein Sohn, was immer auch aus dir werde:
sie steh'n mit Knüppeln bereit schon jetzt.
Denn für dich, mein Sohn, ist auf dieser Erde
nur der Schuttablagerungsplatz da, und der ist besetzt.
Mein Sohn laß es dir von deiner Mutter sagen:
Auf dich wartet ein Leben schlimmer als die Pest,
aber ich hab dich nicht dazu ausgetragen,
daß du dir das einmal ruhig gefallen läßt.
Was du nicht hast, das gib nicht verloren,
was sie dir nicht geben, sieh' zu, daß du's kriegst.
Ich, deine Mutter, hab dich nicht geboren,
daß du einst des Nachts unter Brückenbögen liegst.
Vielleicht bist du nicht aus besonderem Stoffe,
ich habe nicht Geld für dich noch Gebet
und ich baue auf dich allein, wenn ich hoffe,
daß du nicht am Stempelstellen lungerst und deine Zeit vergeht.
Wenn ich nachts schlaflos neben dir liege,
fühl ich oft nach deiner kleinen Faust.
Sicher, sie planen mit dir jetzt schon Siege.
Was soll ich nur machen, daß du nicht ihren dreckigen Lügen traust.
Deine Mutter, mein Sohn, hat dich nicht belogen,
daß du etwas ganz besonderes seist;
aber sie hat dich auch nicht mit Kummer aufgezogen,
daß du einmal im Stacheldraht hängst und nach Wasser schreist.
Mein Sohn, drum halte dich an deinesgleichen,
damit ihre Macht wie ein Staub zerstiebt.
Du, mein Sohn, und ich und alle unsresgleichen
müssen zusammensteh'n und müssen erreichen,
daß es auf dieser Welt nicht mehr zweierlei Menschen gibt.
Doch gibt es sie – zweierlei Menschen bis heute.
Die einen schießt man tot, die anderen machen fette Beute.
Die Anderen sind wenige und gehn stets über Leichen.
Sterben müssen auf beiden Seiten nur unseresgleichen.
Mein Sohn, sagt die Mutter: Was immer auch aus dir werde,
Sie stehn mit Knüppeln bereit schon jetzt
– heut sind es Raketen und Drohnen:
Sie schießen des Tags und des nachts bis zuletzt,
ohne Frauen und Kinder zu schonen.
Was du nicht hast, das gib nicht verloren!
Ich, deine Mutter, hab dich geboren.
Du sagst: Mutter, ich will nicht töten!
Zeig mir einen anderen Weg aus unseren Nöten.
Frag unseren Paten – Bertold den Brecht:
Wie kommen alle Menschen zu ihrem Recht?
So fragten weiland schon Einstein und Freud
Ihre Antwort macht ratlos und hat viele gereut!
Mit Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Rolland, Russell und Zweig
Unterzeichneten sie das Manifest: Erziehung zum Kriege schweig!
Den 17 Millionen aus der ersten Weltenschlacht
Folgten 60 Millionen in tausendjähriger Nacht.
Fragt Martin Buber. Der bat Gandhi um Rat.
Er riet den Juden im Lande der Nazis: Gewaltlos sei eure Tat!
Dort wurden aus Frauen, Kindern, Alten endlose Reihen von Toten,
Sechs Millionen Juden endeten in Öfen und Schloten.
Und der Prantl Heribert erstarrt vor Gandhis Worten:
„Ich habe in London gesagt, dass,
wenn wir auch eine Million Menschenleben hingeben müssten,
um Freiheit zu erlangen, ich bereit wäre,
diese ohne die geringsten Gewissenbisse zu opfern.“
Hier beißt sich die Katze ohne Skrupel in den eigenen Schwanz:
Pazifismus geht nicht halb, sondern nur ganz!
Wer Freiheit will, kann sich Rücksicht nicht leisten!
Wer mag Gandhi hier folgen – auf dem Rücken der meisten?