Tanja Stelzer: Rettet unsere Alten! oder: Das Methusalem-Komplott (Frank Schirrmacher)
Meine Cousine und ich werden schon wieder ein Jahr älter - kleine Reminiszenz zum 71sten
„Ines. Eliona. Clara. Gjulten. Silvio. Gaby. Nadine. Gina. Svetlana. Jenny. Andreas. Pauna. Olli. Die Frau am Telefon der Notaufnahme. Der zugewandte Hausarzt. Der Arzt, der keinen Termin für meine Mutter hatte (sie alle kümmern sich um Tanja Stelzers Mutter). Ich oder auch Sie. Wir alle könnten einmal zu denen werden, die wie meine Mutter keine winning cases sind.“
Mit dieser merkwürdigen Aussicht, irgendwann nicht zu den winning cases zu gehören, rüttelt uns Tanja Stelzer wach (Tanja Stelzer - * 1970 in Kronberg im Taunus - ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Sie leitet das RessortDossier der Wochenzeitung Die Zeit, wo sie vor allem Porträts und Reportagen schreibt). Sie rüttelt uns wach! Wen? Die Kohorte der Baby-Boomer (in Deutschland bilden die im Zeitraum von 1955 bis 1969 Geborenen eine Kohorte, die von Statistikern als geburtenstarke Jahrgänge bezeichnet werden). Meine Alterskohorte gehört nicht dazu. Wir gehören zu den jungen Alten, die Tanja Stelzer – so wie beispielsweise ihre Mutter (etwa Jahrgang 1947/48) – im Blick hat. Der Beitrag Rettet unsere Alten! ist nachzulesen in der ZEIT (7/23, Seite 58). Einleitend, auf einer kompletten Seite, die eine ikonografisch abstrahierte, schwarz kontrastierte Gestalt zeigt, die sich aus einem schwarzen Untergrund erhebt, und die in ein gleichermaßen abstrahiertes Offenes zu blicken scheint, steht zu lesen:
Rettet unsere Alten!
Ihre demenzkranke Mutter muss ins Krankenhaus – und geht verloren. Seitdem fragt sich Tanja Stelzer: Was tun wir eigentlich alten Menschen an?
Die Geschichte ist schnell erzählt und wird hier von mir auf’s Wesentliche eingedampft:
- Tanja Stelzer sitzt im ICE etwa 300 Kilometer von ihrem Zuhause in Hamburg entfernt als sie ein Anruf aus dem Pflegeheim ihrer Mutter erreicht – man habe einen Rettungswagen rufen müssen, "da ihre Mutter nicht wach zu kriegen gewesen sei“: „Ich war auf dem Weg in den Urlaub, in Avignon warteten mein Mann und mein Sohn auf mich. Sollte ich zurückfahren?“
- Man erfährt im Verlauf des Artikels, dass die Mutter 75 Jahre alt ist. Im Alter von 73 Jahren erlitt sie nach einem Sturz eine schwere Hirnblutung. Ihr Zustand geht unterdessen mit gravierenden Einschränkungen einher: „Als mich im ICE der Anruf aus dem Pflegeheim erreichte, konnte sie schon lange nicht mehr sagen, wie sie heißt, sie reagierte nicht, wenn man sie ansprach, sie konnte nicht laufen, nicht allein zur Toilette gehen oder auch nur äußern, dass sie zur Toilette muss.“
- Tanja Stelzer fährt weiter. Sie findet heraus, in welchem Krankenhaus sich ihre Mutter befindet. Sie möchte erfahren, wie es ihr geht und wird vertröstet – sie solle zwei Stunden später noch einmal anrufen: Als sie zwei Stunden später anruft, sagt eine Frau: „‘Können Sie mir noch einmal das Geburtsdatum ihrer Mutter sagen?‘ Sie murmelte: ‚Patientin nicht auffindbar.‘ Ich schloss daraus, dass sie sich wohl in der Zeile geirrt hatte. Dann sagte sie mit fester Stimme: ‚Rufen Sie in zwei Stunden wieder an.‘“
- „Immer noch fragte ich mich, ob es wohl richtig war, weiterzufahren. Ich beruhigte mich damit, dass meine 17jährige Tochter in Hamburg geblieben war. Sie könnte nach Oma schauen, und wenn wir mehr wüssten, könnte ich immer noch zurückfahren.“
- Zwei weitere Stunden vergehen. Unter der Nummer der Notaufnahme ist keine Verbindung herzustellen: "Endlich meldet sich wieder die Frau, die ich schon kannte und sagt: 'Ihre Mutter ist gegangen'.“ Tanja Stelzer antwortet: „Das kann nicht sein, meine Mutter kann nicht gehen.“ Die andere Seite insistiert: „Doch, doch, ihre Mutter ist hier nicht mehr. Im Computer steht: Patientin nicht auffindbar. Schon zum zweiten Mal.“
- Die Mutter ist dement, kann nicht gehen. Tanja Stelzer gerät aus der Fassung und weist darauf hin, dass ihre Mutter vermutlich seit dem gestrigen Abend weder gegessen noch getrunken habe, dass sie nicht alleine zur Toilette gehen könne: „Was machen Sie mit meiner Mutter?“ Die andere Seite – so Tanja Stelzer – reagierte immer noch sehr freundlich: „Sie entschuldigte sich, sie wisse so etwas dürfe nicht passieren, und sie versprach meine Mutter zu suchen. Sie werde mich gleich zurückrufen.“
- „Ich kann ihre Mutter nicht finden. Wir haben hier 70 Patienten in der Notaufnahme, und da sind ganz viele grauhaarige Leute im Rollstuhl dabei, die nicht auf Ansprache reagieren. Viele von denen haben kein Bändchen um den Arm.“ Die Frau – so Tanja Stelzer – „klang jetzt fast so verzweifelt, wie ich es war“.
- Unterdessen ist die Tochter – die Enkelin – auf dem Weg ins Krankenhaus; irgendwo hinter Besancon bei 320km/h der Versuch Informationen auszutauschen, aber das Netz ist zu schlecht; dann irgendwann ein neuer Versuch, der gelingt. Die Polizei soll eingeschaltet werden. Dann aber plötzlich die Frage: „Hat ihre Mutter so einen Strassstein auf einem Schneidezahn?“ Es grenzt nun schon an eine surreal wirkende Situation, die Tanja Stelzer so kommentiert: „Mein Bruder und ich hatten diesen Strassstein immer für eine Geschmacksverirrung meiner in modischen Fragen manchmal etwas eigenwilligen Mutter gehalten. Aber jetzt war ich beseelt von einer tiefen Dankbarkeit, dass es diesen Strassstein gab.“
Versuchen wir die ganze Geschichte (noch mehr) abzukürzen: Tanja Stelzer fasst den Ausgang so zusammen, dass bei ihrer Mutter dann noch zwei - schon länger zurückliegende – Schlaganfälle diagnostiziert worden seien. Da aber eine weitere Therapie nicht möglich/sinnvoll (?) gewesen sei, wurde sie nach einer zweiten Nacht im Krankenhaus ohne weitere Behandlung entlassen: „Vollkommen erschöpft kam sie im Pflegeheim an. Seitdem ist sie noch teilnahmsloser als zuvor.“
Immerhin steht Tanja Stelzer eine komplette Seite in der ZEIT zur Verfügung. Dementsprechend bleibt sie nicht stehen bei der Schilderung dessen, was in Deutschland unterdessen den Pflegealltag und den Alltag alter Menschen häufig so unerträglich erscheinen lässt. Gegen Ende ihres Beitrags verweist sie auf Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott*:
„An das Buch muss ich in letzter Zeit oft denken […] Darin geht es um die bevorstehende Vergreisung der Gesellschaft. Schirrmacher sagte einen Krieg der Generationen voraus, Verteilungskämpfe, revolutionäre Umstürze. In schillernden Farben malte er Szenarios aus, wie brutal sich die Gesellschaft den immer zahlreicher werdenden Alten gegenüber verhalten werde, wenn diese Alten, solange sie noch jung seien, nicht anfingen, sich zu wehren und die gesellschaftlichen Strukturen zu ändern.“ Daran schließen sich die Fragen an, die wir – und hier meine ich mich und meine Familie – für unsere Alten beantworten mussten und beantwortet haben. Und andere müssen sie nun für uns beantworten:
- „Wer umsorgt die Alten und holt sie aus der Einsamkeit, die zunehmen wird, weil es immer mehr Menschen gibt, die keine Kinder haben und keine Enkel?
- Wer baut Mehrgenerationenhäuser, die nötig sind, weil die Leben von Eltern und Kindern sich heute oft in unterschiedlichen Städten abspielen, weit voneinander weg?
2050 – so endet der Beitrag von Tanja Stelzer – wird in Deutschland mehr als ein Drittel der Bevölkerung 65 Jahre und älter sein. „Es wird dann nicht mehr 1,8 Millionen, sondern knapp drei Millionen Demente geben […] Wir alle könnten einmal zu denen werden, die wie meine Mutter keine winning cases sind.“
* Schirrmachers Fahnenappell auf Seite 155 des Methusalem-Komplotts:
"Unsere Mission ist es, alt zu werden. Wir haben keine andere. Es ist die Aufgabe unseres Lebens. Sie müssen lernen, fünfzig und sechzig Jahre alt zu werden... Und Sie müssen lernen, was es heißt, siebzig, achtzig oder auch neunzig Jahre alt zu werden, ohne zu verstummen... Es wird viele geben, die Ihnen Fahnenflucht und Desertion, zum Beispiel den Freitod, anbieten werden. Während Sie Sport treiben, sich gesund ernähren und Ihre Altersvorsorge in die Hand nehmen, sind die Bücher und Aufsätze schon geschrieben, die begründen, warum es moralisch gerechtfertigt sein kann, Sie im Alter zu töten. Die Propaganda der Feinde wird versuchen, Sie davon abzubringen, an Ihre Mission zu glauben. Die Feinde sind überall: Es sind alte und junge Leute, Werbung und Medien, die Bürokraten einer sozialstaatlichen Entmündigung, die die Lebensarbeitszeit glauben definieren zu können. Mit allen Tricks wird man versuchen, Ihr Selbstbewusstsein zu erobern und zu kolonialisieren. Der Angriff beginnt mit Ihrem Spiegelbild und endet in Ihrem Gehirn."
Doch letztlich baue Schirrmacher nicht wirklich auf die Macht der Erkenntnis. Die Klischees vom Alter, stelle er fest, würden wie alle Klischees von Mehrheiten gemacht. Und im bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte seien das immer die Jungen gewesen. Das gehöre nun der Vergangenheit an. Die demographische Revolution bringe erstmals die Älteren in die Mehrheitsposition und damit in eine günstige Ausgangsstellung im Krieg der Generationen. Am Ende werde sich die größere Zahl der Bataillone durchsetzen. Für einen Aufklärer wie Schirrmacher sei das keine schlechte Pointe - meint: Günter Müchler über Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott. Die Macht des Alterns 2004-2050. Karl Blessing Verlag München, 200 Seiten zum Preis von 16 Euro.
Frank Schirrmacher, der Workaholic, starb bereits 2014 noch nicht 55jährig an den Folgen eines Herzinfarkts. Er wird den von ihm ausgerufenen Fahnenappell definitiv verpassen - vielleicht hat er das bessere Los gezogen!?