Was schulden wir unseren Eltern?
Was schulden wir unseren Eltern? Unsere Eltern sind tot. Also stellt sich die Frage nuanciert anders: Sind wir unseren Eltern etwas schuldig geblieben? Stefanie Flamm – ZEIT-Autorin – erweitert die Fragestellung in ihrem Beitrag um die brisante Zuspitzung, ob wir unseren Eltern überhaupt etwas schulden?
„Was schulden wir unseren Eltern? Vielleicht erst mal die Erkenntnis, dass das Alter für die meisten Eltern ein noch viel größerer Mist ist als für uns. Dass auch Sie in dieser Lebensphase, in der sie von umschmeichelten Silver-Agern zu Greisen werden, auf keinerlei Vorbilder mehr zurückgreifen können.
Denn das scheint ja die Situation zu sein: Wir nehmen gemeinsam an einem groß angelegten Feldversuch zum Altern im 21. Jahrhundert teil, bei dem alle Beteiligten Schwierigkeiten haben, ihre Rolle zu finden.“ Situationsbeschreibungen dieser Art motivieren Stefanie Flamm in ihrem ZEIT-Beitrag „Was schulden wir unseren Eltern (ZEIT 19/22, Seite 64/65) zu einer Auseinandersetzung mit drängenden Fragen im intergenerativen Zusammenleben.
Für mich ist damit eines der Schlüsselthemen in „Kurz vor Schluss – Teil II“ verbunden. „Kurz vor Schluss – Teil I“ ist 2017 erschienen. Die Fortsetzung ist zugleich mutiger, tapferer und herausfordernder insofern, als inzwischen die letzte Ahne – meine Schwiegermutter – 2020 im Alter von fast 97 Jahren verstorben ist. Da kann und muss man sich zumindest rückblickend fragen, an welchem „gerontologischen Modell“ man sich orientiert hat? Selbstredend spitzt sich die oben gestellte Frage grundsätzlich in die Richtung zu, ob man möglicherweise etwas schuldig geblieben ist? Stefanie Flamm zitiert aus einem Modell, das einen Übergang von der „filialen Krise“ in die „filiale Reife“ in Aussicht stellt:
„Kinder schaffen es, mit ihre Eltern gelassen auf die ‚‘hellen und dunklen Seiten der gemeinsamen Geschichte‘ zurückzublicken und ihr Verhältnis so auf ein erwachsenes, Kruse sagt: ‚wahrhaftiges‘ Niveau zu heben. Das klingt ein bisschen utopisch, wenn man einen Vater hat, dem gerne mal die Hörgeräte herausfallen, sobald etwas Unangenehmes zur Sprache kommt. Dann fragt die Mutter: ‚Will noch jemand Nachtisch?‘.“
Die Utopie hatte bei uns einen Ort gefunden. Über mehr als zwanzig Jahre – mit dem Einstieg ins 21. Jahrhundert – war unser Leben sowohl von der Fürsorge für die Kinder als auch von der Sorge und der Betreuung der Eltern geprägt. Nun bin ich selbst siebzig und meine Frau bald 66. Wir hatten früh begriffen, dass Eltern eben nicht mehr die Alten sind. Es ging nicht nur um die praktischen Dinge, die allenthalben zu klären sind. Auch bei uns war irgendwann die Frage zu beantworten, wie erklären wir der Mama/Schwiegermama, dass ihre Zukunft im Heim ist – immerhin bis zum 92sten im eigenen Haus. Wir hatten ja über viele Jahre die Betreuung organisiert – zuerst im Hause der (Schwieger-)Eltern, wo wir bis 2010 auch den Schwiegervater gepflegt haben. Die eineinhalb Jahre der (Schwieger-)Mutter bei uns zu Hause waren geprägt von einem zunehmenden Scheitern. Die Erlösung kam unverhofft durch einen notwendigen Klinikaufenthalt, die anschließende Kurzzeitpflege und letztlich den Verbleib im örtlichen Altenheim. Für mich – als Schwiegersohn - war es die beste Zeit ganz im Sinne einer angemessenen Betreuung. Vieles gelang und wurde möglich, was im häuslichen Miteinander zunehmend scheiterte. Und nun schreibt Stefanie Flamm schon an unsere Adresse gerichtet – nicht mehr als Betreuende und Versorgende, sondern als diejenigen, die nun vorrücken im intergenerativen Zusammenspiel. Und in der Tat: Seit 2019 sind wir Großeltern und versuchen diese neue Rolle zu gestalten:
Stefanie Flamm schreibt: „Die Rollen zwischen den Generationen verändern sich noch einmal grundlegend. Denn Eltern, die Hilfe benötigen, sind keine Gegner mehr, von denen man sich abgrenzen muss. Und ihre Kinder sind in der Regel auch alt genug, um zu wissen, dass sie selbst einmal auf ein Leben zurückschauen werden, in dem ihnen manches gelungen ist, anderes nicht, in dem sie viele Fehler gemacht haben, auch in Bezug auf die eigenen Kinder. ‚Da sind dann Heilungen möglich, an die niemand mehr geglaubt hat.‘“
Die worst-case-Szenarien, die von Stefanie Flamm eingearbeitet werden, haben in unseren Herkunftsfamilien bzw. in meiner Gegenwartsfamilie – vor allem auch im intergenerativen Zusammenspiel zwischen uns als Kindern und unseren Eltern – keine Rolle gespielt. Andreas Kruse, Gerontologe und Mitglied des Deutschen Ethikrats, beschreibt hingegen Endzeit-Szenarien, die Schreckensbildern gleichkommen:
„Schweigen an Weihnachten, schweigen am Pflegebett, schweigen am Totenbett und dann die Erkenntnis: ‚Jetzt ist es zu spät.‘“ Dazu passt die Geschichte einer Mandantin, die ihren Rechtsanwalt (Klatt) – Beistand in einem Prozess um Unterhalt (für die Mutter) – anruft und das Gespräch mit dem Hinweis eröffnet: 'Herr Klatt, mein Mann und ich haben gerade eine Flasche Champagner aufgemacht. Es gibt etwas zu feiern. Meine Mutter ist endlich gestorben.'“
Diese Argumentationslinie hat es bis in die Bestseller-Literatur geschafft – in Gestalt der Publikation der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch, die ihre Veröffentlichung mit dem Titel versieht Warum wir unseren Eltern nichts schulden. Dementsprechend – etwas abgemilderter und differenzierter argumentiert die Therapeutin Anke Lingnau-Carduck, indem sie lapidar darauf hinweist: „Was eine gute Tochter, ein guter Sohn ist, das können nur Sie entscheiden!“
Bleibt man nüchtern und setzt jede rosarote Brille ab, kann man sicherlich Stefanie Flamm grundsätzlich beipflichten, wenn sie mit Anke Lingnau- Carduck meint, irgendwas fehle in jeder Familie, irgendetwas liege überall im Argen. Andererseits könne man – so Stefanie Flamm – darauf vertrauen, dass das Band zu den Eltern nie ganz reiße. Dazu ist allerdings der Hinweis unabdingbar, dass man es besser getroffen haben müsse als die Mandanten des Rechtsbeistands Klatt:
„Denn Eltern, die in ihrer Rolle nicht völlig versagt haben, blieben für immer die Menschen, die für uns da waren, in den ersten Jahren, als wir noch nichts konnten, die uns Essen, Trost und Wärme gaben, die elementaren Dinge beibrachten. Und aus dieser Bindung, die meist stärker sei als alles, was danach schief lief, ergebe sich am Ende, wenn die Zeit einem davon rennt, das ‚zutiefst menschliche Bedürfnis‘, den Eltern etwas zurückzugeben.“
Das bietet wieder einmal Gelegenheit, in Gestalt des nüchternen Soziologen Karl Otto Hondrich jemanden zu bemühen, der kurz vor seinem Tod – gewissermaßen als Vermächtnis – so ganz abrückt von einer neutralen Beobachterposition und um die Begriffe Bindung - Geborgenheit – Zugehörigkeit und Entschiedenheit einen Kokon menschlicher Grundbedürfnisse webt, dessen Fehlen in der Regel die fatalen Konsequenzen hervorbringt, die aus entsprechenden Mangelsituationen resultieren. Was damit gemeint ist, deutet Stefanie Flamm in der Wiedergabe des Verhältnisses einer Freundin zu ihrer Mutter an:
„Meine Freundin, eine erfolgreiche Wissenschaftlerin übrigens, musste weitaus älter werden (als Franz Kafka (als er seinen berühmten Brief an den Vater schrieb), um eine Ahnung davon zu bekommen, warum die Mutter ihr nicht mit so viel Liebe begegnen konnte wie ihren Schwestern. War sie, die dritte Tochter, eigentlich gar nicht mehr erwünscht? Hat sie die Ehe der Eltern zerstört oder die Mutter an jemanden erinnert, der ihr einmal sehr wehgetan hat? Mit 50 beschreibt sie das Verhältnis so: ‚Ich wahre die Form.‘ Besuche an Weihnachten, Einladungen zu den Geburtstagen der Kinder. Mehr sei von ihr nicht zu erwarten.“
Mir läuft es eiskalt über den Rücken, wenn ich mir aus dem Blickwinkel der Schlüsselkategorien Karl Otto Hondrichs die hier geschilderte beziehungsstiftende und –prägende (Dauer-)Atmosphäre vorstelle; familiendynamisch öffnet sich hier ein Mienenfeld, das ich mir vor allem für die Enkelkinder nicht vorstellen mag (zu deren Geburtstagen – ebenso wie zu Weihnachten eingeladen, also – „die Form gewahrt“ wird). In meinem derzeitigen Projekt – Kurz vor Schluss, Teil II – wiederhole ich mehrfach, weil es der Kontext nahelegt, ein Zwischenresümee, das aus der Beobachtung so vieler Familiendynamiken resultiert. Niemand sollte sich der Suggestion aussetzen, dass man – auch wenn man der Familie den Rücken gekehrt hat – nicht weiterhin teilhat an den innerfamiliären Dynamiken:
"Die heute alltäglichen Konstellationen von Familiengeschichten enthalten zuhauf jene Zutaten, die sich auch rückblickend nicht mehr zur Zubereitung eines schmackhaften Menüs oder auch nur einer Notspeisung eignen. Und der ein oder andere mag dann vielleicht ins Grübeln geraten: So vielen bist Du gleichgültig, und so viele sind Dir gleichgültig geworden. Beziehungen sind flüchtig, waren immer nur Episoden und dort, wo sie Generativität nicht verhindern konnten, hast Du Deine Kinder (und Enkel) aus den Augen verloren. Du bist ihnen fremd, und sie sind dir fremd. Irgendwann beginnen Deine Enkel zu fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, wer ist uns vorausgegangen? Und wer mag uns antworten?"
Ist man selbst alt – erlebt die Welt sozusagen Kurz vor Schluss – vermag ich mir keine Bitterkeit vorzustellen, die mich (auf dem Sterbebett) mehr grämen würde, als auf die Frage der Enkel: „Wer mag uns antworten?“ wortlos aus dem Feld zu gehen. Vor allem darin beruht meine ganz persönliche Legitimation – eher in Gestalt einer Verpflichtung – das mir Mögliche aufzuschreiben; in keiner Weise aufrechnend oder abwertend, sondern bemüht um das, was man den zeitgeschichtlichen Referenzrahmen nennt. Allein dieses Bemühen vermag uns ansatzweise davor zu schützen, die Welt zu betrachten aus einer Perspektive der Hybris gepaart mit moralischer Überlegenheit!