Geburtstagsgrüße aus Güls - heute mit Karl Otto Hondrich
Das letzte Buch – Weniger sind mehr – erschienen 2007, registriert seinen Tod schon im Klappentext:
"Karl Otto Hondrich (1937-2007) war einer der bekanntesten Soziologen Deutschlands und Autor mehrerer Bücher. Er studierte Volkswirtschaftslehre, politische Wissenschaft und Soziologie in Frankfurt, Berlin, Paris und Köln. Hondrich war Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt. Er befasste sich unter anderem mit Theorien und empirischen Untersuchungen über sozialen Wandel und soziale Konflikte (Klappentext zu: Weniger sind mehr – Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist, Campus Verlag Frankfurt/New York 2007)."
Seine steilste These darin (Rudi sei mein Zeuge): „Denn wer zur Familie gehört, entscheiden nicht Biologen, Demografen und Statistiker aufgrund vorgefasster Kriterien, sondern die Beteiligten selbst, indem sie sich gegenseitig Liebe, Intimität und Halt schenken, also die zentralen Familienfunktionen erfüllen (S. 124).“
Karl Otto Hondrich hat mich durch mein Studium begleitet. Er galt als einer der Methoden-Gurus seiner Zeit. Er stand mir fern – Pflichtlektüre sozusagen. 2005 dann die Offenbarung durch Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft (Suhrkamp – Frankfurt 2004). Als Daneben-Lyriker hat er mir sozusagen den basso continuo geliefert für mein zweites Lyrik-Bändchen Die Mohnfrau.
Inzwischen bin ich dabei auch Karl Otto Hondrich zu überleben. Aber auch fast sechzehn Jahre nach seinem Tod verblüfft mich seine Kehrtwende. Mit Meine Lieben in Band 2313 der edition suhrkamp (S 149-176) löste er in mir mit seinen persönlich gefärbten Ausführungen um die Schlüsselbegriffe Bindung -Geborgenheit - Entschiedenheit jene tiefe Gewissheit und Zuversicht aus, die seither meine eigenen Reflexionen und vor allem meine Bemühungen um Selbstvergewisserung begleiten. So staunte ich erneut, als ich – eher zufallsbedingt – Weniger sind mehr in die Hand nahm. In Kapitel 4 stellt Hondrich die Logik der Demografie in Frage, indem er betont, dass die Logik der Demografie keine Sozio-Logik sei: "Die Sozio-Logik folgt anderen Regeln, unter ihnen das Gesetz der Erhaltung. Selbsterhaltung der Familie trotz Verkleinerung durch Scheidung und Geburtenrückgang bis zum Nullpunkt (S. 100).“
Bleibt man in der Logik der traditionellen Familiensoziologie, kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, was denn geschieht, wenn die Zahl der Kinder in einer Familie auf null sinkt. Hondrich bestätigt, dass in diesem Fall logischerweise ein wichtiger Typus der Liebe, die Liebe zwischen den Generationen, in die Zukunft hinein verloren gehe. Er führt den Gedankengang weiter und zieht die Schlussfolgerung, dass sich beispielsweise die Liebe zwischen den Generationen zurückwenden könne zu den Eltern (solange diese leben). Auch sei denkbar, dass sich diese Liebe (zwischen den Generationen) verwandle in eine Paarliebe, die in der äußersten und exklusiven Konzentration auf den Partner/die Partnerin eine noch emphatischere Steigerung finde. „Dies – so Hondrich – hat seinen Preis darin, dass die Kleinstfamilie zu bestehen aufhört, wenn eine der beiden letzten Personen, die sie noch halten, stirbt (S. 123).“
Der originelle Gedankengang Hondrichs geht davon aus, dass die Sozio-Logik auf ganz andere Wege führe: „Als empirische Wissenschaft fragt sie zunächst nach den Beziehungen und Institutionen, so wie die Menschen selbst sie verstehen (S. 123).“ Eine erste große Überraschung resultiert für Hondrich aus der Tatsache, dass die Familie nicht kleiner, sondern größer werde. Denn dies zeige sich entgegen unserer Vorurteile, logischen Ableitungen und den Statistiken, die angesichts von Trennungen, Scheidungen und Geburtenrückgang allesamt auf eine Verkleinerung der Familie hinausliefen. Karl Otto Hondrich behauptet: „Auf ihre Verkleinerung antwortet die Familie mit Vergrößerung.“ Er meint damit:
- Die Erweiterung der Familie durch Verwandtenwahl (1).
- Die Verringerung der Zahl der Kernfamilien (2) und
- Die Erhöhung familialer Qualität (3)
Die Erweiterung der Familie durch Verwandtenwahl (1)
Hondrich geht davon aus, dass Einzelgänger und Paare ohne Kinder natürlich in besonderer Weise der Situation ausgesetzt seien, im Alter allein zu bleiben und ihre Familie um sich herum zu verlieren, „bevor sie selbst, sterbend, nicht nur unter ihre persönliche, sondern auch unter eine Familiengeschichte einen Schlussstrich ziehen“ – solange aber seien sie immer noch Bestandteil einer Herkunftsfamilie mit Cousins, Cousinen, Großneffen, Großnichten und anderen entfernten Verwandten, die sie zu ihrer Familie „machen“. Karl Otto Hondrich stellt nun eine steile These auf. Sie zu überprüfen ist jedem von uns anheimgestellt – 16 Jahre nach seinem Tod:
„Denn wer zur Familie gehört, entscheiden nicht Biologen, Demografen und Statistiker aufgrund vorgefasster Kriterien, sondern die Beteiligten selbst, indem sie sich gegenseitig Liebe, Intimität und Halt schenken, also die zentralen Familienfunktionen erfüllen (S. 124).“
Mit einem weiteren – bei Hondrich, wie häufig, empirisch unterfütterten – Gedanken möchte ich den ersten Teil meiner Hommage an Karl Otto Hondrich (heute an meinem 71sten Geburtstag) beenden (in meinem Blog bleibt er allgegenwärtig):
„Im Abstand von 50 Jahren wiederholte das Allensbacher Institut für Demoskopie die Frage: ‚Wen rechnen sie zu Ihrer Familie?‘ Es zeigt sich: Aufs halbe Jahrhundert gesehen gehen Ehegatten der Familie verloren – die Nennungen fallen von 70 auf 58 Prozent; das mag auf eine größere Zahl von Trennungen und Scheidungen und auf einen zunehmenden Anteil von älteren verwitweten Personen zurückzuführen sein. Dagegen werden Eltern, Großeltern und andere Verwandte heute häufiger zur Familie gezählt als damals. Auch Alleinstehende und Menschen ohne Kinder können, sich an Verwandte und Freunde anschließend, ihre Familie ‚machen‘ (S. 125f.).“
Es stellt sich Erleichterung ein, wenn Karl Otto Hondrich die „Machbarkeit“ von Familie in Aussicht stellt – und empirisch erweist sich dies wohl tatsächlich als eine Option. Obgleich – es ist derselbe Karl Otto Hondrich, der wenige Seiten – fast in Hellinger-Manier – betont:
„So vergänglich die Liebe des Paares, so unvergänglich die zwischen Eltern und Kind. Dies ist keine Bindung der freien Wahl, sondern, wenn die Zeugung erst erfolgt ist, eine Schicksalsbindung für beide Generationen. Sie ist viel früher in uns verankert als die Bindung des Paares. Sie ist unvermeidbar. Sie ist nicht abwählbar; jeder gelegentliche Versuch dazu ist gesellschaftlich geächtet und kann schwerlich ganz gelingen. Denn die Liebe zwischen Eltern und Kind hat prägenden Charakter; für das Kind ohnehin, von Anfang an, unausweichlich. Für die Eltern naturgemäß später einsetzend; aber dann doch, abhängig von Dauer, Dichte und Ausschließlichkeit der Interaktion, unter dem Protektorat des Leitwerts der Liebe und oft als dessen letzte reale Zuflucht sich steigernd (S. 120).“
Und ganz nebenbei: Hellinger würde hier vermerken, was den Versuch der Abwählbarkeit anbelangt – er impliziert nicht nur schmerzliche, sondern immer auch selbstzerstörerische Anteile.
Karl Otto Hondrich – Chapeau, vielen Dank für Deine allseits anregenden, immer wieder veblüffenden und irritierenden Interventionen – Fortsetzung folgt.