Bad Breisig 5. Juni 2022
Meiner Schwester zum Achtzigsten
Liebe Ulla, die Umstände, die vor 80 Jahren zu Deinem Erscheinen auf dieser Welt beigetragen haben, sind bemerkenswert. Ich möchte sie hier nicht näher ausführen. Das habe ich an anderer Stelle getan. Auf die Erwähnung eines ganz besonderen Glücksfalls – im Rückblick leuchtet er fast wie ein Solitär– möchte ich allerdings schon hinweisen. Ohne diesen besonderen Umstand wäre unsere Ulla nicht unsere Ulla. Und ich bin froh mit meiner Cousine Gaby jemanden heute hier zu haben, der das, was ich nun sagen werde, wie kaum jemand anderer mit bezeugen kann. Das hängt im Übrigen damit zusammen, dass wir – Ulla, Gaby und ich – uns nie aus den Augen verloren haben.
Ullas und meine Mutter (und die Mutter Willis – unseres Bruders) hatte es nicht leicht. Sie bewegte sich während ihrer Schwangerschaft und auch nach der Geburt Ullas in einem toxischen Umfeld; ein belastetes familiäres Umfeld und eine vergiftete Nachbarschaft. Die einzige vollkommene Ausnahme von einem, in christlicher Lauterkeit geführten Ausgrenzungsfeldzug zeigte sich ausgerechnet in Gestalt des Nachbarsohnes Theo. Er allein begann – vor allem auch gegen die eigene Mutter – schon früh seinen eigenen Feldzug zur Eroberung einer uneinnehmbar erscheinenden Festung. Diese Festung erwies sich vor allem deshalb als so sperrig, weil es zur Entfernung der Trümmer, die sich da angehäuft hatten, kein geeignetes Werkzeug gab. Der Schreiber dieser Zeilen spricht andernorts von dem dicken Brett, das sein Vater, Theo Witsch, über viele Jahre gebohrt hat. Seine unendliche Geduld und Ausdauer führte gut sechs Jahre nach der Geburt Ullas zur Heirat von Hilde und Theo – im Spätsommer 1948. Da musste sich die kleine Ursula – kurz nach der Einschulung – nicht mehr auf einen vollkommen fremden Mann einstellen, der zwar nicht ihr Vater war, der aber offenkundig schon lange vor der Heirat sein Herz geöffnet hatte für ein Mädchen, das er dann an Vaters Stelle annahm, und dem er – dafür gibt es keine beredtere Zeugin als jenes Mädchen selbst – ein über die Maßen geliebter (Stief-)Vater wurde.
Das erscheint heute wie ein Wunder, über das ich gerne Zeugnis ablege, handelt es sich doch – bedenkt man den Zeitgeist – um eine ungewöhnliche Integrationsleistung eines 1922 geborenen Mannes. Auch er – der nur eineinhalb Jahre ältere Nachbarssohn hatte natürlich keinen Zugang zu dem, was sich in den späten August- und frühen Septembertagen 1941 in Bad Neuenahr zugetragen hatte und ihm schon eine Vaterschaft bescherte, bevor ihm eigene Kinder geboren wurden.
Ich habe mich mein Erwachsenenleben lang mit der Frage auseinandergesetzt, was man wohl als zuträgliche Bedingungen für einen nachhaltigen positiven Start in sein eigenes Leben betrachten kann. Neben den Schlüsselkategorien Geborgenheit und Zugehörigkeit konnte ich die Idee der bedingungslosen Liebe vor allem in Gestalt stetiger liebevoller Zugewandtheit nicht nur in der Theorie als notwendige Bedingungen ausmachen, sondern sie entsprachen auch vollkommen den Erfahrungen in der eigenen Familie. So hatten die beiden Brüder stets guten Wind im Rücken. Die Schwester hingegen stand primär unter dem Schutzpatronat ihres Stiefvaters, von dem die Brüder erst spät begriffen, dass er nicht Ursulas leiblicher Vater war bzw. sein konnte. So hatten das Familiengeheimnis und das damit verbundene Tabu durchaus auch positive Seiten:
In der Gestalt der Schwester – immerhin zehn bzw. fast vierzehn Jahre älter als ihre Brüder – wuchs eine starke, widerborstige, eigensinnige Persönlichkeit heran, die über ein außerordentliches Maß an Widerstandskraft – heute spricht man von Resilienz – verfügt. Wer früh um Status und Anerkennung kämpfen muss, ist in seinem Leben eigentlich zu fortgesetztem und möglicherweise auch finalem Scheitern prädestiniert. Dass die Schwester standhielt, nie resignierte und immer – bei allen Rückschlägen und Widrigkeiten – Lebenswillen bewies und Lebenslust sich gestattete, macht sie bis heute zu einem besonderen und außergewöhnlichen Menschen!
Bei aller – auch aus der Not gewachsenen - selbstbezogenen und kämpferischen Ausrichtung der eigenen Lebensenergie – und ziele lässt sich gleichzeitig ein gediegenes Maß an Verantwortung für ihr Umfeld erkennen – dies umso ausgeprägter, je älter sie wird; unglaublich angesichts der frühen soziologischen Definition von Benachteiligung: katholisch, ländlich, weiblich – so definierte ein Kölner Soziologe in den 50er Jahren die Situation katholischer Mädchen auf dem Lande, zumal im erzkatholischen Rheinland! So lernen wir eminent praktisch und aus Erfahrung heraus den gravierenden Unterschied zwischen formaler Bildung und Herzensbildung.
Am 24. April 1988 – im Alter von 65 Jahren – starb Theo – unser Vater – innerhalb einer Woche an den akuten Folgen eines Herzinfarkts. Zehn Tage zuvor hatte die Familie Theos 65sten Geburtstag in Bad Bodendorf noch groß gefeiert – den Vater auf gutem Wege wähnend. Die Feier ist allein aus einem einzigen Grund besonders zu erwähnen, weil dem Schreiber dieser Zeilen Jahre später beim Anschauen eines Videomitschnitts auffiel, dass zu diesem Festakt keiner der Söhne das Wort genommen hatte, sondern dass die Schwester die Laudatio hielt und dies in beeindruckender Bestätigung des Bekenntnisses, sich keinen besseren Vater vorstellen zu können. Jahrzehnte nach dieser Geburtstagsfeier wirkte dieses Bekenntnis noch einmal wie die verdrängte Bestätigung eines filigranen sozialen Gebildes, in dem der Vater auf unmissverständliche, gleichwohl diskrete Weise der entscheidende Integrationsmotor war.
Dies ist sicherlich umso bedeutsamer, als nach dem Tode Theos die Tochter – zuerst zaghaft, dann aber konsequent und rückhaltlos – damit begann die Frage nach ihrer (väterlichen) Herkunft zu stellen. So klar die Umstände ihrer Herkunft inzwischen vollständig auf dem Tisch liegen, so unverbrüchlich war die Liebe und die Zuneigung zu ihrem Stiefvater. So schließe ich heute diese Hommage an meine Schwester und unseren Vater mit der Gewissheit, dass in Ulla – trotz genetischer Fremdheit – die besten Seiten unseres Vaters weiterleben.
Ich danke meiner Schwester – heute an ihrem 80. Geburtstag – ausdrücklich für ihre Hartnäckigkeit. Ich tue das abschließend mit den Worten Christiane Hoffmanns (heute Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung und lange Jahre Auslandskorrespondentin in Moskau), die in ihrem kürzlich erschienen Buch: Alles, was wir nicht erinnern wider das Vergessen anschreibt. Sie dankt nämlich Ihrem Mann, einem Schweizer, für – ich zitiere – „sein unermüdliches Interesse an meiner Familiengeschichte. Es ist alles andere als selbstverständlich für einen Schweizer, dem die Brüche der deutschen Geschichte fremd sind. Ich danke ihm für viele Lektüren, beständige Ermunterung und die nie nachlassende Begeisterung für die ewigen alten Geschichten.“
Das Interesse für die ewigen alten Geschichten verbindet uns beide – Dich
und mich – auf besondere und auf besonders intensive Weise!
Bitte erhebt mit mir das Glas auf diese besondere, ungewöhnliche Frau, die ihren ganz eigenen Weg durch eine bunte, aber für sie auch immer steinige Welt genommen hat. Auf dass sie ihn – ihren Weg – auf diese Weise noch viele Jahre gehen möge!