Doris Dörrie: Leben Schreiben Atmen - oder mit Günter Kunert: Schreiben ist Rettung vor dem Tod
Heute Nachmittag 17.30 Uhr – ein Päckchen in meinem Briefkasten. Reinhard hatte es angekündigt: Doris Dörrie: Leben – Schreiben – Atmen, Zürich 2019 (Diogenes)
Der erste Satz: „Dieses Buch ist eine Einladung zum Schreiben über sich selbst.“ Und dann: „Es ist abwechselnd wunderbar, schmerzhaft, narzisstisch, therapeutisch, herrlich, befreiend, tieftraurig, beflügelnd, deprimierend, langweilig, belebend.“ Alle Vorworte und Einleitungen zu meinen Büchern:
- Ich sehe was, was Du nicht siehst!? - Komm in den totgesagten Park und schau!
- Das Leben ein Klang - Gedichte und Aphorismen
- Kopfschmerzen und Herzflimmern
- BAB - Papa Anna Bleiben (mit einem Vor- und Nachwort vom Jupp)
- Die Mohnfrau - Gedichte und Reflexionen
- Hildes Geschichte - Auch eine Liebe in Deutschland
- Kurz vor Schluss - Eine kleine Sozialkunde
beginnen mit dieser Hymne auf den Mut, die Abgründe so wenig zu fürchten wie die Euphorie der Gipfelerstürmung zu genießen und zu feiern; zu lernen, die Wanderungen durch fruchtbare Auen und helle Lichtungen zu suchen und das lange, öde Begehen der endlosen Steppenlandschaften und Eiswüsten auszuhalten. 2002 war es Susan Sonntag, die mich verführt hat, dem eigenen Schreiben zu vertrauen:
„Man schreibt, um das zu lesen, was man geschrieben hat, um zu sehen, ob es gut geworden ist, und, da das natürlich nie der Fall ist, um es umzuschreiben – einmal, zweimal, so oft wie nötig, damit etwas daraus wird, womit man beim Weiterlesen leben kann […] Und auch wenn es ewig dauert und man gerade mal mit zwei Fingern schreibt, so entsteht doch allmählich ein Weg aus Wörtern, den man weitergehen will.“ Schreiben sei letztlich eine Reihe von Genehmigungen, die man sich erteilt, um sich auf bestimmte Weisen auszudrücken: „Zu erfinden. Zu springen. Zu fallen.“ Und zum Schluss auch von ihr – wie von Doris Dörrie die Ermunterung: „Habe Mut dich deiner Erinnerung, deiner Fantasie, deiner Ausdruckskraft zu bedienen und gestalte deinen eigenen Weg aus Wörtern (in: Literaturen, 3/4 2001, S. 122-124).“
Wir alle – meint Doris Dörrie – sind Geschichtenerzähler. Wenn ich richtig gezählt habe, dann sind es 49 Stichworte – oder anders gesagt Schreibanlässe, die sie in ihrer Anleitung und zur Ermutigung sich des eigenen Stiftes zu besinnen und zu bedienen, anbietet. Das geht von Einkaufen über Lügen, Verliebt über Hinterteile zu Sterben, Heimatort, Schwimmen bis zu Blutmond, Gespenster und Einsamkeit (und Fische).
Das Sterben enttäuscht mich – zu banal, zu wenig ambitioniert. Aber immerhin im Alter von fünf Jahren nach einem Mittagsschlaf – wie vom Blitz getroffen – die Erkenntnis, „dass alle Menschen sterben müssen, auch meine Eltern und meine Geschwister, einfach alle […] Ich blieb als einziger Mensch übrig, nur ich, ganz allein, und diese Erkenntnis brachte mich noch mehr zum Schluchzen. So weine ich bis heute im Traum. Ich wache auf, mein Kissen tränennass, Brust und Kehle brennen wie Feuer. Auf den Begräbnissen geliebter Menschen weine ich so, genau wie ein Kind. Ganz genau so.“(S. 86).
Ich habe geweint wie ein Mann, der nicht glauben mag, was geschieht. Aber ich habe es aufgeschrieben, und bei jedem Wiederlesen, weine ich unverkrampft oder bin den Tränen zumindest nahe – so wie am 21. Juli 2003, sechs Tage bevor meine Mutter sterben durfte:
„Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke (in: Kurz vor Schluss, S. 535)."
- Bemerkung vom 27.7.2017: „so wie im Übrigen auch jetzt, am 27.7.2017 um 8.32 Uhr in meinem Büro an der Uni, heute, an ihrem 14. Todestag beim Redigieren dieses Buches (Kurz vor Schluss - Eine kleine Sozialkunde)
- Bemerkung vom 2. April 2020: so wie im Übrigen auch jetzt, am 2. April 2020 beim Schreiben dieses Beitrags.
Das Schreiben hat mich nicht bewahrt vor unüberlegten Handlungen, die sich mit Abstand betrachtet womöglich – wenn auch nicht als alternativlos – so doch als sinnvoll und vorwärtstreibend erwiesen haben. Die kürzeste Form sich dies zu vergegenwärtigen, war mir immer das Gedicht – in den tiefsten Tälern genauso wie auf den höchsten Gipfeln – und dazwischen in all den so erquickenden Lichtungen und Auen:
Zum Tode meines Bruders: 21. Juni: Als mir einmal in einem Gedicht Jakob van Hoddis begegnete
Ich bin träge
Schatten-Schwüle
und ich wäge
die Gedanken-Mühle
Welt verglimmt,
ein endlos Flimmern,
Blut gerinnt,
Konturen schimmern.
Sinne schwinden,
schwerer Schlaf.
Ruhe finden –
Bruders Schlaf.
Fernes Dröhnen,
Flug-Motoren,
Sinne stöhnen
Seins-verloren.
Bin ich wach –
in welchem Raum?
Ist das Krach
in meinem Traum?
Kommt Wirklichkeit
mir wirklich nah?
Vergangenheit
was auch geschah?
Am Amazonas
Fällt ein Baum!
Ach was?! Und was
ist Deutungsraum!?
Dem Bürger fliegt
vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es
wie Geschrei.
Ein Fluggerät stürzt ab
und geht entzwei -
und in den Köpfen
- spürt man –
steigt die Flut.
Und die Gezeiten wechseln
Wut-Mut-Wut!
Der Sturm ist da
die wilden Meere hupfen,
und die Seele schwillt,
um Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen weinen,
wie bei Schnupfen
und steh´n am Abrund
suchen Brücken.
Doris Dörrie bietet mir Verliebt und Eheringe und Hochzeit!? Interessant sind die abschließenden Anregungen: Schreib über deinen ersten Schwarm, hat er dich erhört? Schreib über deinen Vater – vice versa Mutter? Wie hat er/sie dich beeinflusst? Wer war er/sie für dich?
Nach der Hochzeit! Ich belasse es bei drei Kostproben: früher Frust, (Benn würde sagen, die Bälle gehen ins Netz); abgeklärte Erkenntnis eines Eheprofis und spätes Glück):
Draw a distinction! (Heinz von Foerster)
Unterschiede,
die einen Unterschied machen
beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.
Fast nüchtern und unaufgeregt
pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne
regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
sitzt der Frosch auf der Mauer,
beginnt müde sein Lied.
Er weiß: Heute erhört ihn niemand!
Da bleibt er lieber gleich stille
und blickt in ein Land
voll Lust, doch mit nüchterner Brille.
Unterschiede,
die einen Unterschied machen,
beleben das Leben -
dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen?
Es vollzieht sich das Leben
und manchmal die Ehe,
mal wohl und mal wehe.
Draw a distinction – na eben!
Paarlauf (Hommage auch an E.K.)
Schau, das Paar und seine Kreise
wie es sprüht und lebt
und auf synchrone Weise
über allen Niederungen schwebt.
Sieh nur ihre Augen strahlen
und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
während ihre Spuren ritzen
feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
ihre Seelen schimmern rein und weiß -
Engel hört man Halleluja singen.
Ach, so leben wir doch alle
für ein Jahr, auch mal für zwei -
tappen blindlings in die Falle
und aus Eigenart wird Einerlei.
Old Love (immer schon für meine LPC)
Es kommt mir mächtig in den Sinn,
ich riech es, bin verrückt
und weiß nicht wer ich bin,
bin ruhelos verzückt.
So tief kriecht es hinein
in mich – so sehr es mich beglückt,
es sickert in mein Sein,
und doch bleibt es entrückt.
Ist es der Duft der Frauen,
der lockend mich umfängt?
Ein Fenster öffnet sich zu schauen,
was meine Sinne so bedrängt.
Es lässt am Tage mich nun träumen
und lenkt den Blick zurück.
Aus alten, ewig jungen Träumen
wächst Du und schimmert Glück.
Solche Erinnerungsgebirge sind uns gewiss, wenn wir den Ermunterungen Susan Sontags und Doris Dörries folgen. Aber ähnlich wie die beiden versuche ich schon lange viele meiner Weggefährtinnen zu locken – aber selbst Herbert mag nicht folgen. Vielleicht hat er zu lange dem Druck des Profis im redaktionellen Dienst der Rhein-Zeitung standhalten müssen?
Schließen wir die Ermunterungen ab mit ein wenig Naturlyrik. Hier bin ich zu meinen wahren Möglichkeiten vorgestoßen. Reinhard kennt sie, weil ich sie weiland eingebettet hatte in eine Antwort zur „Erotischen Ökologie“ Andreas Webers. Wenn ich seine erotische Ökologie auch für grandiosen Kitsch halte – ins Schwärmen kann man mit ihm schon geraten:
Porentief
Wenn du alle Poren öffnest,
und in ungeahnte Tiefen fühlst,
wenn du in die Sonne schaust
und aller Farben Spiel erhoffst,
wenn dein Körper wach und wacher wird
und jede Schwingung,
jedes sanfte Beben,
jede Regung
Flimmerhaaren gleich erfühlt,
wenn zarte Klänge,
sanfter Hauch
und feines Lichterspiel
die Sinne irritieren
und deine Fühlwelt
reicher macht,
dann ahnst du doch
die Grenzen deiner Sicht,
das Schattenspiel im Licht.
Und deine Ahnung
trägt dich weiter
in ein Land,
an dem die Phantasie sich bricht.
Und so sehr
sie dich auch treibt,
dich reicher macht
an Differenzen;
es bleibt,
was immer dir auch bleibt
im Diesseits aller Grenzen.
Grenzgänger
Wenn mein Herz zerfließt
und alles in mir schreit,
wenn aller Regen fließt
und Leben wurzelt breit,
wenn mein Herz vor lauter Freude weit
und meine Arme voller Liebe breit,
wenn alle Unterschiede dann zerfließen
und Phantasien über alle Ziele schießen,
wenn ja und aber mich erheitern
und alle Blicke Horizont erweitern,
wenn Kleinmut meinen Großmut weckt
und Liebe unsre Wunden leckt,
wenn es dann läuft
und Sonne meine Seele wärmt,
und wenn mein Selbst in Liebe sich ersäuft,
vor lauter Wohlsein nur noch schwärmt,
wenn letzte Tage winken,
und Frühjahr sich mit Herbst vermischt,
wenn Hoffnung und Erfüllung ineinandersinken
und letzter Unterschied sich dann verwischt,
dann geh ich weg und komme heim
und ahne jene Grenzen,
die jenseits bleiben und geheim
für alle – vor Gräbern und vor Kränzen.
Fraglos
Immer wenn die Welt sich offenbart,
dann werde ich ganz still,
weil meine Spur, die zielbestimmte Fahrt
sich wendet und sich ändern will.
Immer wenn sich Größe zeigt,
verwandle ich mich leise,
wenn sich ein Irren hin zum Ende neigt,
werd ich – trotz blinder Flecken – manchmal weise.
Wenn leise Klänge sich verdichten
und großer Klang entsteht,
wenn Fragen sich in Fragen lichten,
ein Hauch von Weisheit uns umweht,
wenn Farben sich vermischen,
und Buntheit sich in Grau ergeht,
wenn aller Hochmut dann verblichen
am Horizont ein Hoffen steht,
dann geh ich auf die Reise
und frage nicht mehr viel.
Ich wandle einfach, still und leise -
ich spüre Kraft und bin das Ziel.
Und zum Schluss eine Hommage an Juist und eine solitäre Scherbe:
Ein Scherbengedicht
Du seelenloses Ding,
du bist so hart und weich zugleich,
hast dich am Sand gerieben -
und von den messerscharfen Kanten
ist nur ein Bild geblieben.
Du schmeichelst meinem Daumen,
gibst Widerstand
und bist des zarten Fühlens harter Widerpart,
erweckst in mir ein Sehnen und ein Fühlen,
wo Fluten dich umspülen
und Sand dir deine Schärfe nimmt -
wie Glut dereinst verglimmt,
wenn aller Tage Ende
Uns den Atem nimmt.
Vielleicht doch noch eins. Wie sehr Lyrik im wahrsten Sinne des Wortes der Daseinserhellung und der Daseinsbewältigung dienen kann am Beispiel einer Erfahrung, die ich vor gut 10 Jahren machen musste, in jener Zeit, als wir meinen Schwiegervater zu Hause gepflegt haben - bis zu seinem Tode am 8. März 2010:
Was mögen die Müllmänner denken?
Was mögen die Müllmänner denken,
wenn sie die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt,
es poppt sich in eine neue Kinderwelt?
Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
dann würden sie merken -
das müssen recht große Kinder sein,
High-Tec-bewindelt
mit 2-Liter-Fassungsvermögen.
"Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder"
geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
und in die Welt der Sprache.
Die großen Kinder hingegen
stürzen hinaus
und hinein in den Alptraum,
die Krankheit zum Tod.
Wir fallen mit ihnen -
noch nicht so ganz,
wenn wir flechten
aus Windeln den Ehrenkranz.