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Großväter – Großeltern - Tastversuche I

Nun bin ich also selbst Großvater – wir sind Großeltern!

Großeltern bezeichnet die 2. Vorfahrengeneration einer Person: die Eltern ihrer Elternteile, zwei Großmütter und zwei Großväter, auch Oma und Opa genannt. Im Wikipedia-Beitrag lässt sich lesen:Bei einer Untersuchung in der Schweiz bezeichneten über 90 % der befragten Enkel und Großeltern die Beziehung untereinander als wichtig. Die Mehrheit der Enkel charakterisierte ihre Großeltern als liebevoll und großzügig, eine Minderheit als streng und ungeduldig.

Als besonders wertvoll wurde genannt, dass Großeltern für ihre Enkel da waren, ihnen zuhörten und Zeit für sie hatten. Die Befragung der Enkel ergab, dass für eine lebendige Beziehung eine relativ gute körperliche und psychische Gesundheit der Großeltern erforderlich ist und dass diese wichtiger ist als ihr tatsächliches Alter […] Mehrere Studien belegen eine positive Wirkung der Betreuung durch Großeltern auf den Spracherwerb der Enkel […] Ende der 1980er zeigten Untersuchungen an etwa 400 Großeltern, Eltern und Enkelkindern aller Altersgruppen, dass für die Zufriedenheit mit der Großeltern-Enkel-Beziehung und die Intensität dieser Beziehung weniger die Häufigkeit der Kontakte an sich als vielmehr genügender Kontakt unter vier Augen ausschlaggebend war. Als wichtige positive Faktoren wurden vor allem die emotionale Unterstützung einschließlich Schmusen und vertrauensvoller Gespräche, der fehlende Leistungsdruck, der fehlende Erziehungsauftrag, die verfügbare Zeit und die uneingeschränkte Akzeptanz der Enkel hervorgehoben.“

Was mich besonders fasziniert und herausfordert hängt mit einer Randbemerkung im Wikipedia-Kontext zusammen: Großeltern ermöglichen ihren Enkeln einen Blick auf die Familiengeschichte und dienen häufig als Vorbild.

In meiner eigenen Familie gibt es keine Tradition in dieser Hinsicht; es gibt keine Aufzeichnungen zur Familiengeschichte im Sinne einer Ahnentafel oder einer Familienchronik. Da beginnt mit mir etwas, was mit Blick auf meine(n) Enkel aber immerhin einen Blick zulässt bis in die Generation der Urgroßeltern. Wenn Leo – und wer da noch kommen mag (inzwischen ist Jule schon 3 1/4 und Anouk ist heute ein Vierteljahr alt geworden, und Leo wird am 8. Mai schon fünf Jahre alt) – sich einmal die Frage stellt, wer ihm denn so vorausgegangen ist, dann hat er über meine Aufzeichnungen Anstöße und Gelegenheiten sich einige Fragen beantworten zu können, vermutlich aber auch neue zu stellen. Meine Hoffnung geht freilich in die Richtung, die der Wikipedia-Beitrag andeutet. All dies soll tief eingebettet sein in eine warmherzige, vertrauensvolle Beziehung, die allen Enkeln eben jenen Wind vermitteln, den ich meinem Großvater mütterlicherseits verdanke. Die hier zusammengestellten Erinnerungen sollen aber nicht bei den Großvätern (Großeltern) halt machen. Gleichwohl beginne ich mit einem Gedicht, das – en passant entstanden –, wie auch das darauf folgende, eine Hommage an meinen Großvater mütterlicherseits darstellt. Er hat mein Leben begleitet durch Kindheit und Jugend bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr. Das war insofern in besonderem Maß der Fall als die beiden Elternhäuser meiner Eltern Hausbacke an Hausbacke in der Kreuzstraße 111 und 113 standen, verbunden mit einem gemeinsamen, zaunlosen Gartenterrain. Meines Großvaters Berufswunsch – so gehen die Erzählungen – ist ihm zeitlebens versagt geblieben. Er wollte wohl Metzger werden und hat, da ihm seine Mutter dies nicht gestattete, als Autodidakt das Schächten erlernt, das betäubungslose Töten des Schlachttieres mit einem rasierklingenscharfen, schartenfreien Messer. Er hat – so lange Juden in Bad Neuenahr lebten – für jüdische Familien geschlachtet und hat es auf diese Weise in jüdischen Kreisen zu Wertschätzung und Ansehen gebracht. Im zweiten Gedicht – Orte – ist davon unter anderem die Rede. Zunächst aber die Hommage an meinen Opa Josef. Ich habe meinen Namen im Übrigen durch die Kombination der Vornamen meiner beiden Großväter erhalten: Franz Josef!

 

Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe

Aus dem Ofen in den Laden,
und von dort auf unsern Tisch
große, kleine Fladen,
neben Wurst ein wenig Fisch.
Mit der Hand in meinen Mund,
eingeschleimt, zerkaut dann in den Schlund,
hinein in jenen Magen,
der nunmehr hat das Sagen:
Durchsäftet, angedaut
wandert dann der Brei
durch Dick und Dünn
- nein eher umgekehrt -
bevor er wurstet sich von dort
hinein in jenen Ort,
der heute
- komfortabel -
mittels Wasserspülung
alle Reste von dem Feste
schwemmt durch dunkelste Kanäle
fort!

Fort
in jene düstren Hallen,
wo einst mein Ahn
die Last von allen saubren Leuten nahm.
Klärwerk heißt der Ort,
an dem ich kam
vom Ahnen hin zum Wort,
dem ich fortan huldigte.

So dank ich ihm,
dem Ahn,
der mich beseelte,
in mir als Kind das Licht erweckte,
mit dessen Kraft
ich fortan Wort für Wort
und auch die Welt entdeckte.

 

Diese Entdeckungsfahrt nimmt so richtig Fahrt aber erst in Orte auf. Dieses ein wenig apokryph, dunkel und undurchsichtig daherkommende Epos offenbart einen merkwürdigen Widerspruch zwischen der schlichten und denkbar einfachen Herkunftsgeschichte meiner beiden Herkunftsfamilien und einer damit deutlich in Kontrast geratenden Sprach- und Wortgebung. Vor fünfundzwanzig Jahren entstanden, verführt es heute dazu, die schlichten, gleichwohl geheimnisvollen Welten hinter dieser Sprachwelt hervorzuholen. Der Reiz seinerzeit und bis heute liegt für mich vor allem darin, zu zeigen, wie sehr Herkunft und Ankunft und die Reise dazwischen Spannungen offenbaren, die in einer schlichten, realistischen Beschreibung von objektiven Gegebenheiten weder Leuchtkraft noch sprachliche Originalität beanspruchen könnten. Denn die Form erzeugt eben auch den ganz besonderen Zugang zu jenem Mythos und jener Aura, den ich meiner eigenen Kindheit und Jugend zuschreibe:

 

Orte – meinem Großvater mütterlicherseits

 

Ich heiße Josef (neben Franz),
und ich bin der Enkel
einer deutschen Eiche:
Josef -
stark und breit,
sanft und gewogen,
leicht gebeugt - ein Kraftwerk.

In Deinem Haus -
keine Bilder, keine Bücher,
„da hingen keine Gainsbouroughs“;
der „Volksempfänger“ bis zuletzt!
Und doch:
Jede Sekunde gelebten Lebens
respektvoll:
Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen
- alle!

Und herausgeschnitzt
(auch diese) Linie(n)
- erzählten Lebens:
Der Eigensinn, die Unvernunft
- da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,
wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!

Nein!
Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.
Masuren 1914 -
steckte in Deiner Seele,
und
- Eisen - als lebenslange Depotgabe
in Deinem Körper.

Warst kein Schweijk,
und kein Jünger der Stahlgewitter.

Merkwürdig konstruierte Intuition,
assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“

- Ja, ja!

Gelernt hast Du das Schächten
(dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).
Metzger wolltest du werden -
und warst früh schon geschätzter Experte,
wenn es die Gottschalks,
die Oppenheimers,
die Wolffs
und Lichtendorffs
koscher haben wollten.

Merkwürdige Synchronizität:
Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen
– wusstest Du jemals wie?

Alles Millionäre in Amerika!?
Und Du?
Ohne Profession!
Verlust bei Verlust.
Stiller Gewinner die Stadt:
Zumal die untersten Chargen
- die städtischen Arbeitskolonnen -
besetzt mit Spitzenkräften.

Für mich warst du
der immer schon alte, starke Mann:
Im Schiefer der Weinberge;
als Führer zu den mythischen Orten der Kindheit,
wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.
In den lehmigen Gruben,
stiller Bereiter der letzten Wege,
(wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,
wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste).

Dann wieder ein Ort,
wo die Fontänen des Lebens sprühn!
Lebendige Kindheit -
Salz und Sonne auf unserer Haut!

Geheimnisvoll aber,
mythisch,
dionysisch
und gewaltig jener Ort.
Die Hallen,
in denen
Anfang und Ende zusammenfließen:

Wir lebten am Rande,
der letzten Bastion zivilisierten Lebens.
Von dort 3000 Meter
wildes Land:
Zuerst die Abraumhalden der Stadt
- Schutt.

In der anderen Welt,
jenseits der Ahr,
gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien
die in den Hades übergehenden Prozessionen,
wo Staub kommt zu Staub.

Auf unserer Seite die Niederungen,
Sumpf- und Schwemmgebiet,
worin sich alle Urgewalt verläuft:

Hier duckt sich der Ort,
hinter Haselnüssen und Hainbuchen,
ein Bunker,
flach
und bestimmt von Diagonalen
- sanft ansteigende Schrägen.

Zuerst lockt eine Stube,
verwinkelter, tetraedischer Kubus,
kristalliner Raum einer ganzen Welt:
Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme
- fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;
die Augen gehen über.

Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:
An den Wänden das illustrierte Feuerwerk
der formierten Gesellschaft:
Beauties und Katastrophen,
Abziehbilder medial markierten Raums.

Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.
Dünn und vernehmlich,
bedrohlich,
aber (noch) gebannt
im Kreis der alten Männer:

Schwerer Moschus aus Tabak,
Manschester -
sinfonische Höhepunkte,
wenn Bohnen und Speck,
Schweinebraten und Kohl,
Wirsing und Gulasch Geruchsnischen besetzen,
wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,
der die Kleinode unserer Küche bewahrt;
und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.

Von Zeit zu Zeit
- in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -
verläßt Du die Stube.
Dann ergreife ich Deine Hand
selig geborgen,
gerade genug,
um standzuhalten,
denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,
anschwellendes Rauschen,
noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.
Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren
an des Wächters Hand -
vor dem Allerheiligsten?

 

Hier sollte nun Teil zwei der Orte folgen. Angesiedelt in einer Kindheit in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man den Eindruck, all dies entzieht sich vollständig dem Zugang der Nachgeborenen. Am ehesten ließe sich der Faden weiterspinnen mit den Spiel- und Jugendgefährten seinerzeit - gewissenmaßen auf Augen- bzw. in diesem Fall auch auf Riechhöhe. Mein Bruder ist vor 26 Jahren tödlich verunglückt, Bernd - unser verrückter Jopa - ist 1995 an der Nadel geblieben, Peter-Georg - mein alter ego in Kindheit und bis zum Ende der Volksschule - ist 2010 einer Krebserkrankung erlegen, sein Bruder, Karl-Heinz, der Jüngste von uns Fünfen, ist 2018 verstorben. Ganz sicher war es 2002 bereits angemessen meinen ersten biografischen Selbstversuch mit dem Titel zu versehen: "Ich sehe was, was Du nicht siehst - Komm in den totgesagten Park und schau". Willi, mein Bruder und Bernd/Jopa waren schon nicht mehr unter uns. Peter-Georg und Karl-Heinz haben meinen 50sten Geburtstag noch mitgefeiert - im Café Hahn.

So bleiben mir - auf die 70 zusteuernd - die durch Orte auslös- und erinnerbaren Phanatasien; als solche werden sie in der Regel bei dem Versuch, ihnen Gegenwartsrelevanz zuzubilligen, begrenzt bzw. zurückgewiesen. Je älter ich selbst werde, um so deutlicher steht mir allerdings vor Augen, wie prägend und persönlichkeitsfärbend die Einflüsse dieser Kindeheit und Jugend wohl waren:

Du lebst am Ende der Stadt, an ihrem östlichen Rand, deutlich separiert von ordentlichen, städtischen Straßenzügen, drei Häuser - wie ausgesiedelt, überhaupt nicht zueinander passend, vor allem Disharmonie und das Ende der Kreustraße signalisierend - der Asphalt ist glatt wie ein Spiegel, ideal für Hockeyschlachten auf Rollschuhen. Dort, wo die Menschen sich noch in Gruben entleeren, wächst Du auf - gemeinsam mit einer 10 Jahre älteren Schwester, Deinem 3 1/2 Jahre jüngeren Bruder, Deiner Cousine und Deinen Spielgefährten. Die Kreuzstraße führt ins Nichts. Das Nichts ist angefüllt mit Schutt - 200 Meter östlich, jenseits besiedelten Gebietes erstreckt sich der städtische Schuttabladeplatz, in Zeiten vor aller Mülltrennung, Metzgereiabfälle verrotten neben Hausmüll und Sondermüll nahezu jeder Kategorie. Die Müllhalden werden abgefackelt, kein Tag ohne Rauch, Knacken und Knistern, wehe der Wind weht aus östlicher Richtung. Dies ist das Paradies, nicht nur für uns, sondern für Myriaden von Ratten. Aber zwischen Schutt und dem Fußballplatz - auf der anderen Straßenseite, exakt auf der Höhe der Kreuzstr. 111 bzw. 113 - da ist nicht nur das Paradies, dort ist der Himmel, die Zirkuswiese, auf der Zirkus Krone und Zirkus Sarrasani gastieren und ansonsten das fahrende Volk. Heute würde man Sinti un Roma sagen, die mit ihren Karrossen und Wohnwagen ihr Lager dort aufschlagen, bei uns zu Hause um Wasser anfragen, bis das der städtische Wasserversorger dort endlich einen Hydranten installiert und so jederzeit einen Zugang zu fließendem, sauberem Wasser garantiert.

Es mag die Zeit zwischen meinem elften/zwölften bis hin zu meinem vierzehnten oder fünfzehnte Lebensjahre umfassen. Auf einem Damenfahrrad mit tiefem Einstieg - am Lenker eine Einkaufstasche fixiert - verlasse ich die befestigte Kreuzstraße und gelange über einen Feldweg zwischen die Felder und Wiesen. Hier bewegt man sich nach und nach in die Uferzone der Ahr. Trauerweiden, Hainbuchen und im Herbst der gelbe Heinrich sorgen für eine üppige Vegetation. Es ist die Passage zwischen der Kurstadt Bad Neuenahr und den ahrabwärts folgenden Dörfern, Heppingen und Heimersheim. An der Brückenquerung, die Heppingen und Heimersheim verbindet, befindet sich unterhalb der Brücke mit einer rampenförmigen Zufahrt die städtische, mechanische Kläranlage.

Ich habe mich damals wie ein Prinzenkind gefühlt, das einem außerordentlichen Privileg huldigen durfte. Nicht im Entferntesten wäre ich auf die umgekehrte Idee gekommen und hätte eine Bewusstsein dafür ausbilden können, dass sich der Sachverhalt eher umgekehrt darstellte: Mein hochverehrter Großvater gehörte zu einem im Schichtbetrieb arbeitenden Trupp von Klärwärtern, die die anfallenden Fäkalien abräumten, zu Abraumhalden auftürmten, die regelmäßig von Pferdefuhrwerken und Lastkraftwagen abtransportiert wurden. Und jedem, der auserkoren war, mich zuweilen dorthin zu begleiten, widerfuhr eine außerorderntliche Ehre.

Vielleicht kann ich an dieser Stelle verdeutlichen, warum ich wohl mit einem Abstand von mehr als 35 Jahren einen Wortzauber entworfen habe, den ich syntaktisch nur rudimentär in feste Strukturen gießen wollte/konnte. So galaktisch meine subjektive, kindliche Wahrnehmung von der öffentlichen, sozialen Wahrnehmung geschieden war, so sehr wollte ich dem kindlichen Mysterium sprachmächtig zu einer singulären Repräsentanz in der Welt der Kunst - der Sprachkunst verhelfen. Die Melange zwischen der gewaltigen Statur und Präsenz meines Großvaters und den Orten, die ich aufnehme und aufleben lasse, dient der liebevollen Würdigung großväterlicher Fürsorge und Liebe. Was ich auch von meinem Ahnen genommen habe (siehe oben), ist der Versuch, die Unmittelbarkeit einer allumfassenden Wertschätzung, einer besonderen Wahrnehmung durch den Großvater, die zwischen liebevoller Zuwendung und Zutrauen alle Facetten großväterlicher Aufmerksamkeit einschloss, in die Mittelbarkeit zu übersetzen, die sich in meinem Versuch manifestiert, die familiären Ermöglichungen in einem langen Bildungsweg für mich zu nutzen. Auf diese Weise gerät dann der Großvater auch noch einmal unmittelbar in den Blick des Enkels:

  • Es beginnt bereits mit der Namenspatronage, wobei mir die Tatsache, dass ich meinem Vatersvater - er starb, wie meine Großmutter väterlicherseits - vor meiner Geburt - nicht begegnen durfte, wie ein beharrlicher Stachel gegenwärtig bleibt. Und die deutsche Eiche schien mir ein angemessenes Bild, knorrig, schief, gebeugt - aber bei alledem kraftvoll und Schutz gewährend für den einen Großvater - den Großvater aller Großväter.
  • Die Bildungsferne ist Signum familiärer Ausgangslage nach beiden Seiten. Dass sich Bildungsferne nach Erwin K. Scheuch in den Attributen weiblich, ländlich und katholisch offenbare, war für uns, zu Beginn der 50er Jahre geborenen Jungs hinsichtlich des Geschlechts noch nicht trennscharf genug - es umschloss uns nahzu ausnahmslos (fernab der ca. 15%, denen der Übergang aufs Gymnasium ins Stammbuch geschrieben war). Hier aber bereits mit Bildungsdünkel aufwarten zu dürfen und anzuschließen an Gottfried Benn (immerhin aus Pastorenhaus) ist ein unübersehbares Zeichen für sozialen - bildungsfundierten - Aufstieg. Der Kontrapunkt dazu ist Herzenbildung. Nicht von ungefähr sage ich in Rezos Messlatte, dass ich Herzenswärme und Urvertrauen aus meiner Herkunftsfamilie mit in die Welt genommen habe.
  • Lebensläufe - Biografien, erst recht in lyrische Formen gegossen, sind hochanspruchsvolle und ambitionierte Inkonsistenzbereinigungsprogramme!(Passwort: wiro2015) Diese Niklas Luhmann geschuldete Erkenntnis fordert bereits im dritten Abschnitt von Orte ihren Tribut. Mein Großvater - so gehen die Erzählungen - war ein Hitzkopf und vor allem nicht frei von Jähzorn; dazu passt Unvernunft - hier vielleicht die Kehrseite einer lebensgefährlichen Authentizität. In Bad Neuenahr kannte man sich, mein Großvater gehörte zur kaiserlichen Garde, ist möglicherweise in seinem Habitus ein Monarchist geblieben. Da kam ein Etappenhengst brauner Provinienz gerade recht, um sich Luft zu verschaffen gegenüber einer unerträglichen Arroganz der braunen Emporkömmlinge. So geht halt die Geschichte, dass man handgreiflich aneinandergeriet. Und da war in der Tat mit Lahnsteins Jupp nicht gut Kirschen essen. Beide haben überlebt - über das Ende des tausendjährigen Reiches hinaus.
  • Ja Habitus - vorbewusste, reflexionsfreie Zone. Eigene Überzeugungen mussten weder diskutiert noch legitimiert werden. An der Ostfront in Ostpreußen/Masuren - mein Großvater war Soldat im Ersten Weltkrieg - fand die Zu- und Ausrichtung statt, inclusive der eigenen Versehrtheit. Kurz vor seinem Tod bei einer Fußwaschung - nicht ganz, aber doch ein bisschen auch rituell, mehr aber der Hygiene geschuldet - habe ich noch einmal gehört, dass, wie im Übrigen bei meinem Vater, Splitter in seinem Körper unterwegs waren, sozusagen als lebenslange Depotgabe. Da er im Habitus gradlinig, eher stur war, waren Ideologien im fern. Er taugte weder zum Schweijk noch zu einem Arschloch wie Ernst Jünger (hier sollte man noch einmal Klaus Theweleit zu Rate ziehen).
  • Die heißeste Stelle beginnt mit den "assimilierten Facetten jiddischer Kultur". Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, wurde meinem Großvater der Berufswunsch Metzger versagt. Die Erzählungen, die ihn ausweisen als versierten Schächter - das schartenfreie Messer ist heute in meinem Besitz - verweisen darauf, dass er im "Judenbad" Bad Neuenahr wohl viele Jahre die rituellen Schlachtungen für jüdische Familien durchgeführt hat. Ich erinnere, dass er mir und meinem Freund Peter-Georg zu Zeiten der Räude unter den Kaninchenpopulationen auf der Bengener Heide in einem Schnellkurs beigebracht hat, wie man in Netzen eingefangene Kaninchen per Nackenschlag mit einem geeigneten Knüppel vom Leben zum Tod befördert. Bei uns wurden selbstverständlich auch Stallhasen und Hühner für den eigenen Verzehr auf angemessene Weise getötet und für den Kochtopf vorbereitet. Ich gehörte wohl zu den relativen Weicheiern, die dann aber nicht in der Lage waren Hühner oder Hasen auch zu essen. Er hat es mir verziehen, mehr als mein eigener Vater.
  • Zur Mischpoke muss besonders angesetzt werden: Irgendwann - ich vermute spätestens 1942 - war Bad Neuenahr "judenfrei". Das Geschäftsmodell meines Großvaters war da wohl schon länger obsolet. Verstrickungen lassen sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Ich weiß nicht, ob sich mein Großvater, der 1934 mit dem Rumpfbau des mütterlichen Elternhauses begann, Geld bei jüdischen Geldverleihern besorgt hat. Die Notarakten zur Kreuzstr. 111 sind weitgehend vernichtet und nicht mehr zugänglich. Vorwürfe und Schulzuweisungen, die für unsere Generation unseren Eltern gegenüber typisch waren, sind im eigenen Familienkontext nie scharf gestellt worden. Die militärischen Zugehörigkeiten und Bewegungen im europäischen Raum habe ich über Recherchen bei der WASt minutiös vorgenommen - für alle, die eine Rolle im familiären Kontext spielen - am eindringlichsten für Franz Streit, den Vater meiner Schwester.
  • Mein Großvater hat nach dem Zweiten Weltkrieg als städtischer Arbeiter seinen Lebensunterhalt verdient, immer verbunden mit Kleinstlandwirtschaft und Kleinviehhaltung. Er tritt dann in mein Leben nicht nur als fürsorglicher Großvater, sondern als jemand, der alles konnte und alles wusste, um irgendwie durchs Leben zu kommen: als Friedhofsgärtner und Helfer bei Bestattungen und Umbettungen, als Hilfskraft im städtischen Schwimmbad, als Klärwärter, als Kassierer bei den Deutschen Meisterschaften der Tennissenioren.
  • Einzigartig und ohne Beispiel wirken die Zeiten und Umstände seiner Tätigkeit als Klärwärter in mir nach: Geheimnisvoll, mythisch, dionysisch und gewaltig wirkt in der Tat jener Ort, der so trivial, so schmutzig und gewöhnlich jenseits seiner Verklärung erscheint. Es sind die Schwefelwasserstoffverbindungen oder die durch Fäulnis freigesetzte Buttersäure, die eine Kläranlage zu einem der Unorte unter der Sonne machen. Woher also meine uneingeschränkte Faszination - die möglicherweise zu einer Desensibilisierung, manche behaupten zu einer Schädigung meines olfaktorischen Unterscheidungsvermögens geführt hat???
  • Zunächst einmal gilt es einzustimmen, den Schritt von den "zivilisierten Randzonen" hin zu dem Ort anzubahnen, an dem "Anfang und Ende zusammenfließen". Der Weg durch "wildes Land, durch Abraumhalden" - kontrastiert durch das pralle, gleichwohl morbide Leben auf der anderen Seite der Ahr; dort wo die Kurbetriebe, das städtische Schwimmbad, Lenné- und Kaiser-Wilhelm-Park die gediegene Seite der Kurstadt offenbaren. Das fruchtbare Schwemmgebiet, der Übergang zur "Goldenen Meile" enden für mich in einem bunkerartigen Gebäudekomplex, der die städtische Kläranlage beherbergt. Vor dem "Allerheiligsten" residieren die Klärwärter in ihrer Stube, jenem "tetraedischen Kubus", der von einem Kanonenofen dominiert wird und dessen Wände für Heranwachsende gleichermaßen die Welt einer formierten Gesellschaft mit ihren beginnenden Reizen und Schwellenwerten offenbaren: Statt gekälkter Wände überwältigte einen hier - zumal als Heranwachsender - die Patina eines Panoptikums, das Titelseite um Titelseite der seinerzeit gängigen Illustrierten mittels Kleister an den Wänden fixierte. So entstand ein illustriertes Feuerwerk zeit- und kulturgeschichtlicher Mächtigkeit aus der schlichten Perspektive der Unterschicht, in der die Schmuddelkinder spielen.
  • Zu Winterszeiten wärmte das "fossile Urfeuer im Kanonenrohr" und ließ die Augen übergehen - mit Blick auf die angesagten Beautis und Berichtenswertes in der formierten Gesellschaft der 50 und 60er Jahre; die "Abziehbilder eines medial markierten Raums". Dazu  gehörten Konrad Adenauer, John F. Kennedy, aber eben auch Marylin Monroe, Freddy Quinn, Hans Albers, Curd Jürgens, Hildegard Knef, Marlene Dietrich, Heinz Rühmann und und und.
  • Spannung entsteht über den Kontrast heimeliger Atmosphäre, eine eigentümliche Geborgenheit im Schutz der "alten Männer", wobei mein Großvater seinen Dienst in der Regel alleine versah. Der Zweck meines eigenen Da-Seins an diesem Ort lag ja in der Versorgung, im Verbringen des Esskesselchens. Der Esskessel war ein profanes Wunderwerk, dass die gustatorischen und olfaktorischen Essenzen zu einer solitären Melange entfaltete. Zehn bis fünfzehn Minuten benötige ich von der Kreuzstraße bis zur Kläranlage, eine Zeitspanne während derer die frisch zubereiteten Speisen ummantelt von einem mit heißem Wasser gefüllten Zwei- oder Dreikammersystem - fest mit einem geklammerten Deckel verschlossen - ein wahres Geruchsfeuerwerk entfalteten, das sich nach Öffnen des Kessels im überschaubaren Raum verströmte. Eine abstrus-verrückte, bis heute nachwirkende Folge dieses Arrangements offenbart sich in meiner Vorliebe für das, was aus frischem Blattsalat in einem gewissermaßen nahezu vakuumierten Raum entsteht, befand sich der Salat doch schon in seiner Marinade. Ich habe diese Vorliebe von meinem Großvater übernommen, der auch abends noch Reste vom mittäglichen Salat - dann bereits verfallen und schlaff - mit Genuss verkostete; ganz zu schweigen von den geruchsmäßigen und geschmacklichen Besonderheiten, die die eingekesselten Speisengewissermaßen im Nachgaren hervorbrachten. Sie kreierten Geruchsnischen, die Flaschengeistern gleich in der Tat die Kleinode, die Besonderheiten der großmütterlichen Küche offenbarten. Die Großmutter hatte in ihrer Jugend den Haushalt in einem großbürgerlichen Haus in Düsseldorf erlernt und versehen.
  • Und doch gerieten diese sinnlichen Geschmacks- und Geruchs-Feuerwerke nur noch zu Irrlichtern in einem Fluidum, das ich als olfaktorisches Inferno erinnere - ganz besonders im Sommer, wenn die Türe zur Stube weit offenstand und der spezifische Odem der Klärschlämmen alles andere dominierte. Was in bestimmten zeitlichen Abständen - in der rush hour kollektiver Biorhythmen stündlich - zu vollbringen war, lässt sich sprachlich nur sehr rudimentär und grenzwertig vermitteln. Es entzieht sich gänzlich der Vorstellungskraft von Menschen, die einen solchen Ort nie mit eigenen Augen, nie mit eigenen Ohren und Nasen buchstäblich in sich aufgenommen haben.
  • Es ist vollkommen angemessen an dieser Stelle das Mysterium auf die Spitze zu treiben, sich auch nach 60 Jahren noch selig geborgen vorzukommen, wenn dann das Unfassbare geschah. Zuweilen - und mit zunehmendem Alter - um so häufiger durfte ich an der Hand meines Großvaters die Schwelle zu den düsteren Hallen überschreiten. Näherte man sich dieser Halle, schwoll das Rauschen vernehmlich an - im Rückblick sicher nicht zum angedeuteten Trommelfeuer, aber eben zu einem Rauschen, verursacht von den verunreinigten Wassermassen, die Zug um Zug zuerst über grobe, dann immer feiner geschmiedete Eisenroste geführt wurden. Von grob bis fein lagerte sich auf diesen Rosten aller erdenkliche, kanalisierte Unrat ab - einschließlich der über Toilettenspülungen entsorgten Fäkalien. Die Aufgabe der Klärwärter bestand in der Entfernung dieses Unrats. Mit großen Schiebern wurde zuerst der grobe - in zweiten und dritten Arbeitsgängen - die feineren, verdichteten, schlammigen Rückstände zusammengerafft, zusammengeschoben, um dann mittels Schaufelarbeit in die zum Abtransport bereitstehenden Schubkarren verbracht zu werden. Die Schubkarren selbst wurden unterhalb des Bunkers entleert, dort wo sich der Unrat zu Haufen türmte, die dann in bestimmten Zeitabständen von Pferdefuhrwerken oder Lastkraftwagen zu ihrer weiteren Verwertung abtransportiert wurden.

Die städtische Kläranlage Bad Neuenahr war ein zentraler, tiefenwirksamer Ort meiner Kindheit. Das also sind Monumente akribischer Erinnerungsarbeit, die familiär selbstverständlich keines Wortes und keines Kommentars für würdig befunden wurden. Und was hätte man denn sonst mit ihnen tun sollen, als sie nachhaltig und konsequent zu verdrängen: Mein Vater/mein Großvater ist Klärwärter in der städtischen Kläranlage - das erwies sich doch als klamm-heimliches kommunikatives No-Go. Bei nicht vorbelasteten, durchaus an komplexen Sozialisationsgeschehnissen interessierten LeserInnen - so könnte ich mir vorstellen - könnten die vorstehenden Impressionen durchaus die Schwelle zu einer möglichen kommunikationsförmigen Reaktion auslösen.

Die folgenden Sätze setzen sich mit der tiefempfundenen Kränkung auseinander für die aufgezeigten Sinnzusammenhänge keine Adressaten mehr zu finden. Peter Fuchs - ein kaum zu lesender/kaum gelesener Soziologe in der Nachfolge Niklas Luhmanns, gelangt in seiner Schrift: Das Maß aller Dinge - Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen (Velbrück 2007) zu der Einsicht, dass "mit der Einführung der Schrift die Karriere des Menschen als Ausdruck für ein Wesen neben der Sozialiatät mit einer eigenen (irgendwann nicht mehr auslotbaren,letztlich inkalkulablen, aber unentwegt vorauszusetzenden) Innenwelt" beginne (S. 210).

Auch wenn ich hier mit Hilfe des w.w.w. die Schwelle überschreite, die mit meiner "Innenwelt" sozusagen markiert ist - Arnold Retzer würde wohl von einem Ab- oder Austropfen sprechen - komme ich zu der paradoxen Schlussfolgerung, das all dies nicht kommunikabel ist. Auch da verhilft mir wiederum Peter Fuchs zu - zugegebenermaßen - äußert schwierigen Schlussfolgerungen, die mein Dilemma offenbaren: Warum schreibe ich all dies auf - genausogut kann ich es doch in meiner Innenwelt bewahren, gar schützen!? Mich überzeugt dies allein deshalb nicht, weil für mich all dies nur über die akribische Anstrengung des Begriffs in eine (auch für mich selbst) nachvollziehbare Außenrepräsentation gerät. Aber auch hier - so könnte man einwenden - stellt sich nicht im Geringsten die Notwendigkeit, die mit dem w.w.w. markierte Schwelle zu überschreiten. Aber folgen wir an der Stelle noch einmal Peter Fuchs:

"Wir haben versucht zu zeigen, wie durch Schriftgebrauch ein auf Tiefe angelegtes Adressformular entsteht. Es ließe sich hinzufügen, dass mit der Schrift nicht nur die Differenz von Information und Mitteilung verschärft beobachtbar wird, sondern auch die Differenz von Ablehnung/Annahme der je mitgeteilten Sinnofferte (S. 210)."

In Annmerkung 206 (auf Seite 210) greift Peter Fuchs auf den Kommunikationsbegriff von Niklas Luhmann zurück (hier noch einmal im Rahmen einer PPP von mir aufbereitet): "Begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen, so ist Kommunikation realisisert, wenn und soweit das Verstehen zustandekommt. Alles weitere geschieht 'außerhalb' der Einheit einer elementaren Kommunikation und setzt sie voraus. Das gilt insbesondere für eine vierte Art von Selektion: für die Annahme bzw. Ablehnung der mitgeteilten Sinnreduktion. Man muss beim Adressaten der Kommunikation das Verstehen ihres Selektionssinnes unterscheiden von Annehmen bzw. Ablehnen der Selektion als Prämisse eigenen Verhaltens (Luhmann, Soziale Systeme, S. 203)."

Wir befinden uns also nur exakt an der Nahtstelle, an der ich - wenn es denn je eine Bezugnahme auf diesen Beitrag geben wird - alleine registrieren kann, ob ein Verstehensprozess in Gang kommt, der sich in irgendeiner Form des Annehmens/Ablehnens offenbart; lieber wären mir Anschlusssignale, die in Form von Differenzen eine kommunikationsförmige Interaktion erst zustande kommen ließen.

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund