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Spendenflut von Anna Mayr ZEIT 32/21, Seite 2 - mein Leserbrief dazu

Wir benötigen auch das: die nüchterne, abgeklärte Analyse aus der räumlichen und emotionalen Distanz heraus. Ich war sieben Tage in meiner Heimatstadt Bad Neuenahr, in der meine Herkunftsfamilie gleich drei Mal betroffen ist, als Helfer. Inzwischen erhole ich mich auf der Insel Juist und genieße das ewige Wechselspiel von Ebbe und Flut. Während ich hier schreibe, kämpfen meine Verwandten weiter um eine Zukunftsperspektive – unterstützt von Profis und vielen freiwilligen Helfern. Es geht mir um einen Kerngedanken, den ich bei Anna Mayer – ernüchtert – aufgreife, und den ich vertiefen möchte; sie schreibt sozusagen krisenübergreifend und krisenverlaufstypisch:

„Nach dem erschütternden Ereignis tritt die Gemeinschaft kollektiv in die ‚Flitterwochen-Phase‘ ein. Es gibt ungewöhnlich viele Hilfsangebote, politisch wie persönlich. Dann, nach ein paar Wochen, folgt die Phase der Desillusionierung. Die Opfer merken, dass die Hilfen nicht gerecht verteilt sind und nicht so leicht zu kriegen. Sie spüren auf einmal unbefriedigte Bedürfnisse, die der Schock abgestellt hatte. Sie fragen, wer Schuld hat.“

Ihrer ernüchternden und fatalistisch anmutenden Argumentationslinie setzt Anna Mayr folgende, zarte Version für eine Revolte entgegen: „Diese zynisch klingende Vorhersage entsteht nicht aus Fatalismus, sondern aus dem naiven Glauben, dass es auch anders sein könnte. Dass der Mensch sich für das Rationale entscheiden kann, gegen das eigene Leid in der Zukunft.“

Ich greife ihre Flitterwochen-Metapher auf und versuche ihr eine zukunftsfähige Perspektive zu verleihen. Dabei muss man Anna Mayr‘s Annahmen sicherlich ernst nehmen, wenn sie davon ausgeht, dass

  • Hilfe und Wiederaufbau sich so ungerecht vollziehen werden, wie die Welt selbst eben sei;
  • am Ende nicht alles gut werde, weil viele so weitermachen, wie bisher – „ohne Nahrungsmittelreserven im Haus, aber mit einem SUV vor der Tür“ – wer heute zehn Euro an die Flutopfer spende, müsse nicht darüber nachdenken, zu welchen Zumutungen er im eigenen Leben bereit wäre, damit es keine Flutopfer mehr gibt;
  • im akuten Fall Nothilfe als heroisch wahrgenommen werde, vorsorgende Hilfe hingegen als Bevormundung: „Unheroische Prävention sollte uns gerade jetzt viel, viel näher sein als heroische Nothilfe. Denn Nothilfe schafft dort, wo sie nötig ist, wieder Leid.“

Wie gelangt man nun zu einer Perspektive, die sowohl das Situative überdauert als auch das strukturelle Moment transformiert? Peter Fuchs spricht – um Anna Mayr’s Flitterwochen-Metapher aufzugreifen – im Soziologendeutsch von der „wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz“. Und der Paartherapeut Arnold Retzer plädiert – weil er weiß, dass die romantische Flitterwochenphase eher begrenzt ist, auf lange Sicht für eine vernunftbasierte, vertraglich abgesicherte Partnerschaft im Eheverhältnis, das auf Wechselseitigkeit beruht.

Ich räume gerne ein, dass ich – wenn auch von Juist aus mit Abstand – gleichwohl noch aus der unmittelbaren Betroffenheit argumentiere. Gleichwohl frage ich mich, wie viele Katastrophen wir benötigen, bis dass nicht nur die Politik, sondern jeder einzelne begreift, dass wir innerhalb einer dynamisierten Risikogesellschaft (Ulrich Beck) nicht alleine – gegen alle – überleben können. Die gigantische, über alle Maßen beeindruckende Hilfswelle wird abflauen. Anna Mayr schreibt vorausschauend:

„In die Phase der Desillusionierung fällt der Jahrestag des Ereignisses. In einem Jahr werden Sie wahrscheinlich einen Text in der ZEIT lesen, in dem eine Betroffene (sie heißen dann nicht mehr ‚Opfer‘) über die Bürokratie klagt, die es braucht, um die staatlichen Hilfen zu erhalten… Auf einem Grundstück wird noch zu erkennen sein, wo einst ein Haus stand und nie wieder eines stehen wird.“

Und ich möchte folgende These in den Raum stellen: Eine vorsorgende, gleichermaßen klimabegleitende wie klimasensible Politik wird nicht in einem (welt-)gesellschaftlichen Kontext gelingen, in dem weiterhin – wie der SPIEGEL-Autor Arno Frank schreibt –

„Reichtum so absurd verteilt ist, dass ein paar wenige Clowns mit großem Trara in den Kosmos aufbrechen können, während das Gros auf einem Planeten verharren muss, der in ökonomischer und ökologischer Hinsicht apokalyptischen Verhältnissen entgegentrudelt…“; wobei – nebenbei bemerkt, auch den Clowns die Rückkehr aus dem Orbit nicht erspart bleibt.

Und niemand kann mir noch die Idee verkaufen, dass das Vordringen in unanständige pecuniäre Galaxien das Antriebsmoment sei vor allem auch für eine Intelligenz, die sich wissenschaftlicher und innovativer Forschung und ihrer ökologisch angemessenen Anwendung verschreibt. Die Zurechnung von geistiger Leistung und die faktische Verfügung über große (Geld)Vermögen hat vermutlich noch nie wirklich verfangen – eine neoliberal genährte Tellerwäscher-Ideologie gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Die grundgesetzlich verbriefte Vorstellung davon, dass Eigentum verpflichtet, muss in einem weltgesellschaftlichen Maßstab neu gedacht werden.

Fatih Birol (Direktor der Internationalen Energieagentur) vertritt – ebenfalls in der ZEIT (31/21, S. 21) in einem Interview mit Mark Schieritz die Auffassung, dass es möglich sei,

„die Nettoemissionen von Kohlenstoffdioxid bis 2050 auf null zu senken, um hoffentlich die globale Erwärmung wie international vereinbart auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen“. Er habe selten so viel politisches Engagement erlebt wie derzeit beim Thema Klimaschutz – im Norden wie im Süden, in den reichen Ländern genauso wie in den armen Staaten. Die Leute wollten, dass weniger Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen werde. Das sei überall zu spüren.

Ich glaube, mit den Leuten, die Fathi Birol im Visier hat, dessen eigentliche Aufgabe die Sicherung der globalen Ölversorgung ist und der jetzt einen Plan vorlegt, wie die Welt ohne Öl auskommt, sind (auch) wir gemeint; wir, die wir im September mit unserem Votum auch darüber entscheiden, wie ernst Klimapolitik als das entscheidende Politikfeld genommen wird.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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