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George Steiner - Teil III: Über die Liebe

Teil I und Teil II

Das ist jetzt tatsächlich eher Lektüre für diejenigen, die sich nach Detlef Klöckners paartherapeutischer Phaseneinteilung bereits im Fürsorglichen Finale bewegen. George Steiner gibt uns (in Kapitel 11, S. 199-222) eine Perspektive, indem er sich in agnostischer Bescheidenheit übt:

"Nichts in der Naturwissenschaft oder im logischen Diskurs kann die von Leibniz gestellte Frage aller Fragen lösen oder verbannen: 'Warum ist da nicht nichts?' Das positivistische Dekret, wonach ein erwachsenes Bewusstsein im Hinblick auf die Welt und auf die Existenz nur 'Wie?' fragt und nicht 'Warum?', ist Zensur der obskurantistischsten Sorte. Sie würde die Stimme der Stimmen in uns ersticken. Selbst auf der Ebene des 'Wie?' ist es keineswegs sicher, dass die majestätischen Naturwissenschaften beweisbare Antworten finden werden.

Die autoritative Erklärung, auf die ich bereits hinwies, wonach esw irgendwie unzulässig oder kindisch sei, nach der Zeit vor der Zeit, nach der Nanosekunde vor dem Urknall zu fragen, hat etwas peinlich Ausweichendes und Sophistisches an sich. Für mich gibt es einen so unleugbaren Druck einer Präsenz, die exterritorial zur Erklärung steht (wobei die Musik das alltägliche, aber unergründliche Analogon zu genau diesem Druck einer Präsenz ist). Dennoch bleibt das Problem bestehen. Wie kann 'das ganz Andere' auf uns einwirken oder gar ein Signal seiner zutiefst unzugänglichen Existenz geben (S. 217)?"

Den Übergang zum Mysterium menschlicher Existenz auf der Ebene nicht so ohne weiteres erklärbarer Phänomene leitet George Steiner mit einer kindlichen Phantasie ein:

"Ich habe mir, kindisch phantasierend, die Frage gestellt, ob die menschliche Geschichte nicht der vorübergehende Alptraum eines schlafenden Gottes ist. Ob Er daraus nicht erwachen wird, um den Schrei des Kindes, das Knebeln des geschlagenen Tieres ein für allemal unnötig zu machen."

Dann hebt Steiner an - wie schon so viele vor ihm - sich der Liebe zuzuwenden und bleibt dabei zunächst auf der Ebene einer begrifflich logischen und dialektisch vermessenen Wirklichkeitsbeschreibung: "Liebe ist die dialektische Entsprechung zu Haß, ihrem spiegelbildlichen Gegensatz" - schützt sich aber dann vor vorschneller sprachlogischer Auflösung des Mysteriums, indem er betont, Liebe sei in wechselnder Intensität "das gebieterische Wunder des Irrationalen". Und auch im Nachgang - ich erinnere mich an David Schnarch - verharrt George Steiner zunächst einmal auf dem uns - hoffentlich, zumindest in der Erinnerung - doch so vertrauten, wenn auch eher singulären, Erlebenshorizont:

"Beim Anblick, beim Klang der Stimme, bei der geringsten Berührung des geliebten Menschen in seinem innersten Geist, Nerv und Knochen erzittern; Mittel und Wege finden, sich abmühen, ohne Ende lügen, um den geliebten Mann oder die geliebte Frau zu erreichen, in seiner/ihrer Nähe zu sein; die eigene Existenz - persönlich, öffentlich, psychologisch, materiell - in einem unvorgesehenen Augenblick verwandeln, aufgrund und infolge von Liebe; unaussprechliche Schmerzen und Leere bei der Abwesenheit des/der Geliebten, beim Welken von Liebe durchzumachen; das Göttliche mit der Emanation von Liebe gleichsetzen, wie es aller Platonismus, und das heißt das abendländische Modell der Transzendenz, tut - das bedeutet, dass man an dem alltäglichsten und unerklärlichsten Sakrament im menschlichen Leben teilhat. Es bedeutet,nach seinen persönlichen Möglichkeiten, die Reife des Geistes zu berühren."

George Steiner weist darauf hin, dass es hier nicht um Heilsversprechen und Erlösungsphantasien geht, sondern unter Umständen - wie er wörtlich meint - "das ungewählte Band" bis hin zur Selbstzerstörung, (wechsel-)wirkend zwischen Individuen, die füreinander eklatant ungeeignet sind. Dies schließt generell abwertende Haltungen ein, wie sie Roland Barthes in den Fragmenten einer Sprache der Liebe (siehe hier das zentrale Kapitel in Kopfschmerzen und Herzflimmern, Seite 42-105) darlegt. Bereits hier legt George Steiner wert auf die Feststellung, dass Sexualität nebensächlich bzw. vorübergehend sein oder auch völlig fehlen könne. Steiner spricht dann von Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs - 

"Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist."

George Steiner ringt sich - ganz und gar in Entblößung seines Innersten - zu dem Bekenntnis durch, eine ganze regendurchweichte Nacht hindurch dagestanden zu haben, um einen Blick von der Geliebten, wie sie um die Ecke kam, zu erhaschen:

"Vielleicht war sie es noch nicht einmal. Gott erbarme sich derer, die nie die Halluzination eines Lichtes gekannt haben, das während solchen Wachens die Dunkelheit erfüllt."

Kurze Randbemerkung persönlicher Sache: Vor etlichen Jahren schon, habe ich Sinne David Schnarchs (siehe weiter oben) und letztlich auch im Sinne George Steiners das Erbarmen Gottes gefühlt und einen der Wendepunkte in meinem Leben in ein entsprechendes Licht getaucht - Ich weiß es noch! Nunmehr ermuntert mich Steiner intensiv darüber nachzudenken, ob ich es noch einmal wagen soll - ausgehend von diesem lebensbestimmenden Wendepunkt zu erzählen; meine Geschichte(n) zu erzählen in einem ganz neuen Ton mit ganz neuem Klang!?

In seinen Schlussbemerkungen entfernt sich George Steiner von einer agnostizistischen Haltung und bekennt auf merkwürdig berührende und bescheidene Weise, vielleicht - aus welchen Gründen auch immer - zutiefst demütig und dankbar:

"Aus der unvernünftigen, unanalysierbaren, oft verderblichen Allmacht der Liebe stammt der Gedanke - ist es wiederum eine Kinderei? -, dass 'Gott' noch nicht ist. Dass er erst dann ins Sein treten oder, präziser, in manifeste Reichweite menschlicher Wahrnehmung gelangen wird, wenn es einen unendlichen Überschuss von Liebe, über Hass gibt. Jede Grausamkeit und jede Ungerechtigkeit, die Mensch oder Tier zugefügt werden, rechtfertigen die Befunde des Atheismus, insofern sie Gott an einem Kommen hindern, das allerdings ein erstes wäre. Doch ich vermag selbst in den schlimmsten Stunden dem Glauben nicht zu entsagen, dass die beiden bestätigenden Wunder der sterblichen Existenz die Liebe und die Erfindung der Zukunft beim Verb sind. Ihre Verbindung, wenn sie je geschehen wird, ist das Messianische. 'Wer groß denkt, muss groß irren', sagt Martin Heidegger, der Parodist und Theologe unserer Zeit (wobei das Wort 'Parodist' in seinem tiefsten Sinne gemeint ist). Auch diejenigen, welche 'klein denken', können groß irren. Das ist die Demokratie der Gnade, oder der Verdammnis."

Für Rudi ganz zum Schluss: George Steiner: Errata - Bilanz eines Lebens - ist mir aus dem Nachlass von Ernst Begemann (durch Deine Vermittlung) zugekommen (nach Jahren werde ich noch einmal zur Kehr fahren und eine Kerze entzünden, dass ich  E r r a t a  vor dem Vernichtungswahn einer Hundsföttin gerettet habe). Hunderte, aberhunderte von Büchern haben wir gelesen, gefressen, konsumiert. George Steiner, den ich jetzt in Zeiten des zweiten Lockdowns entdeckt habe - ohnedies hätte ich mich vermutlich nie verstiegen (wie in Teil I auch fast resignierend angemerkt) -, liegt vor mir, wie eine Offenbarung. Niemand von uns vermag die Perspektiven miteinander zu verweben, die sich aus der Tatsache ergeben, dass hier ein polyglotter (unorthodoxer) Jude sich erinnert, der - 1929 geboren - vor den Nazis flieht, zugleich das europäische Bildungsbürgertum in höchster Vollendung verkörpert. In Demut und Dankbarkeit stehe ich vor diesem Buch und grüße Dich herzlich.

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund