Die fabelhaften Jammer-Boys - Harald Welzer und Richard David Precht im ZEIT-Interview
Das Foto sowie den Abdruck des Interviews auf Seite 10 (ZEIT 39/22) werden Harald Welzer und Richard David Precht autorisiert haben. Dass sie auf dem Foto daherkommen wie die fabelhaften Jammer-Boys, mag manchem aufmerksamen Beobachter so vorkommen; offenbaren doch Körpersprache und (insbesondere die Mimik) der Protagonisten ein hohes Maß an kränkungsauslösenden Kontextwahrnehmungen auf Seiten Prechts und Welzers: zwei Jungs, die gleichermaßen enttäuscht und beleidigt ihre Schäufelchen aus dem Sandkasten eines einseitigen Medienzirkus zu retten versuchen. Warum?
Zunächst kurz zu meiner Beziehung zu den beiden Hauptprotagonisten: Als 52er Jahrgang bin ich älter als die beiden: Harald Welzer begleitet mich seit vielen Jahren sowohl mit Blick auf meine Eltern- das heißt Kriegsgeneration als auch auf meine EnkelInnen. Die von ihm gemeinsam mit Sönke Neitzel vorgelegten Studien zum Referenzrahmen des Handelns deutscher Soldaten im zweiten Weltkrieg (Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben – Frankfurt 2011) haben Maßstäbe gesetzt für ein grundlegendes Verständnis von „Kriegswahrnehmung von Soldaten in historischer Echtzeit“. Seine seit 2002 publizierte Studie zum kommunikativen Gedächtnis (Eine Theorie der Erinnerung, erschienen in der Beck’schen Reihe) gibt mir bis heute Gelegenheit und Einsicht in den Aufbau dessen, was wir „autobiographisches Gedächtnis“ nennen. Welzers Publikationen stehen allesamt in meiner Handbibliothek, hochgeschätzt und vielgenutzt – so wie zuletzt „Nachruf auf mich selbst“ (Frankfurt 2021). Dort schreibt er auf Seite 22: „Auch heute noch, mindestens ein Jahrzehnt später (es geht um klimapolitische Eckpfeiler, Verf.), bin ich der Auffassung, dass die Möglichkeit, Zukunft zu gestalten, davon abhängt, die Bedingungen dafür realistisch zu betrachten, also nicht nur von dem Wunsch getrieben, dass das doch bitte irgendwie gutgehen möge, trotz aller Daten, die dagegensprechen.“ (Zu Richard David Precht nur so viel, dass ich ihn meinen Töchtern immer wieder nahegelegt habe, um einen populärwissenschaftlichen Zugang zur Philosophiegeschichte zu finden).
Nun zwingen mich die beiden meinen Leserbrief – in Analogie – mit dem Titel Die fabelhaften Jammer-Boys! zu versehen. Warum? Es gibt schlagende Indizien, dass beide in den aktuellen Auseinandersetzungen die Bodenhaftung verlieren. Auf einen Nachweis, der mich persönlich – insbesondere auf die ansonsten souveräne Haltung Welzers – schmerzt, möchte ich mich im Folgenden konzentrieren:
- Welzer spricht von einer „extrem personalisierten Berichterstattung“, einer „wachsenden Erregungskultur“ und einer „großen Einhelligkeit der veröffentlichten Meinung“. Und er beklagt einen zunehmenden „Grad der Dekontextualisierung“. Precht spricht von „Cursor-Jorunalismus“ und meint damit, die Neigung von Journalisten „immer auf der richtigen Seite stehen zu wollen“.
- So weit, so gut! Peinlich wird es, wenn Richard David Precht – vermutlich nolens volens (obwohl er ja das Interview in seinem Wortlaut autorisiert und zum Abdruck freigegeben hat) – die Situation des Exzellenz-Clusters mit Blick auf die veröffentliche Meinung (das sind die mehrere Dutzend Akteure, die die Lizenz erworben haben im veröffentlichen Diskurs immer wieder vor einem Millionenpublikum ihre Weltsicht und –deutung vertreten zu dürfen – Welzer und Precht gehören dazu!) sich mit der Etikettierung „Cursor-Journalismus“ zu folgender Aussage hinreißen lässt: „Cursor-Journalismus heißt: Immer auf der richtigen Seite stehen zu wollen – der Seite, die unter Kollegen und in den sozialen Netzwerken Punkte bringt. Immer situativ die richtige moralische Position einzunehmen, mit äußerst flexiblen Grundsätzen. MAN DENKT AN SEINE KOLLEGEN, KENNT DEREN DENKEN, WILL DEREN LOB UND RICHTET SICH AN DENEN AUS. MAN EMPFINDET SIE ALS DAS EIGENTLICHE PUBLIKUM. MAN VERGISST, DASS DAS ECHTE PUBLIKUM DA DRAUßEN VIEL DIVERSER IST.“
Ja, lieber Richard David Precht, es ist dieser Sprachgestus, der nicht nur mit Blick auf die Profis in den Medien entlarvend sein mag, auch Welzer und Precht agieren offensichtlich mit einem Selbstbild, das ein „Drinnen“ und ein „Draußen“ unterscheidet. Ihr seid drin, ich bin draußen (kann mir nicht einmal sicher sein, dass mein Leserbrief überhaupt abgedruckt bzw. wahrgenommen wird). Und hier liegt natürlich der Hase im Pfeffer: „WISSEN SIE, WIE HART ES IST, IN EINER TALKSHOW GEGEN DIESE WAND ANZUREDEN?“ Mit dieser Jammerhaltung begründet Richard David Precht in der von ihm konstruierten Auseinandersetzung, dass er gegen die Phalanx der Befürworter von Lieferungen schwerer Waffen in die Ukraine – mit wenigen anderen – alleine auf weiter Flur stehe.
Nun halten Alexander Cammann und Martin Machowecz dagegen, ob es denn nicht plausibel sei, dass Journalisten, die sich mit Außenpolitik auskennten, aus guten Gründen zu ähnlichen Urteilen kämen?
„Bislang gibt es keinen konstruktiven Vorschlag, wie Russland sonst dazu gebracht werden kann, den Krieg aufzugeben?“ Harald Welzer wendet ein, begründungspflichtig seien nur „die Abweichler, nicht der medial behauptete Mainstream – das ist fatal. Der Abweichler wird gedisst – warum?"
Einmal abgesehen davon, dass auch Harald Welzer auf hohem Niveau in Prechts Jammergesang einstimmt, gibt es darauf vielleicht nur eine plausible Antwort. Kathrin Eigendorf und die anderen, die aus der Ukraine unmittelbar berichten, belegen glaubwürdig – so sehen es zumindest viele Bürger „da draußen“ –, dass die Russen heute an der polnischen Grenze stünden, hätte man die Urkraine nicht in ihrem legitimen und auch rechtmäßigen Abwehrkampf unterstützt (letzteres: die Legitimität des Widerstands gegen einen Völkerrecht missachtenden Aggressor bestreiten auch Welzer, Precht und andere nicht). Wie sehr auch in öffentlichen Sendeformaten beispielweise ein Pro und Contra schwerer Waffenlieferungen auf faire Weise inszeniert wird, belegte zuletzt die Disputation zwischen Norbert Röttgen und Wolfgang Merkel im Sendeformat „Unter den Linden“.
Ich selbst – ICH SELBST – ich höchst selbst (wer sonst), meint Richard David Precht, war der einzige Kontrahent, der jemals in einer deutschen Talkshow (nämlich im Disput mit Markus Lanz) ein Sendeformat mitgestaltet hat, bei dem „Befürworter von Waffenlieferungen und Zweifler daran gleichmäßig besetzt waren.“ Precht bringt sich mit seiner Hybris und seiner maßlosen Selbstüberschätzung um das Renommee, das er sich erworben hat. Gewiss haben wir es insgesamt – vielleicht auf unvermeidbare Weise – mit einem abgehobenen Journalismus zu tun, der – zumindest in Deutschland in vielfältigen Formen und Profilen eine seriöse, höchst professionelle Arbeit leistet. Richard David Precht und Harald Welzer belegen mit ihrem Interview (und generell mit ihrer Omnipräsenz im Medienzirkus), dass sie einem inneren Zirkel angehören, der jede Chance nutzt, in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung einzugreifen.
Zum Schluss: Beworben wurde die am 28. September im S. Fischer Verlag erscheinende, von Welzer und Precht zu verantwortende Streitschrift: Die vierte Gewalt mit einer Vorankündigung, die den Begriff der Selbstgleichschaltung verwendet. Die ZEIT-Redakteure stellen beiden die Frage: „Wieso haben Sie dieses Wort benutzt? Sie wissen, dass das Assoziationen an die NS-Zeit weckt.“ Und Welzer reagiert eben so, wie ein deutscher Professor reagiert: „Das ist überhaupt nicht unser Diskursraum“ und fügt hinzu: „An der Änderung (Verzicht auf diese Begriffsverirrung, Verf.) sehen Sie doch, wie kritikfähig wir sind…“
Im gesamten Diskurs um die russische Aggression hat es (und ich räume ein, diese Einschätzung entspricht meiner beschränkten Wahrnehmung) aus dem Zirkel der „Aufmerksamkeitsprofis“ bislang niemand für notwendig gehalten, in der von Heinrich August Winkler (und vielen anderen) hergestellten Analogie zwischen der nationalsozialistischen Vorgehensweise (Münchner Abkommen) und der russischen Vorgehensweise einmal Carl Schmitts 1932 platzierte Publikation „Der Begriff des Politischen“ (bei Duncker & Hublot – Berlin 2002 in der siebten Auflage) zu bemühen. Dort wird auf 124 Seiten – jenseits aller demokratischen Errungenschaften im Sinne beispielsweise der Fraenkelschen Pluralismustheorie – als einzige „spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich politische Handlungen und Motive zurückführen lassen", die Unterscheidung von Freund und Feind genannt. Carl Schmitt schreibt auf Seite 27:
„Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensistätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen [...]Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann sogar wirtschaftlich vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ Dritten und daher ‚unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können.“
Ich möchte von Herrn Welzer, von Herrn Precht, von Herrn Merkel und den vielen anderen wissen, ob man zumindest bereit ist, die ideologischen Grundlagen des russischen Vorgehens unter Putin – um mit Harald Welzer zu sprechen – in ihrem „historischen Referenzrahmen“ zu sehen und zu bewerten? Putins Vorgehen hält sich radikal an Carl Schmitts Definition. In der Folge muss uns deutlich werden, dass man jemanden, der sich bewusst und kategorisch jenseits des Rechts bewegt, eben nicht so ohne Weiteres an den Verhandlungstisch zwingen kann:
„Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen (Carl Schmitt, a.a.O., S. 28).“
Es ist bitter, dass ein deutscher Verfassungsjurist und Staatsrechtler der übelsten Sorte der russischen Gegenwartspolitik die ideologischen Grundlagen liefert - Grundlagen, die in unserem Denken und in unserem Wertehorizont jene rote Linie markieren, die das Deutschland der Nazis vom Deutschland Konrad Adenauers, Carlo Schmids, Willy Brandts, Helmut Kohls, Friedrich Merzens und Olaf Scholzens - von unserem heutigen Deutschland so fundamental unterscheidet.
Und im Übrigen:
Wer - lieber Richard David Precht - "gesinnungsethische Entfesselung" in seiner radikalsten Ausformung beobachten will, der muss in erster Linie in das Russland Wladimir Putins schauen. Im Wikipedia-Beitrag wird Gesinnungsethik im Sinne Max Webers als eine Haltung definiert, die Handlungen nach der Handlungsabsicht und der Realisierung eigener Werte und Prinzipien bewertet, und zwar ungeachtet der nach erfolgter Handlung möglicherweise eintretenden Handlungsfolgen. Es erscheint höchst begrüßenswert, dass zu den eintretenden - und so sicher nicht gesehenen -Handlungsfolgen die Fluchtbewegungen vieler Männer steht, die nunmehr im Zuge der sogenannten Teilmobilmachung endlich erkennen lassen, dass das russische Volk nicht bedingungslos hinter dem Irrsinn Putins steht; dies gilt gleichermaßen für die Frauen - Mütter und Ehefrauen -, die gleichermaßen beginnen sich einer terroristischen Staatsmacht entgegenzustellen.