Peter Härtling - Nachgetragene Liebe (erster Teil)
Für meine Kinder – mit dieser Widmung versieht Peter Härtling seine Nachgetragene Liebe. Wie alt muss man werden? Peter Härtling war 47 Jahre alt als er sich 1980 herantraute an eine schwierige, offensichtlich ambivalente Vater-Sohn-Geschichte:
„Mein Vater hinterließ mir eine Nickelbrille, eine goldene Taschenuhr und ein Notizbuch, das er aus grauem Papier gefaltet und in das er nichts eingetragen hatte als ein Gedicht Eichendorffs, ein paar bissige Bemerkungen Nestroys und die Adressen von zwei mir Unbekannten. Er hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann. Ich habe über ihn geschrieben, doch nie von ihm sprechen können (7).“
„Peter Härtling ist zwölf Jahre alt, als sein Vater als Kriegsgefangener einen sinnlosen Tod stirbt. Dies ist die Geschichte der Suche nach diesem Vater…“. So ist es auf dem Rücken der dtv-Taschenbuchausgabe von 1993 zu lesen.
Meine Frage, wie alt man werden muss, um die unumgängliche Frage nach dem Vater zu stellen, schwebt gewiss über meinem zweiten akribischen Versuch mich der Geschichte Peter Härtlings zu nähern. Und so offenbart sich unterhalb dieser Vater-Sohn-Tragödie so vieles, was den in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein Geborenen widerfuhr. Die Geschichte tausendfacher Entfremdung zwischen Eltern und Kindern – zuletzt als Schreckensbild aus den autobiografischen Auslassungen Wolfgang Klafkis (im vorstehenden Link Kapitel drei) ersichtlich – entbirgt hier alle Facetten einer vielschichtigen Katastrophe, die allzu Menschliches mit der subtilen und latenten Gewalt des Zeitgeistes zu einer explosiven Mischung einer heillosen Familiendynamik mischt. Die letzten Sätze nach spärlichen, gleichwohl enorm verdichteten 168 Seiten offenbaren eine versöhnliche Haltung, die mit einer vollkommen unpassenden, hilflosen Autosuggestion endet:
„Nach einem Jahr, wir hatten Zwettl inzwischen verlassen und waren mit einem Flüchtlingstransport in Nürtingen am Neckar gelandet, erhielten wir die Nachricht, daß mein Vater am 21 Juli 1945 im Gefangenenlager Döllersheim gestorben sei (168).".
Ich bin dort gewesen, Vater, ich habe aus dem Fenster der Baracke geschaut, in der du krank gelegen hast. Ich habe auf ein schwarzes, von Granaten aufgewühltes Land gesehen, eingefaßt von Wäldern. Es war fünfundzwanzig Jahre später. Wieder wohnten Soldaten in den Baracken, wieder üben sie für irgendeinen Ernstfall, Soldaten des österreichischen Bundesheeres. Ich habe dir nachgehen, dich finden wollen. Aber als man mich nach dir fragte, konnte ich nicht antworten. Ich sah, was du zuletzt gesehen hast, aber es half mir nicht, daß ich deinen Blick wiederholte. Ich mußte weiter zurück, wieder die Hand im Nacken spüren, wieder von deinem Schweigen gedrückt werden, ich mußte aufhören, mich zu wehren und die Spuren lesen, die du mir hinterlassen hast. Ich fange an, dich zu lieben. Ich bin älter als du. Ich rede mit meinen Kindern, wie du nicht mit mir geredet hast, nicht reden konntest. Nun, da ich die Zeit verbrauche, die dir genommen wurde, lerne ich, dich zu verstehen. Kehrtest du zurück, Vater, wie der Mann aus dem Bergwerk von Falun, könntest du mein jüngerer Bruder sein (168f. - Hervorhebungen FJWR).“
Peter Härtling ist zwölf Jahre alt, als sein Vater stirbt, früh gereift und verroht in einer Entwicklungsphase, die durch eine zutiefst gestörte Beziehung zu Vater und Mutter belastet wird. Diese Störung, die zu einer tiefen Verstörung des Heranwachsenden führt, triggert nachhaltig – und wie es scheint, auf willkommene Weise – die Absetzbewegung hinein in die Welt des Jungvolks. Ähnlich wie bei Wolfgang Klafki entfalten diese Absetzbewegungen eine Dynamik, mit der sich Vater und Mutter - hilflos und gleichermaßen entsetzt - konfrontiert sehen.
Es beginnt allerdings – in der Erinnerung Peter Härtlings – mit einem schmerzhaften Verlust des Urvertrauens in die väterliche Fürsorge. Sie entbehrt auf gleichermaßen subtile wie brutale Weise der Aufgehobenheit in jener liebevoll vermittelten Geborgenheit, der alle Kinder bedürfen. So erinnert sich der Endvierziger der großen Reise mit dem Dreirad. Nach Burgstädt will er radeln, um den Vater zu überraschen. Vorsorglich – kaum zu glauben – stopft der Pimpf noch eine Semmel und einen Apfel in seine Provianttasche und begibt sich auf die aussichtslose Reise:
„Wenn ein Auto mich überholt, halte ich an, stehe auf, hebe das Dreirad zwischen den gespreizten Beinen, weiche mit ein paar Schritten bis an den Rand des Straßengrabens aus, kneife die Augen, presse die Lippen zu, und wenn ich wieder atme, bäckst sich der Staub am Gaumen fest […] Ich muss mich beeilen. Sonst komme ich zu spät und kann Vater nicht überraschen (8).“
Was sich nun in der Folge ereignet, begründet jene tiefe Verunsicherung, jene Verlorenheit, die seine verhängnisvolle Absetzbewegung begünstigen; eine nachhaltig unterbrochene Hinbewegung zu den bedeutsamen Anderen, deren Heilung (vorerst) nicht in Aussicht steht. Erst schreibend nähert sich der Endvierziger jener verbrannten Erde, auf der Dürre und Öde vorherrschen:
„Ich bin fünf. Ich bin mit meinem Dreirad unterwegs zwischen Hartmannsdorf und Burgstädt, doch meine Phantasie traut sich die Ferne nicht mehr zu. Ich will gestreichelt und umarmt werden. Ich höre das Auto, die Hupe stößt mich in den Rücken, scheucht mich an den Rand. Meistens trug er graue Anzüge, wattierte Zweireiher, die seine Schulten auseinanderzogen, ihn noch schwerer erscheinen ließen, als er war. In einem grauen Anzug steigt er aus dem Auto, richtet sich auf, geht auf das Kind zu, das sich über den Lenker beugt, kein Wort über die Lippen bringt, packt es wie ein Karnickel, reißt es hoch, schleppt es, zusammen mit dem Dreirad, zum Wagen. Beides verstaut er im Fond, setzt sich neben den Fahrer, sagt kein Wort, schüttelt nicht den Kopf, murmelt nichts, schimpft nicht. Als der Wagen vor dem Haus anhält, wendet er sich endlich um. Sein Gesicht ist noch größer und runder als sonst. Er sagt: Steig aus und entschuldige dich bei deiner Mutter. Er kehrt dem Kind schon wieder den Rücken zu, eine graue, vorwurfsvolle Falte unter dem braunen Nacken und dem schwarzen, glattgekämmten Haar (9 - Hervorhebungen FJWR).“
Die Differenz kann nicht größer sein, Erwartung und Erleben offenbaren eine galaktische Differenz. Peter Härtling sieht sich außerstande, zwischen sich und seinem Rädchen zu unterscheiden: „Beides verstaut er im Fond…“ Der kleine Peter mutiert zu einer blutleeren Sache, abgelegt im Fond und abgestraft durch einen mit brachialer Gewalt schweigenden Vater:
„Ich kann mir deine stumme Strenge nicht erklären, Vater. Warum hast du mich nicht ausgeschimpft? Warum hast du deinen Zorn nicht gezeigt oder die Freude mich gefunden zu haben. Warum hast du nicht gesagt: Mutter und ich, wir haben uns sehr um dich gesorgt, und nicht gefragt: Wo wolltest du denn mit deinem Dreirad hin? Warum hast du damals dein Schweigen begonnen und es so gut wie nie gebrochen (9f.)?“
Warum hast du mich verlassen, Vater?
So könnte man den Schmerz und den Verlust überhöhen – ihn ausmalen zu einer lebensbestimmenden und lebensprägenden Urerfahrung. Das Kindergedächtnis setzt eine zweite Zäsur – verbunden mit dem Tod des Großvaters:
„Ich weiß nicht genau, wann Großvater starb. Wahrscheinlich 1940, im zweiten Kriegsjahr. Natürlich könnte ich nachsehen, natürlich könnte ich Vaters Schwestern fragen. Ich will das Kindergedächtnis in meinem Kopf nicht festlegen. Ich will mich Daten nicht wehren gegen die Verstörung wehren, gegen die durcheinandergeratene Zeit, die nur in Bildern genau ist (36 - Hervorhebung FJWR).“
Peter Härtling besinnt und misstraut sich. Er weiß, dass er seine Erinnerungen zu geläuterten, gefilterten, durch die Erfahrungen seines unterdessen 47 Jahre währenden Lebens presst. In diesem Presswerk ringt er sich die Worte ab, mit denen er den Treibsand festhalten und bändigen will, der übrig bleibt, der zwischen ihm, seinen Erinnerungen und seinen Eltern und Großeltern changiert und auf dem die Balance zu halten zu einem Kraftakt mutiert. Und übergroß erscheint ihm die allseitige Verlusterfahrung – Verlust als Urgrund und Urmotiv einer heillosen Identitätssuche:
„Großvater starb und nahm offenbar etwas mit, das die anderen zum Leben brauchten, das sie zusammenhielt. Sie sanken erst in sich zusammen und stoben dann auseinander. Ein Sommer wurde unterbrochen. Es war wirklich so, daß die Bäume dürr wurden, das Wasser trüb, die Wiesen braun, der Himmel sich grau auf uns senkte. Sie hatten uns Kindern den Tod Großvaters erst verheimlichen wollen. Er sei krank, läge in der Klinik in Chemnitz. Aber sie konnten mich nicht täuschen. Es war ihnen anzusehen, daß er sie verlassen hatte (36 - Hervorhebung FJWR).“
Peter Härtling beschreibt nichts anderes als die Apokalypse, die Nemesis – einen Untergang, der alle heillos zurücklässt und ihren Zerfall, ihr Auseinanderstieben befördert. Der siebenjährige Peter altert in jener fragwürdigen Rasanz. Und eine Beschreibung seiner finalen Ausstoßung – den Verlust aller Schonräume, die vielen Kindern zugestanden, zumindest gewünscht wird – gelingt erst dem schon reüssierten Peter Härtling. Er empfindet noch einmal nach, wie sehr die abstoßungswürdigen, verwerflichen Seiten in ihm begünstigt werden, ja geradezu alternativlos erscheinen, indem er nolens volens zum Zeugen des (zumindest von ihm so empfundenen) Ehebruchs des Vaters wird:
„Ich möchte sie stören, erschrecken, doch ich schleiche mich weg, schließe mich im Bad ein und spüre, wie die Geschichte, die ich verschweigen muß, diese Geheimnis, das ich, ohne dessen Wissen, mit meinem Vater teile, mich drückt und alt macht. Ich gehöre, weil ich vieles von ihnen weiß, zu den Erwachsenen und bin, weil ich schweigen und Kind spielen muß, von ihnen verstoßen (74).“
Dieses Akzeleration auslösende Katapult zwingt Peter Härtling zu einer nachvollziehbaren Haltung, mit der er die Zerrissenheit dem Vater gegenüber (sprachlich) zu bewältigen, zu heilen (?) versucht:
„Als ich dich mit Tante Manja (eine verschwägerte Großtante Peter Härtlings) reden ließ, als ich das Gespräch rekonstruierte, hätte sie dich, so wie ich es auch in Erinnerung habe, ‚Rudi‘ nennen müssen. Ich konnte es nicht schreiben, erlaubte euch nicht die Anrede, wahrscheinlich, weil ich dich selbst nie habe so anreden können und weil die Bezeichnung ‚Vater‘ eine Distanz zwischen uns herstellt. Ich habe dich so nicht gerufen. Nur wehrt sich das Gedächtnis des Mannes gegen die Gegenwart des Kindes, das ‚Vati‘ zu dir sagte. Ich bin es gewesen, ich bin es, wenn ich schreibe, und ich bin es nicht. Ich versuche den Abstand zwischen uns, Satz um Satz, zu verringern (75).“
Hier beginnt das Motiv einer nachgetragenen Liebe Wirkung zu erzielen, obgleich nichts besser wird. Die Odysse von Chemnitz über Brünn nach Olmütz verdoppelt Perter Härtlings Elend. Und der auf Seite 78 zu lesende Vermerk anlässlich des Bezugs der neuen, großzügigen Wohnung in Olmütz mag väterlicherseits das vorwegnehmen, was dem 10jährigen Peter zu einer zweiten Ausstoßung gerät:
"So selbstsicher und glücklich bist nur dieses eine Mal aufgetreten. Du hattest den Wechsel geschafft, du konntest anfangen. Dennoch bist du in dem knappen Jahr, in dem du noch in Olmütz arbeiten konntst, nahezu unsichtbar geworden; verschwandest in einem Gewölk von Streit und Unbehagen, straftest Mutter und uns wieder mit deinem ausdauernden Schweigen (78)."
Das Abdriften Peter Härtlings ins Jungvolk - verbunden mit dem Namen Eduard Nemec - wird mit der von Peter Härtling so empfundenen zweiten Ausstoßung seine besondere Brisanz und Qualität entfalten. Eduard Nemec, das Jungvolk und der Bann boten ihm "ein neues, gleichsam unangreifbares Zuhause":
"Mutter beschwor mich, von diesen rohen und gemeinen Menschen abzulassen. Und sie? Benahm sie sich nicht ebenso roh und gemein, wenn sie Abend für Abend fortging, uns verheimlichte, wohin und zu wem, und Nemec mich schließlich aufklärte, sie habe ein Verhältnis mit dem Großbäcker Teubner, die ganze Stadt wisse es, nur ich Blödian nicht. Wozu braucht sie mich noch? Nun wußte ich, das Vater Tante Manja liebte und Mutter, diesen Teubner.
Ich wußte alles (108 - Hervorhebungen FJWR)."
Wie blickt Peter Härtling auf diese Zeit?
"Ich bin zehn. Ich schreibe: Ich bin zehn, was auch bedeutet, daß ich mich mir nähere, daß ich spüre, wie zwei Erinnerungen, zwei Körper sich ineinanderschieben. Ich nähere mich mir und bin sechsunddreißig Jahre von mir entfernt. Fast jede Nacht träume ich von einem Kind, das träumt. Ich träume die Träume des Kindes und weiß sonderbarerweise, daß ich sie wiederhole. Es sind meine Träume und doch sind sie es nicht. Und wenn ich die Szenen hinter meinen geschlossenen Lidern sehe, kann ich auch erklären, weshalb: fast alle Personen, die mich in den wirren, ihren Sinn nicht preisgebenden Geschichten begleiten, sind alt und mächtig, selbst wenn sie freundlich mit mir umgehen. Ich blicke von unten nach oben. Wache ich auf, spüre ich, daß ich einen Rest der Ängste in meine Gegenwart mitgenommen habe. Sie sind wieder wirklich. Wie damals (109)."
