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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das elfte Türchen (11)

Machen wir heute ein kleines Experiment. Ich stelle einmal empirisch erhärtete Daten und Hypothesen aus einem Titelbeitrag einer renommierten Wochenzeitung zusammen. Erst am Ende des Beitrags werde ich Fundort und Datum der schockierenden Botschaften enthüllen (natürlich kann man auch hier schon nach unten scrollen und sich informieren – auch nicht schlimm!) Ich vermute, wenn man es nicht tut, hat man zwar jetzt schon eine Ahnung, aber man wird dennoch verblüfft sein über Zeitbezug und Aktualität der hier zusammengestellten Befunde und Bewertungen:

  • Die These, dass die Gesellschaft Menschen bestrafe, die sich für eine Familie entscheiden, wird die meisten von uns weder verblüffen noch wird sie nachhaltigen Widerspruch ernten.
  • Auch der Hinweis, dass Generationen von Wohnungsbauministern bedauernd dabei zugesehen haben, wie geräumige Wohnungen der Luxusmodernisierung und dann jungen Vielverdienern (double income no kids) zum Opfer fielen, wird nur wenige von uns erstaunen.
  • Wann könnte es wohl der Fall gewesen sein, dass – wie im zugrunde liegenden Beitrag berichtet –, im Magazin des Londoner Guardian eine Journalistin unter dem Titel Warum man Eltern nicht hören und nicht sehen sollte, schildern durfte, „welch Ekel sie befällt beim Anblick einer aufgeblähten Schwangeren im Fitneßcenter“.
  • Seit wann trifft wohl die empirisch gesicherte Feststellung zu, dass in den Städten schon die Hälfte der Leute lieber alleine lebt?
  • Seit wann ist es wohl so, dass ein Viertel der Frauen wohl gar keine Kinder mehr bekommt und dass Dreiviertel aller Eltern sich den Wunsch nach einem zweiten Kind versagen?
  • Seit wann könnte es so sein, dass der Wunsch nach einem Kind seine Selbstverständlichkeit verloren hat?
  • Seit wann könnten Menschen, die Elternglück bekunden, aus der Sicht der wachsenden Gruppe derer, die dieses Gefühl gar nicht mehr erleben, schnell in der Verdacht des Kitsches oder gar einer völkischen Ideologie geraten?
  • In welche Zeit könnte die Feststellung passen, dass das Zusammenleben mit Kindern nicht selten zur Zerreißprobe werde, „vor der dann die fliehen, die können: Jeden Tage werden 300 Kinder zu Scheidungswaisen".

Die Autorin des hier zugrunde liegenden Beitrags zitiert durchaus Schwergewichte – z. B. aus der soziologischen Forschung, so z.B. Ulrich Beck, der meint, aktuelle Familienpolitik sei, „wenn man es schaffe, Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten und auch noch die Hemden gebügelt bekäme“. Im Umkehrschluss all dieser prekären Blitzlichter erscheint der Autorin die Vorstellung rührend, die Familie solle Geborgenheit, Liebe und Solidarität vermitteln.

Klar, dass die abschließende Forderung, Familienpolitik müsse doch wenigstens Bedingungen schaffen, unter denen die Wahl für ein Leben mit Kindern nicht bestraft werde, so etwa die Minimalerwartung künftiger Familienpolitik umschreibt. Wir können heute fragen, ob diese Erwartung eigentlich erfüllt worden ist? Unsere Autorin jedenfalls stellt aus ihrer seinerzeitigen Perspektive und Beobachtung unmissverständlich klar, dass auch ein Jahr der Familie nichts geändert habe: „Eine Neuordnung der Rentensystems wurde nicht einmal in Aussicht gestellt. Der zuständige Minister, der vor zehn Jahren forderte, die Erziehung von Kindern müsse bei der Rente so viel zählen, wie die Lohnarbeit.“ Heute erklärt er, warum das nicht geht. Wie mag wohl der zuständige Minister geheißen haben? Ja klar: Die Renten sind sicher - Norbert Blüm!

Unsere Autorin stellt ziemlich zum Schluss fest:

„An den Kindern werden solche politischen Zeichen nicht unbemerkt vorbeigehen. Ihren Eltern werden sie nicht selten zur finanziellen Last. Dabei ist Erziehen heute schwieriger als früher. Vor der Haustür tost der Verkehr, im Fernsehen lauern die Gewaltclips der internationalen Konzerne.“

Zuvor hatte Susanne Mayer – altes Schlachtross der ZEIT-Redaktion – sozusagen vor der Haustüre ein anschauliches Beispiel für Prioritätensetzungen ausgegraben. Sie referiert:

„Die Familienpolitik des Jahres 1974 sah so aus, als verfolge sie als Ziel die Einkind- oder Keinkind-‚Familie‘. In Hamburg zeigte sie sich in Gestalt eines dreifingerbreiten Marmorstreifens. Der zieht sich durch die Trottoirs der Innenstadt. Kosten: vierzig Millionen. Der Schuletat wurde um zwölf Millionen Mark zusammengestrichen. Deutlicher kann man Prioritäten nicht setzen.“

Na bitte, die Referenzdaten machen deutlich, wo dieser Beitrag in etwa anzusiedeln ist. DM (Deutsche Mark – Referenzjahr „1974“) Susanne Mayers Beitrag ist als Aufmacher der ZEIT am 23. Dezember 1994 erschienen (ZEIT 52/94 – Titelseite: Der kalte Abschied von der Familie – Dies sollte ein Jahr der Eltern und Kinder werden – doch die Politik straft ihre eigenen Worte Lügen).

Fügen wir noch ein paar Schmankerl an und fragen uns – bei allen unbestrittenen, durchaus gewaltigen Veränderungen: Wie ist das mit der Prioritätensetzung und mit unserem Steuersystem?

Susanne Mayer schreibt 1994:

„Da wurde Kasse gemacht. Die Familienfrage ist uns zur Frage der Finanzen geronnen. Vierzig Milliarden Mark nehme sich der Staat durch die Besteuerung des Kindesunterhalts, hielt die Deutsche Liga für das Kind jenem Finanzminister vor, der in diesen Tagen stöhnt, wie viel es ihn ‚kostet‘, das zu unterlassen. Acht Milliarden Mark an Familienförderung, mußte die damalige Jugendministerin Angela Merkel zugeben, flössen als Prämie für Kinderlosigkeit an Herren mit Haushälterin-Gattin. Kinderlose Rentner ließen sich durch Familien mit 160 Milliarden Mark im Jahr subventionieren, dozierte der Soziologe Wolfgang Borchert, die Förderung der Familien würde im übrigen von diesen über die Steuer selbst aufgebracht. Vom Ausbluten der Familien war die Rede – und davon, daß über zwei Millionen Kinder unter der Armutsgrenze leben. Wirklich erschreckend war die Reaktion auf diese Zahlen: offene Häme. ‚Wer Kinder hat, ist selber blöd!‘ Auf diese Pointe brachte es beispielsweise eine Dame in einer der verbissenen Diskussionen des Jahres – eine Ärztin, die sich für einen pflegeleichten Anhang der Marke Porsche entschieden hatte.“

Wir schreiben das Jahr 2022. Der Abdruck dieses Leitartikels liegt also 28 Jahre zurück. Damals waren unsere Kinder fünf und sieben Jahre alt; meine Nichten waren fünf und acht Jahre alt – vier heute erwachsen Frauen. Drei haben sich für Kinder entschieden bzw. würden gerne Kinder haben. Unsere vierte im Bunde, leidenschaftliche Tante, aber entschieden kinderlos, wird heute Abend bei Markus Lanz – als inzwischen profilierte Journalistin – unter anderem das Erbe von Susanne Mayer verwalten.

Hier geht es zum zwölften Türchen (12)

   
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