Noch einmal: Carl Schmitt
- anlässlich des Briefwechsels zwischen Reinhart Kosselleck und Carl Schmitt (Der Briefwechsel, Suhrkamp - Berlin 2019)
Ich zitiere aus einem Briefwechsel mit Winfried Rösler, dem ich im übrigen zu seinem 69sten Geburtstag alles Gute wünsche:
lesen -schreiben - lesen - schreiben und dann unter Luhmanns tröstlicher conditio das Gespräch suchen, wo wir doch wissen: Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches System kann nicht kommunizieren - nur die Kommunikation kann die Kommunikation beeinflussen. Ich möchte einmal kurz illustrieren, auf welch brutal-bedenkliche Weise mir das bei der Lektüre des erwähnten Briefwechsels zwischen Kosselleck und Schmitt deutlich wird. Im Materialienteil (S. 373-391) ist ein Interview enthalten: Reinhart Kosselleck über Carl Schmitt. Interview mit Claus Peppel vom 14. März 1994.
Eine Passage beginnt mit den Hinweis Kossellecks: "Er sagte nicht all das, was er hätte sagen können. Das sieht man jetzt auch nach der Edition seiner Tagebücher, wo er sehr viel ressentimentgeladener, streckenweise geradezu spießig, Positionen festnagelt - etwa im Hinblick auf seinen Antisemitismus - die er in dieser Form mündlich nicht von sich gegeben hat. Insofern war ich über die Plattitüden in seinen Tagebuchaufzeichnungen überrascht, weil er sie damals in unseren Gesprächen nicht äußerte."
So weit so gut. Mir - der ich der intellektuellen Brillianz Schmitts nicht erlegen bin, wie weiland Kosselleck - bleibt ein Würgen im Hals. Ich habe Schmitts Tagebücher 1930-1934 akribisch mit Textmarker in der Hand gelesen (dazu an anderer Stelle mehr). Aber wie gefangen muss denn der 1923 geborene Kosselleck gewesen sein - und dies über drei Jahrzehnte - wenn er einerseits feststellt, Schmitt habe ihm gegenüber - wenn die Sprache auf seinen abscheulichen Antisemitismus kam - theologisch fundierte Selbstdeutungen vorgebracht. Sie seien ihm erschienen wie "ex post Rechtfertigungen, um mehr Kontinuität in seine Biographie zu bringen". Kosselleck bemerkt wenig später: "Ich habe Schmitt zwar immer wieder auf diesen Antisemitismus angesprochen, aber er zog sich sehr schnell auf seine antijudaische Deutung zurück und damit war für ihn das Gespräch beendet."
Wie eitel muss denn jemand sein, der zu Lebzeiten diese hochgradig belasteten und belastenden Tagebücher nicht vernichtet, sondern sie der Nachwelt hinterlässt? Und auch Kosselleck erscheint bei mir inzwischen in einem anderen Licht, wenn er - auch mit Blick auf die Schriften Schmitts - sich eher naiv zeigt. Oder kann man ihm möglicherweise unterstellen, dass er seinen akademischen spiritus rector in irgendeiner Weise schützen will?
Matthias Lemke verzichtet - nebenbei bemerkt - in der aktuellen ZEIT (14/20, S. 17) unter dem Titel "Ausnahmezustand" nicht auf die Carl Schmitt geschuldete Feststellung: "Wer die Kompetenzen der Exekutive krisenbedingt ausweitet, wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Politik und Recht, zwischen Sicherheitspolitik und Freiheitsrechten. Das Risiko des Machtmissbrauchs besteht trotz aller Vorkehrungen - zumal das Freund-Feind-Denken des Staatsrechtlers Carl Schmitt ('Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet') noch immer Konjunktur hat."
In der Folge erscheinen mir die Versuche Kossellecks mehr als fragwürdig, vor allem die Interpretationsvarianten des "Begriff des Politischen", insbesondere, was das binäre "Freund-Feind-Verhältnis" angeht. Nur soviel: Kosselleck beansprucht seinerseits auf Schmitts (späte) Auslegung dieses binären Codes entscheidenen Einfluss gehabt zu haben, was letztlich dazu geführt habe, das Freund-Feind-Schema als Form zu betrachten, bei der "die formale Ebene stärker zu betonen" sei "und damit auch die Gleichberechtigung der Gegner". Ich halte dies angesichts der von Kosselleck selbst konstatierten unerträglichen Exzesse eines radikalen Antisemitismus bei Carl Schmitt schlicht für eine Verbrämung seiner wahren Motive - jedenfalls zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Der Begriff des Politischen" und der damit im Kontext stehenden tagebuchmäßig dokumentierten Positionen zwischen 1930 und 1934. Die Asymmetrie der Freund-Feind-Kategorisierung mit Blick auf die Juden ist unleugbar im Denken und Schreiben Carl Schmitts angelegt. Der Holocaust ist faktisch auch durch eine vollkommen bewusste, immer wieder betonte Notwendigkeit einer radikalen Freund-Feind-Kategorisierung vorbereitet worden:
"Jeder religöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren. Das Politische liegt nicht im Kampf selbst, der wiederum seine technischen, psychologischen und militärischen Gesetze hat, sondern, wie gesagt, in einem von dieser realen Möglichkeit bestimmten Verhalten, in der klaren Erkenntnis der eigenen, dadurch bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden (Der Begriff des Politischen, S. 37)". Oder dazu, fast schon den Himmlerschen Wahnsinn vorwegnehmend, bei alldem, was der Holocaust in praxi den Vollzugsbeamten abverlange, anständig geblieben zu sein, vermittle den handelnden Akteuren ihren singulären Status in der Geschichte: "Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existentiellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt oder abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen (S. 28)."
Da steht einem doch die Kotze im Gesicht - und ich versteh den Kosselleck nicht!