Kleiner Exkurs: Ich wusste es immer, und ich spüre es, wie eine zweite Haut. Die von Peter Härtling betonte Annäherung ist eine Annäherung an sich selbst. Niemand, der traumatische Kindheits- und Jugenderlebnisse für sich reklamiert, hat je eine reelle Chance, zu diesen einen heilsamen Abstand zu gewinnen, wenn er sich dieser Annäherung nicht aussetzt, wenn er nicht aus der Entfernung von Jahrzehnten einen Blick gewinnt, der ihn befähigt den Sinn und den Grund der Geschichten zu finden, die so sehr in der ersten Haut stecken. Die zweite Haut, der zweite Blick lassen oft genug die eine unverstellbare Wahrheit in einem anderen Licht erscheinen. Um die maßlosen Kränkungen und den maßlosen Gegenwartsterror des Kränkungserlebens auf Augenhöhe zu betrachten, bedarf es der zweiten Haut - der (Selbst-)Beobachtung zweiter Ordnung, die den Wahrheiten ihr wahres Gesicht nehmen. Wir werden bei Peter Härtling erleben, wie sehr man ein anderer wird - wie sehr einem der Schrecken in die Glieder, in die erste und in die zweite Haut fährt vor dem, der man einmal war.
Im Herbst 1943 kommt Peter Härtling aufs Gymnasium und wird fürs Jungvolk vereidigt. Sie stehen im Karree vor dem Rathaus, abends, Fackeln lodern, der Bannführer redet ihnen die heilige Pflicht in die Köpfe und sie schwören, dem Führer treu bis in den Tod zu dienen. Diese Szene wiederholt sich in deutschen Städten tausende und abertausende Male. Früh schon - als Zehnjähriger - erkennt Peter Härtling: "Weil Vater den Helden ausweicht und sich vor dem Kampf drückt, bin ich eigentlich ein Kind des Führers (81)." und elf Seiten zuvor betont er:
"Ich wünschte mir einen Helden zum Vater, einen, der teilnahm, der die kriegerischen Sätze erfüllte und nicht einen, der sich aus der Zeit stahl und Gegenparolen folgte, der sogar so weit ging, sich von Mutter zu entfernen und in einer anderen Liebe halt zu suchen. Ich habe dich gehaßt, deswegen, und ich mußte älter werden als du es wurdest, um ohne Haß, doch noch immer mit Resten von Widerwillen und Trauer mir und dir zu erzählen, wie du, kurz nach Lores Krankheit unserer Wagenburg aufbrachst (71)."
Wie wird man der, der man war (der, den manche ihr
armseliges Leben lang bleiben)?
"Eduard Nemec zog mich auf die Gegenseite. Mir hatten noch einige Wörter, einige Waffen gefehlt. Nemec verfügte wie ein Taschenspieler über sie. Er war ein Jahr älter als ich, durchgefallen, und nach den Herbstferien in unsere Klasse gekommen: ein blonder, teigiger Junge, dessen fahle Haut und obszöne Gebärden abstießen. Er wußte über alles, was nicht an der Schule gelehrt wurde, Bescheid. Mädchenkörper schilderte er wie ekelerregenden Abfall, in dem sich allerdings mit Lust wühlen ließ, und am meisten verwirrte er uns mit der Geschichte, da seine Mutter erst kürzlich wieder ein Kind zur Welt gebracht habe, ebenfalls an ihren Brüsten sauge und davon seine von uns nicht zu bestreitende Kraft beziehe. Jedes Wort wurde zwischen seinen Lippen anzüglich und schmutzig. Ging es aber um den Führer, die Partei, die Soldaten an der Front und um das Deutschtum, verwandelte er sich in einen entschlossenen Kämpfer, wetterte gegen den Dreck der Slawen und der Juden, verhöhnte die englischen und bolschewistischen Schlappschwänze und entsprach seinem tschechischen Namen Nemec: Deutscher (93f.)."
Peter Härtling bekennt und beschreibt, wie er diesem Jungen verfiel. Sechsunddreißig Jahre später kommt nach seinen Häutungen zu folgendem Fazit:
"Wenn ich an ihn denke, schäme ich mich nicht nur, sondern ich spüre seine üble Nähe, die überschwemmende Körperlichkeit und den Haß, auf den ich vorbereitet war, der in der Luft lag, vor dem niemand sich hüten konnte. Nemec raubte mir die Möglichkeit, doch noch mit meinem Vater zu sprechen, ihn zu verstehen. Er setzte mich fest, machte mich fertig. Fertig, mich in die Schlachtordnung der zukünftigen Herren der Welt einzufügen. Ich war seinen Parolen hörig, weil er sie sichtbar machen konnte (94)."