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Robert Sapolsky: Was lehren uns Paviane über Politik

Primaten als fantastische Modelle für den modernen westlichen Menschen - Robert Sapolsky im Interview mit Xifan Yang (ZEIT 46/24, Seite 9)

"Paviane sind fantastische Modelle für den modernen Menschen. Sie leben in relativ sicheren Umgebungen ohne Hungersnöte, dadurch haben sie viel Zeit für psychosozialen Stress und sinnlosen Wettbewerb. Anfangs dachte ich, dass Alphapaviane am gesündesten seien, weil sie mehr Kontrolle über ihr Leben haben. Nach Jahren der Forschung wurde mir jedoch klar, dass soziale Bindungen wichtiger sind als der Rang. Ein Pavian, der gut sozial integriert ist, ist gesünder, selbst wenn er weiter unten auf der Leiter steht." Xifan Yang fragt: "Warum sucht ein Pavian nicht ein Bündnis mit anderen niedrigeren Ranges, um den Alphapavian zu stürzen?" Die Antwort: "Das habe ich in meinen 25 Jahren Forschung einmal erlebt. Aber nach sechs Monaten fielen die Paviane, die gemeinsam auf die Barrikaden gegangen waren, sich gegenseitig in den Rücken. Bei Menschen ist das nicht anders. Warum rebellieren sie nicht öfters gegen Diktatoren, warum bleiben Leute wie Putin an der Macht? Indem sie Menschen dazu bringen, sich gegenseitig zu misstrauen."

Und:

„Die Aufklärung hat die Rationalität zumindest stark überbewertet. Menschen handeln oft auf der Basis von Gefühlen und rationalisieren ihre Handlungen im Nachhinein. Unsere limbischen Gehirnareale, für Emotionen zuständig, treffen Entscheidungen in Millisekunden, bevor die für Rationalität zuständigen Hirnregionen überhaupt aktiv werden können. Die Aufklärung erfasste die angesagten intellektuellen Salons in Europa. Den durchschnittlichen Europäer in der Provinz ließ sie unberührt. Auch heute ist der Firnis der Rationalität, der unsere Gesellschaft umhüllt, hauchdünn.“

Ich schließe mich im Folgenden der Kernthese Robert Sapolskys an und weise darauf hin, dass Luc Ciompi seine Affektlogik bereits 1982 publiziert hat und damit die Grundlage für eine vergleichbare Sichtweise gelegt hat. Ich nenne meinen Beitrag:

Über den Souverän und andere Illusionen - Wählen (und andere Handlungen) im Affekt (ein erster Entwurf im Rückgriff auf den unterkomplexen Zuschnitt der #metoo-Debatte und andere Kontroversen (bereits in Grundzügen 2021 veröffentlicht)

Wir beobachten in zunehmender Weise, dass Teile der Bevölkerung ihren Frust in vorreflexiven Affekten ausleben: Ich habe Angst, ich bin zornig, wütend und frustriert! Eine affektgesteuerte Haltung legen zu Teilen auch Akteure gleichermaßen auf der nationalen wie der internationalen Bühne politischen Handelns an den Tag.

Das deutsche Strafrecht kennt im Übrigen die Ausübung einer Tat im Affekt (Affekttat), was zu einer Strafmilderung nach § 21 StGB oder, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB, zur Schuldfähigkeit führen kann.

Zugegebenermaßen bemüht der folgende Beitrag Vorstellungen über ein Phänomen wie Affektlogik primär in anderen Zusammenhängen. Wenn ich dennoch – wie häufig in meinen letzten Blog-Einträgen – dazu neige, auch Wählerverhalten und politisches Handeln unter affektlogischen Kriterien einzuordnen, dann vor allem aus der Annahme heraus, dass Menschen in der Tat vor allem in Krisen- und Stresssituationen dazu neigen, Handlungen sozusagen im Affekt zu begehen. Affekte wie Zorn, Wut, Hass tauchen z.B. immer häufiger in der Rechtfertigung von Wählern auf, die beispielsweise der Ampel eine Lektion erteilen wolle. Die Annahme, dass man ihnen dabei eine Bewusstseinsstörung attestieren könnte, halte ich selbstverständlich für nicht zulässig. Schon eher mag man Jan Phillip von Reemtsmas These vom Unaufhebbaren Nichtbescheidwissen der Mehrheit (München 2005) in Erwägung ziehen. Aber auch dies halte ich nicht wirklich für zulässig – siehe: Was nicht jeder weiß, aber jeder wissen kann.

Der nachfolgende Beitrag bedeutet dabei, dass man nachvollziehen kann, wie ein 1952 geborener, alter, weißer Mann sich in der #metoo-Debatte positioniert. Dies gilt für alle möglichen Aspekte einer Positionierung – auch im politischen Feld. Die weiter unten angebotene Unterscheidung von einem vorreflexiven Modus des Driftens in einer undurchschaubaren Welt (der Affekte) einerseits und reflexiven Kratzversuchen an den damit gegebenen diffusen Wirklichkeitsfassaden andererseits, gewinnt auf diese Weise eine gewisse Plausibilität. Dies gilt es zunächst näher zu begründen.

Prämissen:

Wie oben erwähnt, kennt beispielsweise das deutsche Strafrecht die Ausübung einer Tat im Affekt (Affekttat), was zu einer Strafmilderung nach § 21 StGB oder, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB, zur Schuldunfähigkeit führen kann.

Versucht man eine wissenschaftlich begründete Herleitung solch (strafrechtlicher) Differenzierungen, könnte man Luc Ciompis Affektlogik (Klett-Cotta, 4. Aufl., Stuttgart, 1994) heranziehen. Auf Seite 81ff. führt Ciompi dazu aus, dass affektives und kognitives Erleben als etwas untrennbar Verbundenes betrachtet werden müssen. Gleichwohl betont er Wesensverschiedenheiten in bestimmter Hinsicht:

„Möglicherweise besteht entwicklungsmäßig zwischen ihnen nicht einfach eine Parallelität bzw. Symmetrie, sondern zumindest […] eine charakteristische und sinnvolle Phasenverschiebung […] Ein Hinweis auf die Existenz solcher Phasenverschiebungen mag auch in der Tatsache liegen, das phylogenetisch das >Fühlsystem< viel früher entstanden ist als das >Denksystem< […] Im Hirn sind bezeichnenderweise die Zentren und Bahnen, die mit den Gefühlen in Verbindung stehen, im Hypothalamus und im limbischen System, das heißt in phylogenetisch außerordentlich alten Hirnregionen lokalisiert. Die kognitiven Funktionen dagegen, und besonders der spezifisch menschliche Intellekt (Denken, Sprache, Bewußtsein) gehören, soweit sie sich lokalisieren lassen, eindeutig den entwicklungsmäßig jüngsten Rindengebieten des Noecortex und ganz besonders der linken Großhirnhemisphäre an.“

Ciompi führt zu Beginn (Seite 81) aus, dass die von ihm vertretene Auffassung der Affektlogik gewissermaßen eine Art Doppelsystem bilde. Es stellt für ihn ein Instrumentarium dar, „mittels welchem wir mit der begegnenden Umwelt umgehen, das heißt sie wahrnehmen (=perzipieren) und uns ihr mit-teilen (=kommunizieren)“.

Mir geht es insbesondere darum, auf eine Differenz hinzuweisen, die eine affektgeladene Perzeption (Wahrnehmung) als ein vor-reflexives Geschehen begreift, dessen Auslöser im limbischen System verankert sind. In einer zivilisierten Welt, die sich an wertebasierten Regeln (Zehn Gebote, BGB, Strafrecht…) orientiert, muss die perzeptive Impulswelt – bevor sie u. U. handlungsmächtig wird – einer reflexiven Rückkopplung unterzogen werden; Freud würde nun das ÜBER-ICH bemühen, das triebbasierte Impulse des ES einer kontrollierten Überprüfung unterzieht, bevor diese vom ICH in angemessene Kommunikation/Handlung übersetzt werden. Geschieht dies nicht in hinreichender, angemessener Weise, kann es zu Affekthandlungen (oder Kurzschlusshandlungen) kommen, deren Ablauf vom Ausführenden nicht beherrscht bzw. kontrolliert wird und die durch intensiv empfundene und meist relativ kurz andauernde Gemütserregungen (Affekte) motiviert ist. Dies können Regungen des Zornes, der Wut, der Angst, des Ärgers, der Eifersucht aber auch solche der Freude, der Begeisterung, der Verzückung sein.

Einen schmutzigen, verwerflichen Sonderfall politischer Kommunikation stellt die bewusste - insofern eben kalkulierte - strategisch und taktisch verwendete Instrumentalisierung von Affekten im politischen Wettberwerb dar. Mag es auch schwerfallen, sich einen Donald Trump oder einen Wladimir Putin nicht als Inkarnation affektgeladener Ressentiments vorzustellen, so stellen sie meiner Auffassung nach doch  in erster Linie rational skrupellos kalkulierende, machtbessesene Politikertypen dar. Im Falle Putins kommt zur moralischen Verkommenheit noch die Verfügungsgewalt über einen politisch-administrativen Machtapparat hinzu, die den von ihm ausgehenden, angstauslösenden Drohgesten eine brutal-reale Grundlage verleiht.

Robert Sapolsky führt dazu aus: „Angst hat evolutionsbiologisch eine zentrale Rolle gespielt, weil sie das Überleben sichert. Menschen reagieren stärker auf negative als auf positive Reize. Politisch gesehen bedeutet das, dass Angst leichter instrumentalisiert werden kann, um Menschen zu mobilisieren oder zu polarisieren. Auch Wut ist eine mächtige Emotion. Es ist erwiesen, dass heute mehr Menschen an Angststörungen leiden als vor 15 Jahren. Und wahrscheinlich sind Menschen im Durchschnitt wütender. Angst und Wut verstärken eine Wir-gegen-die-Haltung. Und sie beeinträchtigen auch unser rationales Denken.“

Noch einmal: Unser aller Alltag - und seine Bewältigung - werden weitgehend durch vorreflexives Verhalten geprägt, durch Routinen und Rituale, die uns vom Zwang permanenter Reflexion entlasten. In keinem Falle jedoch darf dies dazu führen, dass jemand Entschuldigung für eine Kommunikation und ein Handeln mit Blick auf andere erfährt, dass in seinen Konsequenzen nicht wenigstens ansatzweise dem Filter einer wertebasierten Reflexion unterliegt - gewissermaßen dem Regulativ eines zivilisatorischen Minimums!

Auch in dem eher #metoo- bezogenen Beitrag geht es um genau diese Begründung eines zivilisatorischen Minimums, das das Ausspielen machtspezifischer Asymmetrien ausschließt. Das Wissen um den Einfluss vorreflexiver Affekte und deren Rückkopplung im Rahmen einer selbstkritischen, reflexiven Grundhaltung bilden sozusagen die Voraussetzungen für die Orientierung an einem zivilisatorischen Minimum.

Subjektiv einseitige Weltsichten erwachsen sozialisationsbezogen vor allem auch unter Einflüssen, die wir gemeinhin dem sogenannten Zeitgeist und erkennbaren historischen Kontexten zuschreiben. Dem unterliegen zweifellos auch eine geschlechterbetonte Sozialisation mit der daraus folgenden sexuellen Identität – einschließlich ihrer Defizite und Versäumnisse. Mir ist allerdings enorm wichtig zu betonen, dass der Erwerb, die Interpretation und der Umgang mit den Essentials und Facetten eines männlichen Selbstbildes mit Anteilen verknüpft zu sein scheint, denen ich lediglich einen vorreflexiven Status zubillige. Ein vordergründiger Beleg für diese Annahme hängt aus meiner Sicht mit der ungeheuren Vielfalt zusammen, die sich heute in den Identitätskrisen und –konstrukten sowohl von Männern als auch Frauen widerspiegeln. Hinzu kommen gesellschaftliche Marker-Begriffe, wie queer, für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht den heteronormativen Normen entsprechen. Betrachtet man diese Gemengelage, erscheint es andererseits auch wieder leicht, den Anspruch auf eigene Identitätsfacetten offensiver zu vertreten und zu kommunizieren:

Zur These vorreflexiven Perzeptionsgeschehens im Sinne von Robert Sapolsky wähle ich folgendes Beispiel:

Einen Barcode zu entschlüsseln, ist gleichermaßen trivial wie faszinierend. Mit einem Barcodeleser/Barcodescanner liest man die Breite der gedruckten Balken und den dazwischenliegenden nicht eingefärbten Lücken mit einem Laser oder LED ein. Dies geschieht via Reflektionen der hellen und dunklen Abstände. Analog dazu liest mein persönlicher, singulärer Sinnesseismograph liest - einem Barcodeleser ähnlich - aus der unendlichen Flut von Sinnesreizen jene aus, die im Zusammenspiel zuweilen eine kritische Masse hervorbringen. Wichtig ist mir – wie schon gesagt – zu betonen, dass es sich hierbei um ein absolut vorreflexives Geschehen handelt – „Impulse/Entscheidungen in Millisekunden, bevor die für Rationalität zuständigen Hirnregionen überhaupt aktiv werden können“, wie Robert Sapolsky argumentiert. Da ich heterosexuell gepolt bin, provoziert das Erscheinungsbild einer Frau in mir Reflexe, deren Qualität eine nahezu unendliche Variationsbreite repräsentiert. Von angenommenen hundert, tausend oder meinetwegen zehntausend Frauen erzeugt jede ein singuläres Muster, das sich einem Barcode ähnlich von allen anderen Mustern unterscheidet. Einige Male in meinem Leben war ich offen für das beschriebene Phänomen der kritischen Masse. Zu der außerordentlichen Qualität der aufgenommenen Sinnesreize kommt dann unter Umständen ein Interesse, das das Spiel anstößt, das nur zu zweit geht. 

Dass ich nun mit über siebzig Jahren – wie Henry de Montherlant meint – über alles erhaben sei, das klingt mir ein wenig zu pathosgeschwängert. Julia Onken wählt eine Formulierung, die sich beispielsweise aus der Perspektive Verliebter mühelos nachvollziehen lässt. Es geht dabei um ein Phänomen, das sie mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel oder der Urkraft von Naturgewalten gleichgesetzt. An dieser Stelle zwingt sich die Auseinandersetzung mit einer zu Teilen unsäglichen #me-too-Debatte auf; in Sonderheit mit den Exzessen, die vor allem ein sinn- und sinnesentleertes Hygiene-Sprech zur Folge haben:

Fünfundzwanzig Jahre LehrerInnenausbildung am Uni-Campus Koblenz – circa 250 bis 300 Seminarveranstaltungen und Vorlesungen; allein daraus resultiert ein Teilnehmerkreis von mehr als 10.000 Studierenden; mehr als 10.000 Staatsprüfungen, Modulabschlussprüfungen; tausende von Staatsarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten, an mehr als 600 Tagen Sprechstunden, zwischendurch Prüfungsberatungen. Im Lehramtsbereich summieren sich die persönlichen Beratungs- und Betreuungskontakte auf eine nicht mehr wirklich nachvollziehbare Zahl von zehn- bis fünfzehntausend, wovon 70 bis 80 Prozent Frauen waren. Der erwähnte Sinnesseismograph war im Dauerbetrieb, in der Regel reine Registratur im Sinne von Routine – tausende und abertausende von Adressen, Profilen, Gesichtern, Körperwesen, die eine besondere Arbeitsatmosphäre begründen, winters wie sommers. Zum Sommer gibt es eine delikate Randbemerkung, die weiter unten näher beschrieben wird.

Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll (Peter Sloterdijk). Diese Diskretion gilt auch in Selbstanwendung.  Sie führt hier allerdings zu einer Paradoxie, die – wie gesagt – nur dadurch vermeintlich aufgelöst wird, dass man die seismographischen Aufzeichnungen und Ausschläge in einen Routinebetrieb überführt  und vor allem ihn (in der Regel) der privaten und vor allem jeglicher öffentlichen Kommunikation entzieht. Die diskrete, unvermeidbare, seismographisch sensible Buchführung kommt einer umfangreichen Registratur gleich. Sie vollzieht sich jeweils in Bruchteilen von Sekunden und wird im Alltagsbetrieb der Seminare, Beratungen, Prüfungen - allein schon aus Professionalitätserfordernissen - ausgeblendet. Aber selbst diese Ausblendung kommt eher einer fragwürdigen Autosuggestion gleich – möglicherweise einem Akt der Selbsthypnose – der in seinen tatsächlichen subtilen Auswirkungen nicht abzuschätzen ist - und vor allem: sie gelingt nicht immer. Auch hier bleibt mir nur der Verweis auf Peter Sloterdijk:

„Weil die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis (der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems) einen uneinholbaren Vorsprung, vor seinen Selbstrepräsentationen im Bewusstsein besitzt, ist evident, dass Selbstbezüge immer einen gewissen funktionalen Sinn haben – und dies in aller Normalität und weit vor allen Problemen maligner (bösartiger) Selbstbetonung. Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuss prädisponiertes Ego, das als zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mit allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es existieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiesen, die – wenn man ihnen abhelfen will – in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 128).“

Dies bedeutet in keiner Hinsicht eine Absolution – vor allem männlichen Fehlverhaltens (eine Definition folgt weiter unten im Anschluss an Catherine Deneuve u.a.). Ich greife einmal – auch um die eigene Verstrickung deutlich zu machen – auf ein weiteres Beispiel aus Sloterdijkscher Feder zurück. Es geht darum, den Zusammenhang zwischen seismographischer Registratur und reflexiver Kommentierung zu verdeutlichen (ich entnehme das Beispiel: Zeilen und Tage – Notizen 2008-2011, Berlin 2012, S. 37f.). Unter dem 3. Juni, Amsterdam findet sich folgender Eintrag:

„Mittags im Sea Palace. Rene zitiert einen Satz von Konfuzius: ‚Mit siebzig konnte ich den Regungen meines Herzens folgen, ohne jemals eine Sünde zu begehen.‘ Später sah ich an der Centraal Station eine junge Frau, bei deren Anblick sich der Wunsch einstellte, siebzig zu sein, der Regung wegen. Für das übrige wäre vierzig die Obergrenze gewesen. Ich fragte mich nur, was mit dem weiblichen Selbstbewusstsein nicht stimmt, wenn ein Wesen mit einem derart evangelischen Gesicht ein solches Amok-Decolleté zeigt.“

Hier entsteht kein Streit um die Frage, wer zuerst da war: das Ei oder die Henne? Sieht man einmal ab, davon, dass es einer Henne bedarf, um ein Ei hervorzubringen, geht es hier zunächst einmal um die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis, die einen uneinholbaren Vorsprung vor seinen Repräsentationen im Bewusstsein besitzt; das Hähnchen ist gewissermaßen im Ei bereits genetisch programmiert und weiß, wann es krähen muss (sofern es nicht im Schredder landet). Sloterdijk nimmt das Mörderdecolleté (sinnlich-vorreflexiv) wahr und in Bruchteilen von Sekunden – aber eben erst nachher – stellt sich seine intellektuell (fragwürdige) Kommentierung ein – fragwürdig, weil man sich fragen kann, ob hier tatsächlich - wie Sloterdijk unterstellt - „mit dem weiblichen Selbstbewusstsein etwas nicht stimmt“, oder ob Sloterdijk sekündlich klar ist, dass ihm zur Würdigung des sinnesmächtigen Reizes nur diese bescheidene Form der (sarkastisch-ironiegeschwängerten) Kommentierung bleibt (die ja unendliche viele kulturelle Implikationen und daraus folgende Interpretationen offenbart – allein das  e v a n g e l i s c h e  Gesicht im Zusammenhang mit einem Amok-Decolleté wirft einen Fragenkatalog auf - aber eben erst nachher!).

Mir genügt dieses Beispiel, um mir meine eigene Situation in einem reizgefluteten – und zuweilen -überfluteten – Kontext noch einmal zu verdeutlichen. Einem weißen, älteren Mann bleibt zunächst einmal nichts anderes übrig, als sich in der ausufernden, komplexen #me-too-Debatte zu positionieren. Ich zitiere dazu aus dem aktuellen Wikipedia-Beitrag:

"Weiter gingen rund 100 Intellektuelle, Künstlerinnen und Journalistinnen, wie Catherine Deneuve oder Ingrid Caven, die einen offenen Brief unterzeichneten, den Sarah ChicheCatherine MilletCatherine Robbe-GrilletPeggy Sastre und Abnousse Shalmani verfasst hatten und den die französische Tageszeitung Le Monde am 9. Januar 2018 veröffentlichte. In diesem warnten sie vor dem 'Klima einer totalitären Gesellschaft'. Die ersten Sätze lauten: 'Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.' #MeToo habe eine 'Kampagne der Denunziation und öffentlicher Anschuldigungen' ausgelöst – die Beschuldigten seien auf eine Stufe mit sexuellen Aggressoren gestellt worden, ohne antworten oder sich verteidigen zu können. Als Folge konstatierten sie eine 'Säuberungswelle', von der insbesondere Kunst und Kultur betroffen sei, was letztlich zu einer unfreien Gesellschaft führen könne. Sie befördere zudem einen Puritanismus und spiele so den Gegnern der Emanzipation in die Hände. Zwar sei es legitim, die Formen sexueller Gewalt gegenüber Frauen zu vergegenwärtigen. Eine beharrliche oder ungeschickte Anmache sei jedoch kein Vergehen – schließlich gäbe es keine sexuelle Freiheit ohne eine 'Freiheit, jemandem lästig zu werden'."

In diesem Wikipedia-Beitrag werden selbstredend die Fälle Harvey Weinstein und Dietmar Wedel erwähnt: „Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.“ Gerichte sollen darüber befinden (und haben darüber befunden), ob jemand strafwürdige Handlungen begangen hat. Im Geschlechterverhältnis habe ich selbst phasenweise fragwürdig agiert (siehe weiter oben); aber immer meilenweit entfernt von irgendwelchen strafwürdigen Haltungen.

Summa-summarum gehe ich soweit zu behaupten, dass die vorreflexive Affizierung evolututionsbezogen alternativlos ist. Die reflexive Auseinandersetzung als Handlungsvoraussetzung ist in einem zivilisierten, kulturgeschwängerten Kontext gleichermaßen alternativlos - auch wenn manche meinen, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt.

Kommen wir noch kurz auf das Phänomen der kritischen Masse zu sprechen. Als vorreflexive Affizierung kommt sie gewiss häufiger vor, als dass sie auch handlungsmächtig würde; genau in diesem Sinne ist Sloterdijks oben geschilderter Reflex einzuordnen. Solche Phänomene bleiben in der Regel folgenlos – wie ein fernes Wetterleuchten. Dass sie eine Handlungsmacht hervorbringen – und zwar wechselseitig –, die nicht nur im Begehren und im Begehrensbegehren endet, sondern über ein langes Leben den Wunsch nach einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz  (Peter Fuchs) zur Folge hat, ist immer noch die Sehnsuchtsvorstellung der allermeisten jungen Menschen. Erst wenn dies wirklich gelingt – mit allen Höhen und mit allen Tiefen –, winkt schließlich jene Perspektive, die Karl Jaspers folgendermaßen beschreibt: „Dann geht der Weg durch die Lebensalter. Die vitale Schönheit der Jugend schwindet dahin. Aber nun, in der lebenswährenden Erscheinung existentiell geprägt, liegt in der Schönheit des Alters mehr als nur die erinnerte Jugend. Es gilt Kierkegaards Satz: Die Frau wird mit den Jahren schöner. Aber es sieht nur der Liebende.“

Die UrParabeln bleiben geborgen im gemeinsamen Weg, und alle Eskapaden verblassen im Zwielicht der Erinnerung.

Jedenfalls scheint mir eine der zentralen Schlussfolgerungen aus alledem zu sein, dass weder
im Krieg noch in der Liebe - und erst Recht nicht in der Politik - alles erlaubt sein darf.

Robert Sapolsky kommentiert dies folgendermaßen:

„Trotz unserer biologischen Grundausstattung können wir uns durch Umstände und Erfahrungen verändern. Wir können diese Veränderungsprozesse sogar intellektuell verstehen und auf diese Weise verstärken.“

  

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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