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(M)Ein Adventskalender (31)

Die Tür ins neue Jahr – Für Hans, der enttäuscht war, dass nach dem 24. Türchen Schluss war

Ist das Leben nicht schön? Je nach Lebenslage fallen mögliche Antworten unterschiedlich, gewiss manchmal auch vollkommen gegensätzlich aus:

Ist das Leben nicht schön? erzählt die Geschichte des engagierten Bürgers George Bailey, der in der Weihnachtsnacht wegen eines Missgeschicks seinen Lebensmut verliert und sich von einer Brücke stürzen will – bis er von einem Engel gerettet wird, der ihm zeigt, wie seine Heimatstadt aussehen würde, wenn er nie geboren worden wäre. Trotz kommerziellen Misserfolgs wurde der Film mit der Zeit zum Klassiker und wird von vielen Kritikern als einer der besten Filme aller Zeiten angesehen.

So beginnt der Wikipedia-Eintrag zu Frank Capras Film aus dem Jahr 1946 mit James Stewart und Donna Reed in den Hauptrollen. Der Film genießt unterdessen als Weihnachtsfilm Kultstatus. Ich verlinke die durchaus passable Wikipedia-Zusammenfassung für diejenigen, die diesen Film bislang nicht gesehen haben und konzentriere mich auf den Kerngedanken, der schlicht mit der Vorstellung spielt: Wie sähe die Welt aus, wenn es Dich nicht gegeben hätte – nicht geben würde?

Alle Überlegungen und Phantasien dazu müssen zwangsläufig rein spekulativ bleiben, sieht man einmal von der gewaltigen Differenz ab, die allein durch den Umstand begründet wird, ob wir uns am gattungsbezogenen Reproduktionsgeschehen beteilig(t)en (haben/wollen/können) oder nicht.

Rückblickend – den Fokus auf uns selbst gerichtet – hat wohl Alexander Kluge recht, wenn er davon ausgeht, dass wir unter unseren acht Urgroßeltern nicht geboren sein werden. Alexander Kluge spitzt diese Annahme ja auf ungewöhnliche Weise zu, indem er betont: „Sie können sagen, die (unsere acht Urgroßeltern) sind so verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir selbst eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen.“ Allein dieser Gedanke befeuert unsere Phantasie und ein jeder und eine jede wird vielleicht neugierig, wer da alles in einem zusammengekommen ist. Darauf hatten und haben wir keinen Einfluss! Acht Urgroßeltern, vier Großeltern, Mutter und Vater – das ist eine geballte Ladung an Gegensätzen, Gemeinsamkeiten und Potentialen. Hier begegnet uns das Schicksalszufällige in konzentrierter und unaufhebbarer Form. Wir stehen in der Abfolge unserer Ahnen.

Ich entschließe mich in einem kleinen Vorgriff bereits hier zur Unterscheidung von Beliebigkeitszufälligem und Schicksalszufälligem und beziehe mich dabei auf Odo Marquards Apologie des Zufälligen (Stuttgart 2015, S. 146-168): Er erweitert den aus der christlichen Schöpfungstheologie kommenden Endlichkeitsbegriff des Zufälligen (Kontingenten): "Entweder nämlich ist das Zufällige 'das, was auch anders sein könnte' und durch uns änderbar ist (z.B. kann man Wurst essen oder es lassen und statt dessen Käse essen, und dieser Vortrag könnte ihnen auch Wurst sein, weil er Käse ist, oder er könnte auch gar nicht oder auch anders gehalten werden)." Dieses Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige. "Oder das Zufällige 'ist das, was auch anders sein könnte' und gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.)." So geht Marquard davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Die Aufmerksamkeit dafür, das letzte Glied in einer Reihe von Ahnen zu sein, dieser enorme Vorschub hat mich bereits vor nahezu zwanzig Jahren dazu veranlasst in Form einer Hommage (siehe weiter unten) zu danken. Diese Hommage gilt meinem Großvater mütterlicherseits und ruft mit eben diesem Abstand von fast zwanzig Jahren gewisse Beklemmungen hervor. Sie resultieren aus der Enttäuschung, die alle anderen Ahnen mir entgegenbringen, da ich sie nicht explizit gewürdigt habe. Ja den Großvater Josef – Lahnsteins Josef – habe ich mit einem Füllhorn an Respekt und Zuneigung bedacht. Dieses Füllhorn ergibt sich schlicht aus der Umkehrung der mir zugedachten und zugewandten Aufmerksamkeit Ich verstehe diese Hommage keineswegs als nachgetragene Liebe, viel eher als einen tief empfundenen Dank demjenigen gegenüber, der mich achtzehn Jahre lang begleitet hat, und der mich dabei offenkundig gesehen hat, wie kein anderer. Und dies, obwohl ich (auch für ihn) erkennbar nicht eine seiner Vorlieben geteilt habe (dazu später mehr). Vielleicht hat mich intuitiv – fast vorreflexiv – überrascht, dass er mir dennoch jederzeit aufmerksam und fürsorglich begegnete und einen nicht wirklich bemessbaren Einfluss auf mich hat(te). In ihm begegnete ich offenkundig jemandem, der – ähnlich wie mein Vater – kein schlichtes Ebenbild, keine Kopie der eigenen Knorzigkeit und Unebenheiten erwartete. Neben der immer wieder kolportierten Gabe des Jähzorns sind es vermutlich die uneitlen Gaben einer ungeteilten Aufmerksamkeit, des Wohlwollens und der Neugier jemandem gegenüber, der sich auf den Weg machte.

Ist das Leben nicht schön? Auch die von Frank Capra inszenierte Grundidee könnte man philosophisch betrachtet über den Schlüsselbegriff der Kontingenz (ich übersetze ihn hier schlicht mit dem Begriff des Zufälligen) erschließen. Lebenslaufbezogen gilt Niklas Luhmanns These, wonach „die Komponenten eines Lebenslaufs aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Luhmann: Schriften zur Pädagogik, Frankfurt 2004, S. 267). In dieselbe Kerbe schlägt Odo Marquardt mit seiner Behauptung, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl seien. Zu beantworten bleibt immer die Frage, wie wir uns zu der schicksalszufälligen Tatsache unserer Geburt stellen und danach mit und in unserem Leben unterscheidungsfähig werden im Sinne des Reinhold Niebuhr zugeschriebenen Aphorismus: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

In der individuellen Ausprägung dieser Unterscheidungsfähigkeit könnte man den Reifegrad ermessen, der uns zu einer gleichermaßen selbstbewussten wie verantwortlichen Grundhaltung befähigt, die aus der Sicht eines Vaters und Großvaters nicht ohne Demut vorstellbar ist. Denn – wie Odo Marquard weiter ausführt:

„Wir sind - aus Schicksalszufall - durch Geburt zum Tode verurteilt, d.h. zu jener Lebenskürze, die uns nicht die Zeit lässt, uns aus dem, was wir zufällig schon sind, in beliebigem Umfang davonzumachen; unsere Sterblichkeit zwingt uns, jener Schicksalszufall, der für uns unsere Vergangenheit ist, zu 'sein', d.h. überwiegend zu bleiben. Zu dieser Vergangenheit gehören - entscheidend und wesentlich - jene Zufälle, die unsere Üblichkeiten sind, die wir nicht erst wählen, sondern in denen wir stecken. Sie könnten ganz andere sein, aber wir - vita brevis - können sie überwiegend nicht ändern. Es ist ja nicht so, dass wir sie erst sozusagen aussuchen müssten, sondern wir haben sie stets schon und können sie - und brauchen sie - überwiegend nicht loswerden: sie sind Schicksalszufälle […] Denn wohl sind unsere Üblichkeiten stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl: doch sie sind nicht beliebigkeitszufällig, sondern schicksalszufällig (Odo Marquard, Stuttgart 2015, S. 158f.).“

Ist das Leben nicht schön? George Bailey will sich (also) davon machen und erhält von Clarence – dem ihm zugewiesenen Engel (der im  Übrigen immer noch auf seine Flügel wartet) eine Lektion. Die Lektion zeigt ihm, wie die Welt gelaufen wäre ohne ihn. Die ihm von Clarence vorgeführte brutale Gegenwelt läutert ihn, macht ihn bescheiden und demütig zugleich – und lässt ihn begreifen, dass sein Leben Sinn macht, dass die schicksalszufällige Tatsache seiner Geburt ihn gleichermaßen in die Pflicht nimmt. Die Rolle rückwärts, die er nun voller Begeisterung vollzieht, führt dann schließlich doch (noch) zu der weihnachtlichen Befriedung einer immer bedrohten Welt. Gleichzeitig wird zumindest deutlich, dass wir Bedrohung abwenden/abmildern können, durch unsere tätiges, verantwortliches Handeln in dieser Welt – auch gegen Widerstände, das heißt ausgestattet mit dem Reifezeugnis, das sich in dem weiter oben erwähnten Aphorismus Reinhold Niebuhrs offenbart:

So kommen wir dann möglicherweise – auch ohne Gott – zu der Einsicht, die uns Odo Marquard anbietet:

„Die Erfahrung des Überwiegens und der Lebensbedeutsamkeit jener Zufälle, die uns prägen, obwohl sie gerade nicht in unserem Belieben stehen (also nicht der Beliebigkeitszufälle, sondern der Schicksalszufälle), ist eine Alterserfahrung, die man schon früh im Leben machen kann, weil ebenso gilt:  jeder – auch der jüngste – Mensch ist schon alt, d.h. so nah dem Tode, dass er jedenfalls nicht die Zeit hat, die Zufälligkeit der Zufälle, aus denen sein Leben besteht, in nennenswerter Weise zu löschen (ebd., S. 160).“

Es ist klar gegen welche Denkrichtung sich diese Apologie des Zufälligen positioniert. Sie bringt sich in Stellung gegen die existentialistische Absolutmachung des Menschen, die (wie Jean Paul Sartre) postuliert: Wir sind nichts als unsere Wahl!

„Es ist die Alterserfahrung der Dominanz des Schicksalszufälligen, die – gegenüber dem Programm der Absolutmachung des Menschen – vor allem geltend gemacht werden muss. Nicht nur geben wir unserem Leben niemals – durch Wahl – überwiegend absolute Notwendigkeit, so dass es insofern im Sinne des Beliebigkeitszufälligen zufällig bleibt; sondern wir können unser Leben und seine Wirklichkeit niemals überhaupt in wesentlicher Weise wählen oder gar absolut wählen, so dass es auch und vor allem im Sinne des Schicksalszufälligen zufällig bleibt. Wir kommen mehr als durch Wahl – also über Pläne – durch Zufälle durchs Leben und zu uns selber; und das ist nicht – wie die Philosophie der absoluten Wahl und der Absolutmachung des Menschen uns weismachen will – ein Unglücksfall; denn der Zufall ist keine misslungene Absolutheit, sondern – sterblichkeitsbedingt – unsere geschichtliche Normalität (ebd. S. 160).“

Ist das Leben nicht schön? James Stewart interpretiert die Rolle des George Bailey in einer für mich überzeugenden Bandbreite emotionaler Ausnahmesituationen. Er gerät außer sich, indem er weint und indem er lacht – exzessiv und verzweifelt weint und exzessiv und euphorisch lacht. George Bailey kollabiert angesichts der Ausweglosigkeit und des Schreckens, in dem sich der Wandel seiner Heimatstadt Bedford Falls zu Pottersville offenbart. Und George Bailey gerät außer sich und kommt zu sich angesichts der Erkenntnis, welche schicksalsmächtigen Konsequenzen jene Entscheidungen in seinem Lebenslauf nach sich zogen, deren Schicksalsmächtigkeit sich vollkommen außerhalb seiner Erfahrungswelt ereignete. Bei Odo Marquard liest sich dies folgendermaßen:

„So ist es zuträglich für Menschen, wenn Grenzen ihres Merkens kollabieren. Menschlichste oder gar allzumenschlichste Formen dieser Grenzreaktionen – die zu denen gehören, die, als So-ist-es-Reaktionen, die menschliche Vernunft bilden: den Verzicht auf die Anstrengung dumm zu bleiben – sind, wie Helmuth Plessner und Joachim Ritter gezeigt haben, Lachen und Weinen: also die leisen Formen der Anerkennung zuvor unbemerkter und verdrängter Schicksalszufälle, die – andere Determinanten balancierend – das Menschliche mitdeterminieren. Indem wir lachen oder weinen, akzeptieren wir – andeutungsweise – das, was – offiziell – ausgegrenzt blieb, aber – inoffiziell – mit im Spiel ist: jenes Zufällige, das dem offiziell Akzeptierten – zufällig – querkommt: durch es lachen oder weinen wir uns frei. So sind Lachbereitschaft und Weinbereitschaft – also Humor und Melancholie – Konkretionen von Toleranz und Mitleid: nicht nur menschlich, sondern auch allzumenschlich leistbare Respektierungen von Freiheit und Würde des Menschen. Frei – das gehört somit zu den Implikationen und Resultaten meiner Überlegung – frei ist, wer lachen und weinen kann; und Würde hat der, der lacht und weint, und – unter den Menschen – insbesondere der, der viel gelacht und viel geweint hat. Also auch diese Grenzreaktionen Lachen und Weinen sind Formen dessen, auf das ich hier aufmerksam machen wollte: Formen der Apologie des Zufälligen (ebd. S. 164).“

Ist das Leben nicht schön? Ich empfehle die Lektüre des Wikipedia-Beitrags. Nein, ich empfehle einfach den Film anzuschauen. In gewisser Weise ist er eine Illustration der recht abstrakt wirkenden Apologie des Zufälligen von Odo Marquad.

Und was mich und meine Ahnenreihe anbelangt: Für die theoretischen Erörterungen Odo Marquards taugen Hildes Geschichte und die Rollen, die Josef Lahnstein und alle andere dort spielen, exemplarisch. Denn – wie Hermann Lübbe bemerkt: Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (158)." Und ich bin dankbar und demütig zugleich, dass ich nicht – wie Odo Marquard meint – ganz dumm bleiben musste, dass ich Hildes Geschichte erzählen durfte, dass ich lachen und sehr viel weinen durfte. Denn Hildes Geschichte ist eine solche Erzählung. Ihr Drehbuch wird vom Schicksalszufälligen entscheidend geprägt und ihre Partitur ist eine Mischung zwischen Sphärenklängen und einer nun enden wollenden Kakophonie.

Hommage an meinen Großvater:

Lyrik I:

Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe

Aus dem Ofen in den Laden,
und von dort auf unsern Tisch
große, kleine Fladen,
neben Wurst ein wenig Fisch.
Mit der Hand in meinen Mund,
eingeschleimt, zerkaut dann in den Schlund,
hinein in jenen Magen,
der nunmehr hat das Sagen:
Durchsäftet, angedaut
wandert dann der Brei
durch Dick und Dünn
- nein eher umgekehrt -
bevor er wurstet sich von dort
hinein in jenen Ort,
der heute
- komfortabel -
mittels Wasserspülung
alle Reste von dem Feste
schwemmt durch dunkelste Kanäle
fort
in jene düstren Hallen,
wo einst mein Ahn
die Last von allen saubren Leuten nahm.

Klärwerk heißt der Ort,
an dem ich kam
vom Ahnen hin zum Wort,
dem ich fortan huldigte.
Doch dies gewiss nur,
weil mich jener Ahn
auf in seine Seele nahm,
und in mir als Kind
das Licht erweckte,
mit dessen Kraft
ich fortan Wort für Wort
und auch die Welt entdeckte.

Lyrik II

Orte

Ich heiße Josef (neben Franz),
und ich bin der Enkel
einer deutschen Eiche:
Josef -
stark und breit,
sanft und gewogen,
leicht gebeugt
- ein Kraftwerk.

In Deinem Haus
- keine Bilder, keine Bücher,
„da hingen keine Gainsbouroughs“;
der „Volksempfänger“ bis zuletzt!
Und doch:
Jede Sekunde gelebten Lebens
respektvoll:
Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen
- alle!

Und herausgeschnitzt
(auch diese) Linie(n)
- erzählten Lebens:
Der Eigensinn,
die Unvernunft
- da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,
wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!

Nein!
Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.
Masuren 1914
- steckte in Deiner Seele,
und
- Eisen -
als lebenslange Depotgabe
in Deinem Körper.

Warst kein Schweijk,
und kein Jünger der Stahlgewitter.

Merkwürdig konstruierte Intuition,
assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“

- Ja, ja!

Gelernt hast Du das Schächten
dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).
Metzger wolltest du werden

- und warst früh schon geschätzter Experte,
wenn es die Gottschalks,
die Oppenheimers,
die Wolffs
und Lichtendorffs
koscher haben wollten.

Merkwürdige Synchronizität
 Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen
– wusstest Du jemals wie?

Alles Millionäre in Amerika!?
Und Du?
Ohne Profession!
Verlust bei Verlust.
Stiller Gewinner die Stadt:
Zumal die untersten Chargen
- die städtischen Arbeitskolonnen -
besetzt mit Spitzenkräften.

Für mich warst du
der immer schon alte, starke Mann:
Im Schiefer der Weinberge;
als Führer zu den mythischen Orten der Kindheit,
wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.
In den lehmigen Gruben,
stiller Bereiter der letzten Wege,
(wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,
wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste).

Dann wieder ein Ort,
wo die Fontänen des Lebens sprühn!
Lebendige Kindheit
- Salz und Sonne auf unserer Haut!

Geheimnisvoll aber,
mythisch,
dionysisch
und gewaltig jener Ort.
Die Hallen,
in denen
Anfang und Ende zusammenfließen:

Wir lebten am Rande,
der letzten Bastion zivilisierten Lebens.
Von dort 3000 Meter
wildes Land:
Zuerst die Abraumhalden der Stadt
- Schutt.

In der anderen Welt,
jenseits der Ahr,
gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien
die in den Hades übergehenden Prozessionen,
wo Staub kommt zu Staub.

Auf unserer Seite die Niederungen,
Sumpf- und Schwemmgebiet,
worin sich alle Urgewalt verläuft:

Hier duckt sich der Ort,
hinter Haselnüssen und Hainbuchen,
ein Bunker,
flach
und bestimmt von Diagonalen
- sanft ansteigende Schrägen.

Zuerst lockt eine Stube,
verwinkelter, tetraedischer Kubus,
kristalliner Raum einer ganzen Welt:
Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme -
fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;
die Augen gehen über.

Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:

An den Wänden das illustrierte Feuerwerk
der formierten Gesellschaft:
Beauties und Katastrophen,
Abziehbilder medial markierten Raums.

Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.

Dünn und vernehmlich,
bedrohlich,
aber (noch) gebannt
im Kreis der alten Männer:

Schwerer Moschus
aus Tabak, Manschester -
sinfonische Höhepunkte,
wenn Bohnen und Speck,
Schweinebraten und Kohl,
Wirsing und Gulasch
Geruchsnischen besetzen,
wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,
der die Kleinode unserer Küche bewahrt;
und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.

Von Zeit zu Zeit - in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -
verläßt Du die Stube.
Dann ergreife ich Deine Hand -
selig geborgen,
gerade genug,
um standzuhalten,
denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,
anschwellendes Rauschen,
noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.
Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren
an des Wächters Hand -
vor dem Allerheiligsten?

Prosa I

Das Feindesland begann mitten in der eigenen Familie – Weihnachten 1941 in der Kreuzstraße 111
Auskopplung aus Hildes Geschichte (Kapitel: Die Offenbarung, Seite 141-149)

 

Änne hatte Hilde davon überzeugt, dass Weihnachten die rechte und im Grunde genommen auch die letzte Gelegenheit wäre, das Heft des Handelns in der eigenen Hand zu behalten. Änne hatte mit christlichen Ritualen nicht viel im Sinn. Möglicherweise vermittelte ihr dies die Inspiration, das christlichste aller Feste zu nutzen, um zwar keine „unbefleckte Empfängnis“ zu suggerieren, aber immerhin auf Milde und christliche Nächstenliebe zu setzen.

Auf den heiligen Geist würden sie sicherlich vergeblich hoffen und auch Josef, der seine schützende Hand über Maria hielt, würde sich – auch wenn er der Namenspatron von Hildes Vater war – nicht sogleich in Gestalt der alles hinnehmenden und verzeihenden Vatergestalt schützend vor Hilde stellen.

Die größten Sorgen und Befürchtungen bezogen sich jedoch auf Hildes Mutter, die vermutlich vor lauter christlicher Demut und Engstirnigkeit eher engherzig reagieren denn Jesaia gemäß – der Maria Magdalena gedenkend – ihr Herz weit öffnen würde für die Mühseligen und Beladenen.

Nichts überdauert andererseits die Generationen wohl mehr als die im christlichen Glauben verankerten Rituale – zumindest dann, wenn sie mit der Familie jene Geborgenheit und letzte Zuflucht verbürgen, die von der Urchristenheit bis zum heutigen Tag die unverbrüchliche Zugehörigkeit ihrer Schäflein zur Gemeinde garantieren. Hilde hatte ihre Eltern gebeten, am heutigen Heiligen Abend Änne aufzunehmen. Die Eltern schätzten Änne sehr – und da Änne allein in der Welt stand, war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie einen Platz bekam an der bescheidenen Tafel der Lahnsteins. Der Christbaum stand bereits geschmückt mit Silberkugeln, wenigen Strähnen sorgsam verteilten Lamettas und 12 ausgewogen verteilten weißen Kerzen in der Ecke gegenüber des großen, die Stube auch wohlig wärmenden Herdes. Fürs Festmahl war alles vorbereitet. In der großen Kasserolle schmorte seit geraumer Zeit ein Hasenbraten. Der Vater hatte den Hasen am Tag zuvor geschlachtet, gehäutet und ausgenommen, Leber und Nierchen, sowie Herz und Lunge gesondert gelagert. Es gab Feldsalat und Endivien aus dem eigenen Garten, ebenso wie die im Herbst geernteten Zwiebeln, Schalotten, Möhren und Sellerie, die für eine gute Bratensauce sorgen würden. Mit den im Lehmkeller eingelagerten Kartoffeln war für ein reichhaltiges und üppiges Festmahl gesorgt. Hilde, die am frühen Nachmittag mit Änne an der Weihnachtsfeier im „Goldenen Pflug“ teilgenommen hatte, wollte pünktlich um 17.00 Uhr mit Änne zu Hause sein – zur Bescherung in der Familie.

An diesem Nachmittag war Hilde unruhig und nervös. Sie hatte Angst vor dem Heiligen Abend, von dem sie glaubte, dass sie ihm das Heilige nicht nehmen dürfe, dass sie ihn nicht entweihen dürfe durch das Bekenntnis ihrer Sünde. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass Maria durch Josef vor etwas geschützt werden musste, das gewissermaßen als Urgrund der neutestamentlichen Heilsgeschichte, die Geburt des „Erlösers“ in der Gestalt von Gottes Sohn für eine breite Öffentlichkeit verdeckte. Die Urschuld erneuerte sich in dem, was die Christen „unbefleckte Empfängnis“ nennen. Und niemand wagte es, den sündigen Gedanken zu fassen, dass hinter der „unbefleckten Empfängnis“ jener Akt unausweichlich stattgefunden haben musste, der sie – unsere Hilde – am 9. September 1941 so unsäglich befleckt und mit dem Stigma einer ungedeckten Schwangerschaft geschlagen hatte. Wenn der Franz doch nur hier wäre, sie schützen, um ihre Hand anhalten würde, dann könnte sie es ja ertragen, ein „6-Monats-Kind“ zur Welt zu bringen; dann könnte man den Vater vielleicht besänftigen und die Mutter beruhigen.

Änne beruhigte ihr Hildchen; sie redete sanft und mit Engelszungen auf sie ein und versprach ihr, nichts, gar nichts auf dieser Welt würde so heiß gegessen, wie es gekocht würde. Alles, was käme – und sei es noch so heftig – würden sie gemeinsam durchstehen; nichts und niemand könne ihr etwas anhaben.

Das Essen war köstlich. Änne hatte zwei Flaschen Spätburgunder organisiert und als Weihnachtsgabe beigesteuert. Hilde erfreute den Vater mit einer Schachtel Juno und zwei Zigarren. Für die Mutter gab es ein Fläschchen 4711 – Kölnisch Wasser und Annemie erhielt neben der obligatorischen Tafel Schokolade ein kleines Etui mit einer Nagelschere und einer Feile. Änne hatte Annemie ein Lore-Heftchen mitgebracht – die Geschichte eines Waisenkindes, das zum Weihnachtsfest in eine neue Stieffamilie aufgenommen wird.

Gegen 19.00 Uhr schaltete der Vater den Volksempfänger ein und man hörte, wie der Führer auf seine typische Weise intonierte: „In diesem Krieg siegt nicht das Glück, sondern endlich einmal das Recht… Der Herrgott hat bisher unserem Kampf seine Zustimmung gegeben. Er wird uns auch in Zukunft nicht verlassen.“

Der Vater murmelte vor sich hin, dass es schon verwunderlich sei, wofür der Herrgott selbst vom Antichristen bemüht würde, und die Mutter, die das genauso sah, schaute ihn hilflos an und meinte: „Vielleicht ist die Führung im Grunde ihres Herzens doch viel gottesgläubiger, als es den Anschein hat.“ „Das wird man sehen, wenn der Krieg zu Ende ist“, meinte Änne und erzählte, dass inzwischen in Köln, in dem Viertel ihrer Kindheit alle jüdischen Familien „evakuiert“ worden seien. In dem Zusammenhang höre sie jetzt immer wieder, dass dies nicht freiwillig geschehe, und dass die Familien auch nicht alle ins Ausland abgeschoben würden. Das war ein Thema, von dem Hildes Vater nichts wissen wollte. Gerade er, der bei den jüdischen Schlachtern das rituelle Schächten gelernt hatte und der sich so manche Reichsmark nebenher verdient hatte, hatte zu den Geschehnissen ein ambivalentes Verhältnis. Bad Neuenahr galt lange als ausgewiesenes „Judenbad“, und es gab viele ansässige und wohlhabende jüdische Familien, die großen Wert auf koscheres Essen legten. Geschlachtet wurde mit einem scharfen, schartenfeien Messer, das die Halsschlagader, Luft- und Speiseröhre in einem Zug durchtrennen muss. Hierin hatte es Josef Lahnstein zu anerkannter Meisterschaft gebracht. In den letzten Jahren waren ihm seine Kunden abhanden gekommen, und er wusste nicht so recht, was er von alledem halten sollte.

Als sich Annemie mit ihrem Lore-Heftchen in die Schlafkammer verzogen hatte, der Spätburgunder Hildes Vater zu einer weinseligen Stimmung aufhalf, nahm sich Änne ein Herz und sagte klar und laut vernehmlich: „Die Hilde ist schwanger!“ Hilde, die dem Vater gegenübersaß, zuckte zusammen; die Mutter bekam große Augen und sah unvermittelt ihren Josef an. Der wiederum erweckte den Eindruck, diese unfassbare Nachricht, sei bei ihm nicht angekommen. Er leerte das Glas bis auf den Grund, zuckte mit der Oberlippe, so dass das schmale Hitlerbärtchen zu hüpfen schien. (31)  Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die nicht verriet, ob das nun ein Lächeln oder der Anflug eines Entsetzens sein sollte.

Änne wiederholte in aller Seelenruhe den Satz noch einmal: „Die Hilde ist schwanger!“ Bevor Hildes Eltern reagieren konnten, brach Hilde in Tränen aus und rückte instinktiv näher zu Änne. Hildes Mutter (32) ließ nun endlich ein wiederholtes: „Ohjöh, Ohjöh“ um Herrjottswillen!“ vernehmen, während dem Vater die weinselige Röte aus dem Gesicht wich. „Der Vater heißt Franz Streit, ist 27 Jahre alt und Soldat an der Ostfront. Er war hier von Mitte August bis in den September zu Genesung in der Ehrenwall‘schen Klinik. Hilde hat ihn im „Goldenen Pflug“  kennengelernt. Er hat Hilde geschrieben, dass er sie heiraten will. Sein Urlaubsgesuch läuft, und er wird in nächster Zeit hierherkommen.“

Der Vater verließ wortlos die Stube in Richtung Garten, während die Mutter kopfschüttelnd auf ihre Tochter blickte. „Aber das kann doch gar nicht sein, die Hilde ist doch erst 17 Jahre alt und ein unschuldiges Kind!“

„Mit der Unschuld ist es nun vorbei. Als ich in Hildes Alter war, ist mir genau dasselbe passiert. Ich habe Glück gehabt. Das Kind ist nicht zur Welt gekommen. Aber Hilde möchte dem Kind das Leben schenken – sie sagt, der liebe Gott habe es gegeben und der Mensch dürfe es nicht nehmen. Und außerdem liebt sie den Franz und möchte ihn heiraten.“

„Aber die Hilde ist ein Kind. Wie stellt ihr euch das vor – und die Schande – und wer weiß – Gott behüte – ob dieser Mensch jemals aus Russland zurückkehrt!?“ Hilde sah ihre Mutter entsetzt an und brachte unter Schluchzen soeben ein Gestammel hervor, das bedeuten sollte, dass der Franz ganz bestimmt zurückkomme und sie heiraten werde.

„Ach Kind, Kind, Kind“, seufzte die Mutter und fügte hilflos hinzu: „Wie konnte das denn nur geschehen? Das ist doch ein erwachsener Mann, und du bist ein Kind!“

„Nein“ antwortete Hilde, nun ruhiger und mit leichtem Trotz: „Ich bin kein Kind mehr, und auch Franz hält mich nicht für ein Kind. Du wirst es sehen, wenn er kommt!“ Die Mutter schaute traurig und sagte nur noch: „Dein armer Papa!“

Diese letzte Bemerkung schnitt tief in Hildes Gemüt ein und fügte ihr die empfindlichste Wunde zu. Sie wusste, wie sehr sie Vaters Tochter war – wie sehr sie ihm immer auch den erhofften Sohn ersetzt hatte. Sie haderte am heftigsten genau an diesem wunden Punkt und wusste nicht weiterzuleben mit der Enttäuschung und der Schande, die sie dem Vater bereitete.

Der saß unterdessen draußen in der Kälte und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Seine Älteste, die verlässlichste, gehorsame, stets folgsame und bemühte Tochter – das konnte nicht wirklich sein, was er da gehört hatte. Es war ihm unangenehm, und er wollte über Unsägliches auch nicht reden. Er wollte und konnte es auch nicht denken. Alles sollte ganz einfach seine Ordnung haben; dann bliebe auch eine Ehre unangetastet, die der Ordnung Sinn und dem Sinn seine Ordnung ab. Und so drohte einfach eine Schande, die eine Schande war, weil sie eine Schande war. Die Kirche interessierte ihn nicht. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass nicht sein sollte, was nicht sein durfte. Ein Kerl musste sich einem anständigen Mädchen gegenüber zurückhalten. Und wenn er mehr wollte, hatte er beim Vater um ihre Hand anzuhalten. Und ein Mädel, das sich nicht zurückhalten konnte, war eben kein anständiges Mädel. Dieses Dilemma schien dem Josef Lahnstein am Vorabend der Geburt Jesu – am 24.12.1941 – unauflösbar und es würde noch einiges Wasser den Rhein und die Ahr herabfließen müssen, bis sich daran etwas ändern würde.

In der Stube hatte Änne Hildes Mutter eröffnet, dass sie Hilde jetzt mitnehmen würde und sich auch in Zukunft um alles kümmern würde. Sie würden alle gemeinsam eine Lösung finden.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund