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(M)ein Adventskalender - Heute öffnen wir das erste Türchen/Fensterchen (1)

(Ich versende ihn über Whats-App - lasst mich bitte wissen, wenn ich dies unterlassen soll. Dank für eine Rückmeldung; ich wünsche allen meinen Freund:innen und Bekannt:innen - ha-ha-ha - eine besinnliche Adventszeit!)

In den nächsten 24 Tagen werde ich hier - im Rahmen meines Blogs - meinen ganz persönlichen Adventskalender präsentieren. Ich erinnere mich gerne an die Zeit, als sich im Südwestrundfunk vor vielen, vielen Jahren in der Adventszeit jeden Morgen knarrend und schliepsend ein Törchen öffnete, um uns in erster Linie zu erfreuen und frohgestimmt in den Tag gehen zu lassen - ein reines Amüsement wird mein Kalender sicherlich nicht sein können. Apropos:

Wenn ich sage - persönlich - dann meine ich damit, dass die Auswahl der Themen und ihre Kommentierung innerhalb meiner persönlichen Priorisierungen (ist das nicht ein abgefahrenes Wort) und Vorlieben liegt. Dabei bin ich mir schon allein deshalb gewiss, dass er meinen persönlichen Horizont deutlich übersteigt, weil ich mir - wie fast immer in meinem Blog - schwergewichtige Zeitzeugen und Mitstreiter zur Seite stelle. Heute sind das - mit Blick aus dem ersten Fensterchen - Fritz Habekuss und Bernd Ulrich: Ihr Leitthema benennen sie mit der schlichten Aussicht: Unser Aussterben (ZEIT, 48/21, Seite 37-39) - Die Message: "Keine Art kann allein existieren, auch nicht der Mensch. Mit jeder ausgerotteten Spezies gefährdet er sein eigenes Überleben". Ich beginne - wie in der Regel - von hinten nach vorne. Hier gerät zunächst einmal - ganz plakativ, aber auch überaus konkret - der Begriff des Systemischen in den Fokus der Argumentation:

"Der Verlust der Biodiversität lässt sich nur systemisch aufhalten."

Fritz Habekuss und Bernd Ulrich (hat mich auch schon vor 1 1/2 Jahren inspiriert) bekennen klar und unmissverständlich, dass es - mit Blick auf die Alternativlosigkeit dieser Prämisse (Erhaltung von Biodiversität) auch über Macht zu reden sei; schon allein deshalb, weil ein "anderer Umgang mit Klima und Arten, mit Zukunft also, bedeuten würde, dass viele etwas zu verlieren haben". Die Hoffnung, die beide anschließend in den Raum stellen - das Andererseits - hängt wieder einmal an Prämissen, bei deren Erläuterung und den damit verbundenen Spekulationen über mögliche Erfolgsaussichten (zumindest bei mir) enorme emotionale Wutpotentiale an die Oberfläche drängen. Denn es geht schlicht um exorbitante Privilegien verbunden mit einer ungebrochenen Wachstumsideologie:

"Andererseits: Alls das, was hier als Begründung für die aberwitzige Zerstörung genannt wurde, könnte bald als Motiv für eine Wende firmieren. Denn wenn die arachaischen Rituale abgenutzt sind, wenn das ewige Mehr auf dem jetzigen Wohlstandsniveau jedenfalls der reicheren Länder und Schichten sich oft schon selbst ad absurdum führt, wenn die Trauer über verlorenen Mitgeschöpfe sich doch noch Bahn bricht, dann kann auch der Weg für etwas ganz anderes frei werden."

Gewichtige Wenn - Danns stellen die beiden Autoren hier in den Raum (by the way: wenn in meiner Nachbarschaft wohlhabende, intelligente, wirtschaftlich potente - und im übrigen sehr geschätzte Mitbürger - 700 bis 800 Pferdestärken in traditioneller Verbrennerkultur in der Garage und auf der Straße stehen haben, gleichzeitig ihre Hausdächer ungenutzt der Sonne aussetzen, dann weiß man, wie gewaltig die Hürden für ein Umdenken und ein entsprechendes Handeln sind!).

Habekuss' und Ulrichs Schlussakkord gehört an den Anfang - aufgeschrieben und im Stammbuch vermerkt für uns Normalos, vor allem aber für die notorische Flachdenker neoliberaler Ausrichtung (das trifft zumindest für die Fraktion: Freie Fahrt für Freie Bürger zu), vielleicht auch für die Innovationsfetischisten, denen technologische Revolutionen als Diversitätskompensat reichen:

"Das irre an der Natur ist: Sie braucht uns nicht. Man muss sie nur in Ruhe lassen. Wo sie sich selbst überlassen wird, wo Wildnis entstehen darf, kommen Arten zurück, dort wird klimaschädlicher Kohlenstoff gebunden. Sein lassen, um überleben zu können - das klingt doch gar nicht so schlecht, oder?"

Habekuss und Ulrich wollen das Artensterben anschaulich machen. Ihre Ouvertüre komponieren sie aus einem siebenfachen Klangakkord mit der Kernbotschaft eines  N E I N :

  • "Nein, die Art, deren Leben am Ende auf dem Spiel steht, ist nicht der Pottwal [...] Die Art, die das alles verursacht und selbst nicht überleben kann, ist der Mensch.
  • Nein, es geht nicht um prominenten Säugetiere..., sondern um das feine Netz des Lebens, um Mikroben, Viren, Insekten und Flechten.
  • Nein, Mitleid ist es nicht, was nun gebraucht wird, dafür ist es zu spät. Es muss um Interessen gehen, um Vernunft und Methoden, kurzum: um Politik.
  • Nein, es hilft den Tieren und Pflanzen nicht, dass das Bewusstsein für das Artensterben größer geworden ist [...] Bewusstsein ist nutzlos, wenn ihm keine Taten folgen.
  • Nein, es bringt gar nichts, wenn Artenschutzabkommen geschlossen werden, an die sich niemand hält...
  • Nein, das Artensterben ist nicht die kleine Schwester der Klimakrise, das zweitgrößte Drama. Die beiden Krisen konkurrieren nicht miteinander, die kumulieren und verstärken sich gegenseitig.
  • Nein, das Artensterben findet nicht nur woanders statt, im Amanzonasbecken oder auf Borneo. Es zerstört auch bei uns, mitten in Europa, in Deutschland das, was die Menschen hier Heimat nennen. Es entleert die Fauna und die Flora, die Wälder und die Fluren, die Dichtung und die Lieder. Natürlich kann vom Artensterben schließlich schwerlich gesprochen werden, ohne dass es um Schönheit geht, um Demut, um Würde und um Trauer. Das gehört dazu, unbedingt. Das klingt jetzt alles sehr groß."

Sehr große Worte und das kleine Moor-Wiesen-Vögelchen

Das Moor-Wiesen-Vögelchen ist ein Schmetterling. Er dient Habekuss/Ulrich dazu ein folgenreiches Prinzip zu veranschaulichen. Die Zu- und Vernichtung von Lebensräumen wird in ihren mächtigen systemischen Wechselwirkungen angedeutet, um dann generell zu der Schlussfolgerung zu gelangen:

"Ein Tier, das von einem anderen verdrängt wird: im Mit- und Gegeneinander ökologischer Systeme ist das nichts Besonderes. Besonders ist in diesem Fall die spezielle Natur des einen Tieres. Des Menschen [...] Doch egal, wie mächtig ein Tier ist - allein existieren kann es nicht. Wie das Moor-Wiesen-Vögelchen lebt der Mensch in einem komplexen ökologischen Gefüge."

Habekuss/Ulrich unterfüttern ihre Ausführungen mit vielen drastischen Beispielen. Sie bedienen sich dabei auch jener Polemik, die ich so überaus schätze, weil man vor so manchen menschlichen Absonderungen und Idiotien nicht nur fassungslos steht, sondern  sich auch der Max Liebermannschen Erkenntnis nicht entziehen kann, dass man eigentlich gar nicht so viel fressen kann, wir man kotzen möchte. Zunächst stellen die beiden lapidar fest, dass

"sich viele Menschen immer noch so verhalten, als müssten sie ihr Überleben der Natur abtrotzen, als befänden sie sich weiterhin in einem archaischen Ringen mit den Kräften der Wildnis, als wären sie in permanenter Notwehr und berechtigt, alles zu essen und zu töten, was ihnen hinderlich oder appetitlich vorkommt (dazu weiter unten mehr)." Wenn auch sicher marginal, so dennoch als polemischer Seitenhieb gestattet, zumal uns am 24.12. ja ein Kindlein geboren werden wird, ohne das es das Narrativ der Schöpfung(sgeschichte) nicht gäbe: "Noch immer gehen wohlhabende Westler in Afrika auf Großwildjagd, lassen sich triumphal neben einem toten Löwen ablichten. Aber auch diese Großkatzen sind oft schon gezüchtet, da könnten die Herren auch gleich nach der Arbeit mit dem Taxi in den Zoo fahren und einen Löwen abknallen. In solchen Ritualen des Triumphierens und Einverleibens feiert sich nur noch eine leer gelaufene Archaik."

Apokalypse

Habekuss/Ulrich referieren Ausmaß und Dynamik des Artensterbens und werden nicht müde zu betonen, dass ein so komplexes Säugetier wie der Mensch eine sehr komplexe Natur brauche:

"Er braucht eine bewohnbare Umgebung, er muss auch selber bewohnt sein, von Bakterien, Pilzen und Viren. Nur die wenigsten stehen dem menschlichen Körper feindlich gegenüber. Auf die meisten dieser mikroskopischen Mitbewohner ist der Mensch schlicht angewiesen. Worum es beim Artensterben, beim Verlust der Vielfalt des Lebens geht, ist tatsächlich schwer zu fassen. Es handelt sich um eine Apokalypse: Am Ende des Prozesses könnte eine Welt stehen, auf der für Menschen kein gutes Leben mehr möglich ist."

Sollte nun jemand die Natur oder die Erde noch nicht in der notwendigen nüchternen und abgeklärten Weise sehen, dann helfen vielleicht folgende Hinweise:

"Aber die Erde ist eine Nihilistin. Ihr ist das Sterben egal. Evolution kennt kein Ziel, und Natur ist zwar ein Wert, hat aber keine Werte. Ein paar Millionen Jahre später, un die Artenvielfalt dürfte wieder so groß sein wie heute. Vielleicht gibt es dann zwei Meter große Ratten, die über die Welt herrschen. Oder keine Wirbeltiere mehr. Dafür intelligente Schleimpilze. Wen es wirklich interessieren sollte, ab wann das Erdsystem so instabil wird, dass es ungemütlich wird: den Menschen."

Nachtrag: Zoonosen

By the way weisen Habekuss/Ulrich darauf hin, dass es - mit Blick auf Sars-CoV-2 - einen Zusammenhang gebe zwischen dem Grad der Zerstörung von Ökosystemen und dem Ausbrechen von Infektionskrankheiten: "Kurz gesagt: je kaputter, desto tödlicher." Erst neuerdings verbreite sich der Fachbegriff für Tierkrankheiten, die auf Menschen überspringen - Zoonosen - auch außerhalb wissenschaftlicher Publikationen:

"Ebola-Viren werden von Fledermäusen übertragen. HIV stammt von Schimpansen. Zika von Primaten, genau wie Hepatitis. Und wann begegnen solche Tiere Menschen? Wenn sie gejagt und gegessen weren oder in die Dörfer kommen, weil ihr Lebensraum zerstört ist. Viren suchen nicht nach neuen Wirten, sie werden übertragen."

Das war ja erst das erste Fensterchen, durch das wir schauen durften/müssen; mal sehen, was uns morgen erwartet(:-)

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund