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Tempora mutantur, nos et mutamur in illis - Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“

Der Freund sendet mir: Richard David Precht erklärt uns die Geschichte. Und er hat Recht. Die Osterweiterung der NATO hat in Russland zu einem neuen Nationalismus und Revanchismus geführt. Precht führt uns zurück an den geschichtlichen Wendepunkt, an dem das Sowjetimperium zerbricht und sich die Welt neu zu ordnen beginnt.

Die Russische Föderation ist der Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Im Jahr 2020 wurde dies durch eine Verfassungsänderung endgültig festgelegt. Im Gegensatz zu Deutschland war die Sowjetunion (da als Siegernation aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen) – so wie die Russische Föderation im Zuge der Westverschiebung der Grenzen der einzige wirkliche geopolitische Nutznießer der Neuordnung. Von einem Gewaltverzicht und von einem Verzicht auf Gebietsansprüche, wie sie von der Bundesrepublik Deutschland 1991 vertraglich erneut besiegelt wurden, war und ist die Sowjetunion und ihr Rechtsnachfolger Galaxien entfernt. Richard David Precht hat ja Recht, wenn er von einem neuen Nationalismus und Revanchismus in Russland ausgeht. Man kann geneigt sein, den Niedergang und das Auseinanderbrechen der UdSSR in einen milden, abgeschwächten Vergleich zu setzen mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands 1945. Auf welcher Rechtsgrundlage also nimmt Russland in Anspruch, die Souveränität der Staaten (und ihr Recht auf vertraglich zugesicherte Autonomie), die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgingen, in Frage zu stellen?

Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Lettland, Litauen, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenien/Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrussland/Belarus gingen aus der Sowjetunion als eigenständige Staaten hervor. Als die Sowjetunion 1991 kurz vor dem Zerfall stand, gründeten Russland, Belarus und die Ukraine die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS).

Die GUS entstand auf der Basis der Erklärung von Almaty und dem Protokoll zum Abkommen von Minsk am 8.12.1991 aus der Konkursmasse der Sowjetunion. Gründungsmitglieder waren die Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Weißrussland. Unmittelbar nach dem Zerfall der UdSSR traten Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan bei. Turkmenistan ist seit 2005 nur noch assoziiertes Mitglied, Georgien trat erst 1993 bei, nimmt mittlerweile aber nicht mehr an allen Sitzungen teil. Die Ukraine ist 2018 aus Protest gegen die russ. Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 aus der GUS ausgeschieden. Die G. ist eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Minsk. Ziel der Institution war die Schaffung eines Wirtschafts- und Sicherheitsraumes, um damit die Folgen der Desintegration der Sowjetunion zu mildern. Die Institutionen der G. gliedern sich in die Räte der Exekutivorgane (Rat der Staatsoberhäupter, der Regierungschefs, der Außenminister, der Innenminister, der Verteidigungsminister, der Ständigen Vertreter), ein Exekutivkomitee, geleitet von einem Generalsekretär, sowie eine parlamentarische Versammlung, zusammengesetzt aus Abgeordneten nationaler Parlamente, die 2-mal pro Jahr in Sankt Petersburg tagt. Die GUS ist mittlerweile aufgrund der divergierenden Interessenlagen der Mitglieder nur noch virtuell existent. Sie war nie mehr als ein Organ zur zivilisierten »Scheidung« der Staaten und Völker der Sowjetunion. In: E. Bos: Die GUS-Staaten, in: S. Schmidt u. a. (Hg.), Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 455-467.

Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion hat sich nie zu den Verbrechen bekannt, deren Nutznießer Russland bis heute ist. Die Zerschlagung Polens – gemeinsam mit Nazideutschland – und die Westverschiebung der Grenzen hatten drastische Folgen:

„Der Sowjetunion fielen nach dem deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag insgesamt 201.000 km² mit 13,2 Mio. Menschen zu, die im November die sowjetische Staatsbürgerschaft erhielten. Ethnisch handelte es sich um etwa 40 % Polen, 34,2 % Ukrainer, 8,4 % Belarussen, Litauer und Sonstige. Für die besetzten ostpolnischen Gebiete wird die Zahl der polnischen Muttersprachler mit 5.274.000 angegeben, die der Ukrainer und Ruthenen mit 4.529.000, die der Belarussen mit 1.945.000 sowie die der Juden mit 1.109.000. Hinzu kommen Russen, Tschechen, Litauer und andere.“

Nimmt man zur Kenntnis, auf welch unmenschliche Weise die Sowjetunion die Einverleibung der entsprechenden Gebiete vorantrieb, und mit welch rigoroser Führung sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Warschauer Pakt dominierte, ist es gewiss ein Leichtes zu begreifen, dass Polen, Tschechien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und die baltischen Staaten nach dem Zerfall und dem Niedergang der Sowjetunion ihre Zukunft in einer Westbindung suchten. Dies trifft in Sonderheit vielleicht auf die Ukraine zu, die als Sowjetrepublik in den 30er Jahren Stalins Terror über sich ergehen lassen musste (Holomodor). Es ist mehr als verständlich, dass sie sich als souveräne Staaten, die jahrzehntelang unter sowjetischem Terror gelitten hatten, radikal auch vom Rechtsnachfolger Russland distanzierten.

Darüber würde heute ganz gewiss niemand mehr reden, wäre Russland nicht die stärkste Nuklearmacht. Russland mangelt es an Selbstbescheidung, Demut und dem Bekenntnis – neben Nazideutschland – als Rechtsnachfolger der UdSSR eines der gewalttätigsten Terrorregime der Gegenwart zu verkörpern; ein Terrorregime, das sich nicht nur an deutschem Terrain gütlich getan hat (die Oblast Kaliningrad ist für die russische Föderation von großer Bedeutung). Die Westverschiebung, resultierend aus der Niederlage Deutschlands reicht Russland nicht. Es beklagt den Kontrollverlust über die ehemaligen Satellitenstaaten und fällt in imperialistische Großmannssucht zurück.

Niemand bedroht Russland. Alle ehemaligen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten haben kein Interesse an irgendeiner Grenzverschiebung. Sie wollen nur in Ruhe nach ihren Bedürfnissen in Freiheit leben. Wenn Putin sich hinter Bedrohungsszenarien versteckt, dient dies ausschließlich der Verdeckung seines innenpolitischen Versagens. Ein Riesenreich mit den Ressourcen Russlands (Bevölkerung: 143,8 Millionen Fläche: 17.100.000 km²) könnte in einem gnadenlos unterbevölkerten Geltungsraum seinen Einwohnern blühende Landschaften und Wohlstand garantieren. Stattdessen führt Putin einen aussichtslosen Krieg und lässt jeden Tag – Tag für Tag – seit mehr als 1000 Tagen Männer, Frauen, Kinder und Alte ermorden.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund