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Der Freiheitskampf der UkrainerInnen

„Dass die Ukrainer heute mit so großer Zähigkeit um ihre Unabhängigkeit kämpfen, hat auch mit diesen historischen Traumata zu tun. Noch einmal wollen sie nicht auf dem Amboss eines Imperialisten zermalmt werden.“

Mit diesem Satz endet Hauke Friederichs kurze Erinnerung an Fritz Hartnagel, der im Mai/Juni 1942 als Wehrmachtssoldat aus Mariupol/Ukraine Briefe an seine Freundin Sophie Scholl schreibt (ZEIT 12/22, S. 17). Noch im Lazarett in Lemberg (Lwiw/Ukraine) erfährt er, dass seine Freundin am 18. Februar 1943 verhaftet worden ist und nach einem Schnellverfahren sofort hingerichtet wurde.

In Saporoshje/Ukraine liegt der Vater meiner Schwester begraben. Er ist dort im September 1943 als Angehöriger des 33. Panzerregiments (9. Panzerdivision) gefallen und auf einem deutschen Soldatenfriedhof beigesetzt worden. Er gehörte – wie Millionen deutscher Wehrmachtssoldaten – zu den Besatzern Russlands und der Ukraine. Fritz Hartnagel schrieb aus Mariupol über seinen Kommandeur: „Es ist erschreckend, mit welcher Kaltschnäuzigkeit mein Kommandeur von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Rußlands erzählt hat und dabei von der Gerechtigkeit dieser Handlungsweise vollkommen überzeugt ist.“ Hauke Friederichs erwähnt selbstredend das Massaker von Babyn Jar bei Kiew: „Angehörige des Sonderkommandos 4a der SS-Einsatzgruppe C und zweier Polizeibataillone erschießen am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.700 Juden.“

Ein halbes Jahr später hält – wie angedeutet – Fritz Hartnagel seine Eindrücke fest und schreibt mehrere Briefe an Sophie Scholl. Das erste Flugblatt der Weißen Rose erscheint, noch während Fritz Hartnagel in der Ukraine im Einsatz ist. Die ergänzende Überschrift zu Hauke Friederichs Beitrag lautet:

„Putins Krieg gegen die Ukraine tobt auf den Schlachtfeldern von Hitlers Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion. Wie verheerend dieser die Ukraine traf, schildert der Offizier Fritz Hartnagel in Briefen an seine Freundin Sophie Scholl.“

Liest man diesen Beitrag aufmerksam – jenseits des persönlichen Bezugs zu den Auslassungen zu Fritz Hartnagel – wird überdeutlich, wie der letzte Satz aus Friederichs Beitrag seine besondere Logik und Spreng- und Überzeugungskraft gewinnt:

„Dem deutschen Kriegs- und Besatzungsterror war die sowjetische Zwangsherrschaft vorausgegangen: Anfang 1918, im Chaos des Weltkriegsendes, hatten die Ukrainer erstmals erfolgreich ihre Unabhängigkeit erklärt. Doch im Russischen Bürgerkrieg ging der junge Staat wieder unter und wurde zur Sowjetrepublik […] Nicht wenige Ukrainer hatten 1941 gehofft, dass die Deutschen sie von den Bolschewiki befreien würden. Mit Stalin verbanden sie nichts als Zwang, Hunger und Tod. Von 1929 an hatte der Diktator die Kollektivierung der Landwirtschaft erzwungen. Gut 200.000 Höfe lösten die Behörden in der Ukraine auf; Hundertausende Menschen wurden in den Osten der Sowjetunion deportiert […] 1932 kam es zu einer Hungersnot, die auch im Folgejahr noch andauerte. ‚Holomodor‘ taufte man diese Katastrophe später, der in der Ukraine mehr als 3,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. In ihrer Verzweiflung verspeisten die Hungernden Hunde, Katzen, Rinde und Baumwurzeln.“

Und Fritz Hartnagel bestätigt dieses ungeheure Ausmaß des Terrors von Seiten Stalins – unter gleichzeitiger Wahrnehmung des Terrorregimes, in dessen Diensten er steht. Er schreibt, wie grauenhaft es ist, was diese Menschen in der Ukraine leiden mussten und leiden an körperlichen und seelischen Nöten: Ein berichtet von einem Bauern, zu dem er persönlichen Kontakt hat:

„Er hatte zwei Kinder. Das eine ist 1933 verhungert und das andere ist im selben Jahr aus Brotneid erschossen worden, als er mit seiner Familie auf Wanderschaft war, um Essen zu suchen.“

Die Nazis zerschlagen in der Ukraine alle Bestrebungen nach einer Selbstverwaltung. Galizien wird dem Generalgouvernement (dem von Deutschen Reich besetzten Polen) zugeschlagen. Die Bukowina, Bessarabien und das Gebiet zwischen Dnjestra und Bug, in dem auch Odessa liegt, überlässt das NS-Regime dem rumänischen Verbündeten. Die Ausbeutung ist brutal und unterliegt der Generallinie des ausgerufenen Vernichtungskriegs:

„Besonders rücksichtslos werden das Donezbecken, die Nordostukraine und die Krim ausgebeutet. Das Land dient fortan als Kolonie. Getreide, Milch und Fleisch gehen an das Reich.“

Im August 1944 gewinnt die Rote Armee Lemberg, das heutige Lwiw zurück. Zwei Monate später stehen alle von Ukrainer bewohnten Gebiete unter sowjetischer Herrschaft. Hauke Friederichs zieht folgendes Resümee:

„Drei Jahre lang herrschte Krieg. Am Ende ist das Land weitgehend zerstört, viele Städte gleichen Ruinen. Bis zu sieben Millionen Menschen, schätzt der Ukraine-Kenner Andreas Kappeler, sind unter der deutschen Besatzung ums Leben gekommen, etwa ein Viertel der Bevölkerung. In der hiesigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg spielt die Ukraine, die uns in den vergangenen Wochen so nah gerückt ist, gleichwohl nur eine untergeordnete Rolle. Heute liegen Städte, wie Mariupol und Charkiw, aus denen vor 80 Jahren Fritz Hartnagel an Sophie Scholl schrieb, erneut in Trümmern. Einige der der älteren Ukrainerinnen und Ukrainer haben noch eigene Erinnerungen an die Jahre des Weltkriegs. Nicht minder tief haben sich die Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft ins kollektive Gedächtnis des Landes eingegraben.

Dass die Ukrainer heute mit so großer Zähigkeit um ihre Unabhängigkeit kämpfen, hat auch mit diesen historischen Traumata zu tun. Noch einmal wollen sie nicht auf dem Amboss eines Imperialisten zermalmt werden.“

Nachtrag: Der Beitrag wurde gestern mit ultraschneller Feder zusammengestellt. Ich wollte mich munitionieren für eine Argumentation, die in der Logik und Kontinuität des Widerstandsgedankens steht. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj wird nicht müde die Motive und die tiefe Überzeugung zu betonen, die die Ukrainer in ihrem Widerstand verbindet - im Übrigen auch viele Männer, die aus allen Regionen der Welt zu den Waffen eilen, wozu sie niemand zwingt, eben weil es ihre freie Entscheidung ist. Selenskyj wendet das deutsche Nie wieder - unsere defensive Haltung gegenüber einer klaren Parteinahme - zu recht gegen uns. Denn wir stehen in der Nachfolge jener, die mit ihrer gewaltsamen, terroristischen Heimsuchung  - gerade auch der Ukraine - schwerste Schuld auf sich geladen haben. Wie schwer diese Schuld wiegt, die sich für uns nur ummünzen lässt in eine geschichtsbewusste und verantwortliche Haltung, macht Hauke Friederichs noch einmal überdeutlich, indem er in aller Kürze aufzeigt, was aus den Freiheitshoffnungen der Ukrainer im Sommer 1941 geworden ist:

"Nachdem Anhänger der Oganisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) die Ukraine am 30. Juni 1941 in Lemberg für unabhängig erklärt hatten, nahmen die Deutschen die Anführer der Organisation fest; Stephan Bandera wurde ins KZ Sachsenhausen deportiert. Die Gleichung >Der Feind meines Feindes ist mein Freund< war, wie der Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler schreibt, für die OUN nicht aufgegangen. Die Ukrainer, befand Hitler im September 1941, seien >genauso faul, unorganisiert und nihilistisch-asiatisch wie die Großrussen<."

Das großformatige Foto auf Seite 17 der ZEIT (12/2022) zeigt Charkow (heute Charkiw) im Jahr 1942: Flüchtlinge vor einem zerstörten Hotel in der Innenstadt. Es weist bruchlos aus,  wie die von Hauke Friederichs aufgezeigten übergreifenden Zusammenhänge, dass Nazi-Deutschland im rassistisch und ideologisch geführten Vernichtungskrieg zwischen Russen und Ukrainern nicht den geringsten Unterschied gemacht haben. Um eine wesentliche Nuance perfider mag heute das Vorgehen Putins erscheinen, der brachial - und ohne jegliche Rücksicht auf die Zivilbevölkerung - ein Brudervolk erbarmungslos attackiert. Hängt man - wie Hans-Erdmann Schönbeck mit Blick auf Hitler den Wunschträumen und Phantasien an einen (leider gescheiterten) Tyrannenmord nach (Schönbeck spricht von seinem "zweiten Stalingrad"), so mag man Wladimir Putin Pest und Teufel an den Hals wünschen. Ich hänge aus diesen niedrigen Beweggründen auch hier noch einmal die bereits bemühte Passage aus  dem ersten Flugblatt der Weißen Rose an. In Erinnerung an alle Mitglieder der Weißen Rose und in Respekt vor jenen, die Putin die Stirn (hier stellvertretend Marina Owsjannikowa) zeigen:

Auszüge aus dem ersten Flugblatt der Weißen Rose (Juni/Juli 1942):
(lediglich die Begriffe >Deutsche<, >Deutsches Volk< sind durch die Begriffe >Russen< bzw. >russisches Volk< ersetzt worden)

"Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique 'regieren' zu lassen. Ist es nicht so, daß sich jeder ehrliche Russe heute seiner Regierung schämt, und wer von uns ahnt das Ausmaß der Schmach, die über uns und unsere Kinder kommen wird, wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist und die grauenvollsten und jegliches Maß unendlich überschreitenden Verbrechen ans Tageslicht treten? Wenn das russische Volk schon so in seinem tiefsten Wesen korrumpiert und zerfallen ist, daß es, ohne eine Hand zu regen, im leichtsinnigen Vertrauen auf eine fragwürdige Gesetzmäßigkeit der Geschichte das Höchste, das ein Mensch besitzt und das ihn über jede andere Kreatur erhöht, nämlich den freien Willen, preisgibt, die Freiheit des Menschen preisgibt, selbst mit einzugreifen in das Rad der Geschichte und es seiner vernünftigen Entscheidung unterzuordnen - wenn die Russen, so jeder Individualität bar, schon so sehr zur geistlosen und feigen Masse geworden sind, dann, ja dann verdienen sie den Untergang [...] Wenn jeder wartet, bis der Andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättlichen Dämons geworfen sein. Daher muss jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewusst in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geissel der Menschenheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand - Widerstand -, wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist. Vergeßt nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt!" 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund