Die Zeit für absolutistisch regierende Sonnenkönige läuft ab – auch in Russland
Navid Kermani hat in der aktuellen ZEIT (9/22, Seite 47/48) unter dem Titel Putins Attacke und die Schwäche des Westens präzise dargelegt, in welchen Hinsichten der Westen in den letzten 30 Jahren versagt und Schwächen offenbart hat, die von autokratischen Regimen genutzt werden, um geopolitisch-strategisch und vor allem auch militärisch eine ohnehin fragile Weltordnung zur Disposition zu stellen. Die Analyse scheint präzise und in ihren zentralen Argumenten kaum angreifbar. Auch seinem generalisierenden Resümee, dass die Vereinigten Staaten weiter denn je davon entfernt seien, die Kraft des Guten zu sein, die das Böse überall auf der Welt bekämpft, mag man kaum stichhaltige Einwände entgegenzusetzen. Im Gegenteil lässt sich insbesondere im Nahen Osten überdeutlich zeigen, wie die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik Verhältnisse geschaffen hat, die uns heute gewaltig auf die Füße fallen.
Mich persönlich interessiert im Zusammenhang mit einer Gesamtbeurteilung eher etwas anderes, wovon ich kaum für möglich gehalten hätte, dass es im 21. Jahrhundert einen realen Möglichkeitsraum markieren könnte: Wladimir Putin spricht in seiner Kriegserklärung an die Ukraine (und mit einer Stillhalten einfordernden Drohgebärde dem gesamten freien Westen gegenüber) von seiner Mission die Ukraine „entnazifizieren“ zu müssen! Jetzt schauen wir einmal genau hin, was die Stärke der russischen Autokratie unter Führung Putins ausmacht und was mit der vermeintlichen Schwäche des Westens gemeint sein könnte:
Putin hat nicht nur die entsprechenden Narrative von der Bedrohung durch die Osterweiterung der NATO oder eines faschistischen Regimes in der Ukraine (das angeblich die Schuld eines Genozids im Donbass auf sich geladen habe) in der russischen Öffentlichkeit verankert (wobei diese Narrative auch in den sozialen Netzwerken des Westens versuchen Fuß zu fassen), sondern er hat die russische Öffentlichkeit inzwischen selbst vernichtet (Nawalny bildet hier nur die Spitze des Eisbergs). Inzwischen sind sämtliche Nichtregierungsorganisationen eliminiert, die Presse ist gleichgeschaltet, Auftragsmorde werden ganz offenkundig als ein probates Mittel der Politik angesehen. Die DUMA gleicht einem Marionettentheater; dort sitzen nur noch Claqueure, die ihre gesunde, braune Gesichtsfarbe (schaut Euch Gerhard Schröder einmal ganz genau an - der ist zwar kein Duma-Mitglied, aber intimer Kenner Putinscher Perestaltik) der Tatsache verdanken, dass sie zuerst Putins Arschloch huldigen müssen, bevor sie dann ihre Arme zu Dekreten heben zu dürfen, deren Konsequenzen mit dem Begriff einer Autokratie nur unzureichend beschrieben werden können. Wladimir Putin bewegt sich Schritt für Schritt in die Richtung eines Diktators, der – ähnlich wie in China – mit einer gnadenlosen Politik der Härte gegen die innenpolitische Opposition vorgeht, und der gleichzeitig den Krieg wieder als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln versteht (Kaukasus, Donbass, Krim, Syrien und nun die Ukraine).
Aus einer sich Zug um Zug erweiternden Machtfülle – hier unterscheiden sich Putin und Xi Jinping wohl nur in Nuancen (ganz zu schweigen von den Despoten von Putins Gnaden in Weißrussland und anderswo) – resultieren Zug um Zug die Konturen eines Terrorregimes, das viele Elemente einer faschistoiden Grundgesinnung offenbart. Selbst die ersten Schritte zu einer homophob angefeuerten kategorialen Unterscheidung von Menschen offenbaren ein extrem geschlossenes Weltbild: die Würde von Menschen, deren ethnische, politische, religiöse, kulturelle oder gendermäßige Zugehörigkeit bzw. Selbstbeschreibung nicht in dieses geschlossene Weltbild passen, ist jederzeit antastbar. Grundrechte, wie sie in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes niedergelegt sind, binden und regulieren weder in Russland noch in China „alle staatliche Gewalt“. Der unmittelbare Durchgriff der Führung – Wladimir Putins oder Xi Jinpings – auf die Richtlinien aller Politik führt in den größten Flächenstaaten der Welt schon jetzt zu einem Klima der Repression, der Einschüchterung und Angst. GULAGs in Russland und Umerziehungslager in China erinnern an den Urgedanken der Konzentrationslager Nazideutschlands. Es wird weggesperrt, wer sich fortgesetzt widersetzt oder – wie in China die Uiguren – einer ethnischen Minderheit angehört.
Die Schwäche des Westens liegt in den selbstverordneten Grundstrukturen, die wir gemeinhin mit den Begriffen der Gewaltenteilung, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit meinen und die Nachkriegsdeutschland sich (eingedenk des wiedervereinigten Deutschland) mit seinem Grundgesetz zur Grundlage seines Gemeinwesens gemacht hat. Wer sich in Russland oder China vor laufenden Kameras der Weltöffentlichkeit mit dem Satz vernehmen ließe: „Wir werden sie jagen – die Putins und Xi Jipings“ würde sich unversehens im Knast wiederfinden – vermutlich auf Nimmerwiedersehen.
Westliche Gesellschaften demokratischen Zuschnitts sind heterogene, pluralistische Gebilde, die ihre Regierungen a u f Z e i t w ä h l e n, deren Gesetzgebung selbst an Recht und Gesetz gebunden ist und die der Vorstellung, dass das Volk der Souverän ist, durch eine gewachsene demokratische Verfahrenskultur entsprechen. Ja, und in der Tat führt die Unfähigkeit der Regierenden zu einem unmittelbaren Durchgriff auf die hoheitliche gesetzgeberische Alleinzuständigkeit der Parlamente zu einem wirksamen Schutz vor dem Abdriften in autokratische Verhältnisse – zugegebenermaßen müssen EU-Mitglieder wie Polen oder Ungarn die entsprechenden Lektionen noch bis zu Ende lernen.
Dass es sich Russland mit einem durchgeknallten Putin leisten kann, den diplomatischen Korridor zu verlassen und Waffen sprechen zu lassen, ist selbstverständlich auch der Tatsache geschuldet, dass das russische Volk niemals in Freiheit und in einer demokratisch verfassten Grundordnung leben durfte. Es kennt nur den Knüppel autoritärer Terrorregimes in graduell unterschiedlicher Ausprägung.
Dies kann aber gleichzeitig nur bedeuten, dass Putin die Konsequenzen allein wird tragen müssen aus seiner Hybris, im 21. Jahrhundert gegen einen souveränen Nachbarstaat Krieg zu führen. Die Ukraine ist nicht Tschetschenien, nicht Abchasien oder Ossetien. Die Frage, was Putin umtreibt, muss mit in Rechnung stellen, dass die 2014 mit Blutzoll erkämpfte Maidan-Revolution den bitter-süßen Geschmack der Freiheit in die Köpfe und Herzen der Mehrheit der Ukrainer getragen hat. Nur ein Betonkopf, der sein eigenes Volk als ein Volk von angepassten Duckmäusern phantasiert, kann gleichzeitig der unfassbaren Hybris anheimfallen, ein 44-Millionen-Volk (mit einem Territorium von mehr als 603.000km²) in Ketten legen zu wollen, um sodann eine Marionetten-Regierung zu installieren; ein Zwangsregime von Putins Gnaden: Wie will Putin es durchhalten, Menschen, die vom kostbaren Gut einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekostet haben, all diese Freiheiten fortan vorzuenthalten; Freiheiten, wie sie beispielsweise in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ niedergelegt sind.
Im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland verbürgt das Grundgesetz in Artikel 1 [Menschenwürde, Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte], dass die Würde des Menschen unantastbar ist (1). In Artikel 2 [Freiheit der Person] heißt es: (1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit... (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit... Artikel 3 [Gleichheit vor dem Gesetz] garantiert:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich... Artikel 4 [Glaubens- und Gewissensfreiheit] verbürgt (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Artikel 5 garantiert die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre] - (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern... Artikel 20 [Staatsform, Rechtsstaatlichkeit] legt schließlich fest, dass (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist.
Hoffnung mag zuletzt keimen aus der Tatsache, dass die Putin umgebenden Oligarchen und Speichellecker in unmäßiger Weise die Zuckerseiten des westlichen way of life genießen – vielleicht die längste Zeit genossen haben, weil der Westen ihnen die Zugänge zu ihren Fleischtöpfen verbaut. Vielleicht erwägen sie irgendwann, Putin (politisch) einen Kopf kürzer zu machen – vielleicht ebenso, wie die Mütter und die Familien, wenn die ersten Leichensäcke mit ihren toten Söhnen und Männern in der Heimat ankommen.
„Was verteidigt Putin?“ hat eine Ukrainerin in München fassungslos und aufgelöst in die Kameras gefragt? Ja, was verteidigt Putin? Die Geschichte wird ihn eines Besseren belehren. Die Zeit für durchgeknallte, autokratische Sonnenkönige ist vorbei – vielleicht werden die sozialen Netzwerke auch den Russen vor Augen führen, wer sie da regiert.