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Dietmar Kamper - Über das Lösen von Knoten

Dietmar Kamper: Bildfolter - Von der gestörten Liebe zur reibungslosen Sexualität, in Christoph Wulf (Hrsg.): Lust und Liebe - Wandlungen der Sexualität, München 1985, S. 381-394

Dietmar Kamper hat mich beeindruckt. In diesem Blog finden sich mächtige Spuren, z.B. über Das Heilige und seine Spuren in der Moderne oder Traumbilder an der Schwelle zum Jenseits. Ich habe in der Auseinandersetzung mit Dietmar Kampers Traumbuch versucht den Kontext zu bedenken, in dem und aus dem heraus er wenige Monate und Wochen vor seinem Tod schreibt. Auf Seite 33 dieser posthum - mehr als 10 Jahre nach seinem Tod - veröffentlichten Traumbilder findet sich ein Zitat, das er Charles Baudelaire entlehnt hat:

"Beten und Ficken - das sind, nach Baudelaire die Tätigkeiten, die einen sensiblen Zeitgenossen in der Moderne am Leben halten. Beten heißt hören, ob ein Anderer spricht. Ficken heißt Spüren, dass ein Anderer da ist. Beide Male geht es um Gegenwart, einmal der Stimme, zum anderen des Körpers, aber nicht des Selbst, sondern des Anderen, der sonst keine Realität hat." (33)

Zufällig stoße ich heute morgen auf den weiter oben erwähnten Aufsatz (ich verdanke das von Christoph Wulf herausgegebene Buch im Übrigen - wie so viele andere - Rudi Krawitz, der mir den Zugang zu Ernst Begemanns nachgelassener Bibliothek ermöglicht hat). Ich lese ihn. Die Ernüchterung, die sich einstellt, wirft die Frage auf, inwieweit die Differenz von 15 Jahren zwischen der der seinerzeitigen Bildfolter und dem Entstehen seiner Traumbilder keinen Fortschritt, sondern möglicherweise eher einen Rückschritt markiert? Ich will mich auf's Wesentliche beschränken - auf das für mich Wesentliche, das merkwürdigerweise auch heute Morgen in einem längeren Gespräch mit Claudia, meiner Frau, zentrales Thema war. Es hängt zusammen mit dem von Dietmar Kamper gewählten Untertitel: "Von der gestörten Liebe zur reibungslosen Sexualität". Ich bekenne freimütig, dass die von Kamper 1984 entfalteten Gedankengänge mir fast 25 Jahre später Einsichten vermitteln, die weder an Aktualität noch an Brisanz verloren haben. Sie erleben ihren Höhepunkt auf Seite 391 in der Wiedergabe einer Jean Baudrillard entlehnten zirkulären Kommunikationsfolge zwischen Eheleuten. Möglicherweise dringt er hier zu Differenzen vor, die in ihren paradoxen Konsequenzen auch den letzten Satz seines Aufsatzes mehr als verständlich erscheinen lassen:

"Manche Knoten des Lebens - und die Sexualität gehört dazu -, kann man nur dadurch lösen, dass man ihre Unlösbarkeit begreift." (S. 394)

Wie kommt Dietmar Kamper zu dieser Einsicht. Zunächst einmal ordnet er das Thema seines Beitrages ein. Er siedelt es an in einem historischen Kontext, der für die "Hochkonjunktur des Visuellen in Erotik und Sexualität" stehe. Hinzu kommt, das Kamper sich Mitte der achtziger Jahre genötigt sieht, seine Überlegungen "im Rahmen einer Bilanzierung der laufenden Emanzipationsbewegung" (Hervorhebung, Verf.) vorzunehmen: "Es geht um die Frage, ob nicht ein anderer Zwang an die Stelle der Unterdrückung der Triebe getreten ist, nämlich eine zwingende Logik des Blicks, ein 'hartes Szenario' mit stereotypen Vorschriften für das Zeigen, das Zur-Schau-Stellen, das Entblößen, das Demaskieren usf., das schließlich nur den Sinn einer Offenbarung von nichts hat."

Bildfolter dient Kamper als Terminus für einen Sachverhalt, der um so wirksamer sei, je weniger er wahrgenommen werde. Kamper ist sich der Schwierigkeiten bewusst. Aber immerhin meint er eine kleine Chance für Aufklärung zu sehen, obwohl das Sprechen über Bilder - unter der Behauptung ihrer Gewalttätigkeit - ohnehin überfordert sei. Dietmar Kamper gestattet sich nun eine Bemerkung, die ich für ungmein bemerkenswert halte, weil sie das Kernproblem auf den Punkt bringt. Er knüpft an an Blaise Pascal und meint, sein Vorhaben sei gänzlich chancenlos, wenn die Prophetie Pascals sich als zutreffend erweise, nämlich,

dass die Menschen der Neuzeit alle miteinander, jeder für sich, in Zellen endeten, die mit Bildern eines süchtig gewordenen Verlangens tapeziert seien.

Ich selbst habe mir von Pascal nur eine schlichtere Variante seiner Monadenvision gemerkt, wonach das ganze Elend der Menschen daraus resultiere, dass sie nicht ruhig in ihren Zimmern sitzen können. Wir werden sehen, wo sich diese Sichtweisen begegnen und unterscheiden.

Jedenfalls weist Kamper zu Beginn seiner Ausführungen darauf hin, dass es ihm nicht um Bewertungen gehe: "Die störbare Liebe muss nicht 'besser' oder 'schlechter' sein als die bis zum Verlust des Anderen getriebene Sexualität." (382) Neben die "zwingende Logik des Blickes" rückt aus der Beobachtung Kampers "die abstrakte Vergesellschaftung und die Isolation des Menschen". Und ich bin mir sicher, dass Kamper 1985 noch keine Vorstellung davon hatte, welches Ausmaß und welche Dimensionen seine Feststellung inzwischen - 2017 - angenommen hat, dass nämlich "das sexuelle Bild mittels diverser Medien eine Karriere hatte, wie sie - etwa angesichts älterer Sammlungen von Erotika noch vor dem letzten Weltkrieg - unvorstellbar war." (382) Gibt es einen Komparativ zu "unvorstellbar"?

Treten wir aber zunächst einmal zurück und versuchen die theoretischen Defizite nachzuvollziehen, denen sich Kamper mitte der achtziger Jahre ausgesetzt sieht:

Kamper vertritt die These, dass die visuellen Medien nicht bei sich bleiben; vielmehr durchdringen sie seiner Auffassung nach das, was sie vermitteln, derart, dass am Ende keine Unterscheidung zwischen Bild und Abgebildeten mehr möglich sei: "In gewisser Weise wird die sexuelle  Wirklichkeit zum 'Film', der tendenziell jegliche Referenz verliert, dass heißt jeden Bezug auf ein Anderes außerhalb." (383)

  • Um dies alles gründlicher als bisher begreifen zu können, glaubt Kamper in einer "Theorie der Vergesellschaftung Zuflucht nehmen" zu müssen. Sie erlaube es, die Isolation der Menschen unter den Bedingungen der Abstaktion zu thematisieren. Aber eigentlich gebe es diese Theorie noch nicht; zumindest kann Kamper sie noch nicht sehen.
  • Kamper konstatiert, dass die Existenz isolierter, voneinander getrennter Individuen für Gesellschaften schon immer ein Problem gewesen sei. Mit dem Blick auf frühere Gesellschafstsformationen beobachtet er, dass große Energien investiert worden seien, um Verhärtungen dieser Trennung zu vermeiden:

"Dazu gehören religiös geregelte Exzesse, rituelle Räusche, zyklisch initiierte Ekstasen." (383)

In modernen Gesellschaften westlicher Prägung kennen wir keine vergleichbaren (öffentlichen) Investitionen mehr. An ihre Stelle rücken vermutlich all die individualisierten Formen von Pornografie und Prostitution. Kamper stellt dementsprechend fest, dass sich neben den kollektiven Anstrengungen individuelle Strategien finden lassen, die auf den wachsenden Abstand reagierten. Und vermutlich kommt die folgende Wende dem ein oder anderen von uns durchaus vertraut vor:

"Immer weiter wurden die Rückwege. Wahrscheinlich ist die Liebe (Eros, Agape, Amor) eine Erfindung im Kontext dieser Isolation vergesellschafteter Individuen. Gewiss in der Fassung einer 'amour passion' (das ist die große 'leidenschaftliche Liebe' seit dem europäischen Mittelalter) ist sie eine Reaktion auf weite Entfernungen [...] [Aber] alle berühmten großen Liebenden des Abendlandes waren unglücklich. Meist hat man den Eindruck, dass sie halbbewusst, aber mit großer Sicherheit immer denjenigen Anderen wählten, mit dem es schiefgehen musste. Das endet bei dem Zustand, den Kafka meint, wenn er schreibt: 'Die Getrenntheit der menschlichen Körper ist grauenhaft.'" (383f.)

Die wenigen interessierten Leser mögen es mir nachsehen, wenn ich auf die folgenden kleineren Kapitel in Kampers Ausführungen nur da eingehe, wo es für ein Verständnis seiner Argumentation unerlässlich scheint. Dies ist sicherlich der Fall, wenn er auf den bösen Blick -  verbunden mit der These - eingeht, dass die vollendete Sichtbarkeit den Tod des Gesehenen bedeute: "Jeder Film, jedes Foto ist ein Stück Mord." Vielleicht ist dies schwer nachzuvollziehen. Kamper weist auf Paradoxien hin, für die kaum Verständnis aufgebracht werden könne:

Einerseits werde die Gegenwart des Anderen gerade mittels der Störung der Liebe garantiert, andererseits müsse die Erfüllung das Ende bringen: "In der Verfügung über das Objekt liegt sein Verlust. Einzig der Verzicht ist gewinnbringend. Nur die verlorene Liebe lässt die geschlossenen Grenzen des Individuums fließend werden. Die völlige Realisierung der Wünsche wäre ihr Erlöschen." (387)

"Die Ohnmacht der Gefühle" (388f.) und "Der Wahnsinn der Liebe" (389f.) kulminieren in der "Abstraktions des Herzens" (390f.). Wenn Kamper in der Folge die Parallelität zwischen Rationalität und Sexualität betont, konzentriert er sich auf typisch männlich konnotierte Weltsicht. Beide - Rationalität und Sexualität, so seine These - partizipierten am selben Schicksal: "An der Abstraktion des Herzens" - das werde klar, wenn man den Erkenntnischarakter des Erotischen und das Geschlechtliche des kursierenden Wissens in Betracht ziehe: "Beide sind sie männlicher Art und beide sind sie dabei, über den Weg der Vergegenständlichung ihr Objekt zu vernichten." (390f.)

Gibt es Auswege, Rückwege? "Der Rückweg ins Herz ist von oben (vom Kopf) und von unten (dem Geschlecht) gleich weit, nämlich endlos." So bleibe für Wachsame nur, die periphere Bahn zu ziehen und in den Marginalien unverstockt unterzugehen. Gleichwohl - oder vielleicht eher folgerichtig - betont Kamper in seinem vorletzten Kapitel den "schwindenden Unterschied der Geschlechter" (391f.) Er zitiert Baudrillard, um den auf eine "Winzigkeit" reduzierten Geschlechtsunterschied am Beispiel eines streitenden Ehepaares zu verdeutlichen:

"Die Frau wirft dem Mann vor: 'Du liebst mich nur, weil du Sex wünschst!' Der Mann antwortet: 'Du gibst mir Sex, weil du geliebt werden willst!'

Immerhin meint Dietmar Kamper, dass diese "verschärfte Arbeitsteilung" sowohl den Stand der Liebe als auch den der sexuellen Emanzipation präzise markiere. Er rettet sich in der Folge mit dem Hinweis, dass die Sexualität (wie die getrennte Rationalität) ein männliches Projekt sei. Aber dass auch Männer aktuell nur Momente (keine Urheber) seien, könne nur mit Abstand begriffen werden. Und der männliche Blick gewinnt in der Folge eine unübersehbare Totalität: Die Feindschaft zwischen Sinnlichkeit und Verstand sei ein Vorwand, der die identischen Ziele verdecke:

"Beide Seiten untergraben dasselbe: die Liebe der Menschen zu Erde oder das, was man so nennt. Von einer Frau Sex zu wünschen, heißt, sie zum Objekt zu nehmen, das vernichtet werden kann. Dieses Böse steckt unablässig in der Beziehung zwischen Mann und Frau (wie im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gegenstand). Man sollte es durch Liebesgeschwätz und Metatheorie nicht verharmlosen. Insofern geht es immer auf Leben und Tod, auch wenn man sich 'nur' zum Zwecke des gegenseitigen Vergnügens die Körper leiht." (392)

Ist dies nicht schon bitter genug, meint Kamper, folgenreicher noch sei - da die Frau kaum einverstanden sein dürfte - der Umstand einer dauernden Asymmetrie. Ich möchte selbst allerdings die folgende Feststellung relativieren und darauf hinweisen, dass 25 Jahre der Geschlechterevolution zu Verschiebungen führen können, die Kamper vielleicht tatsächlich noch nicht sehen konnte. Er meint nämlich,

die erotische Relation sei und bleibe schief, selbst wenn es gelingen sollte, das Männliche zu totalisieren, also einen Punkt zu erreichen, von dem aus auch die Frauen die Objekte ihres Begehrens in nichts auflösen könnten.

Dass sich dies - die Totalisierung des Männlichen - unzweifelhaft vollzogen hat, dafür gibt es unterdessen männliche Zeitzeugen in beträchtlicher Zahl; vielleicht nenne ich sie Opfer einer vermännlichten Weiblichkeit, in der sich ein "Mangel an Reziprozität" (Lacan) zu relativieren beginnt.

Sex mit dem Engel

Kamper beginnt kulturhistorisch. Aus einem "Noli-me-tangere" leitet er einen beobachtbaren Vorrang der Körperlosigkeit ab. Er bringt es in einen Zusammenhang mit dem esoterischen Christentum der Asketen, Märtyrer und Mythen: "Wer einmal gesehen hat, wie strukturgleich die Physiognomien der Gottesliebe im Barock und die Gesichter der Porno-Engel heute sich ausnehmen, kann historisch keine Belanglosigkeiten mehr unterstellen." (393)

Und die Vision? Kamper verbindet den Ausblick mit dem Versuch einer Bilanzierung der Emanzipationsbewegungen. Dabei konnte er 1985 offensichtlich noch nicht sehen, dass gesellschaftliche Dynamiken eher zu einer Totalisierung des Männlichen führen und eben nicht zu einer möglicherweise konstruktiveren Totalisierung des Weiblichen, was immer das auch sein möge. Die Konsequenzen, es bei einer fortschreitenden Totalisierung des Männlichen zu vergessen und möglicherweise nie mehr zu erfahren (trotz der Wolfsfrau von Clarissa Pinkola Estes und ähnlicher Mythen) beschreibt sicherlich eine realistische Perspektive. Kamper stellt nur lapidar fest, dass die Mächte mit selterner innerer Konsequenz obsiegt haben, die einer Obsession des Reibungslosen huldigten. Vielleicht meint er ja die Totalisierung des Männlichen. Und der Sex? Er ist - so Kamper - in Gesellschaft. Er bilde kein Ausnahme von der Regel:

"Die riesige Anstrengung der Neuzeit, die Welt nicht nur auf den Gedanken zu erbauen, sondern sie auch in Energie zu transformieren, hat in der zur Sexualität mutieren Liebe einen erfolgreichen Handlanger. Es ist ein im großen Maßstab hinterrücks ablaufendes Reinigungsprojekt, ein Entsühnungsprozess, der unter der Voraussetzung eines radikalen Nihilismus steht. Projekt und Prozess in einem, wird es von sich aus nicht enden, bevor das Ziel, die Vernichtung alles Materiellen, erreicht ist und die Welt rettungslos in der Licht der Erleuchtung getaucht ist." (39§9

Und wenn schon Adorno meint (siehe Kamper, S. 390), es seien partout Wesen ohne Selbst, die attraktiv seien ("Phantasie wird entflammt von Frauen, denen Phanatasie gerade abgeht"), dann fügt es sich erst recht, wenn es in Bertolt Brechts (nachgelassenen öbszönen Gedichten - so Dietmar Kamper) um Sex mit einem Engel geht, für den die menschlichen Körper nur herhalten müssten. So kommt also Bertolt Brecht zu einem Schlusswort, bei dem sich die lesenden Frauen und Männer (nicht nur) Gedanken machen können, wie weit die Totalisierung des Männlichen vorangeschritten ist.

 

 
Engel verführt man gar nicht oder schnell. Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Mund und lang Ihm untern Rock, bis er sich naß macht, stell Ihn das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen Dann halt ihn fest und laß ihn zweimal kommen Sonst hat er dir am Ende einen Schock.
Ermahn ihn, daß er gut den Hintern schwenkt Heiß ihn dir ruhig an die Hoden fassen Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt -
Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.
 
 

Ich füge einmal eine Leseprobe zu Kampers Traumbuch an:

Entnommen aus der Auseinandersetzung mit Dietmar Kampers Traumbuch. Hier ist der Blick aufs Wesentliche um so Vieles schärfer und die geschlechterbedingten Differenzen zwischen Mann und Frau verschwinden zwar nicht, aber sie relativieren sich:

Dietmar Kamper findet das Bild der "Lebensknoten" und fragt, ob es eine richtige Lösung des Knotens geben könne, wenn dieser die falsche Verknüpfung zweier, dreier Stränge des Lebens sei? "Ein Lebensknoten, der im Netz der Freundschaften verschwindet, war keiner." (34) Ganz am Ende meint Kamper, er kämpfe nicht mehr um Identität, sowenig wie um Differenz, sondern er lasse sich gleiten mit dem Körper, der als Zeitenfloß unterwegs sei in den Bewegungen der Erde:

"Man  liebt nur die Erde. Man braucht den Ort und die Zeit der Berührung. Mehr ist nicht."

Man möchte ein Ausrufezeichen anfügen - wissend, dass Kamper wohl recht hat. Er hat das Recht, und er hat die Einsicht. Er ruft sie mir zu, und ich weiß, dass ich den Umständen dankbar sein kann, mich nicht wie er als "Opfer eines rachsüchtigen Berufs" stilisieren zu müssen. Und es kommt an dieser Stelle zu einer weiteren Vermutung, wie sie uns vertraut erscheint, wenn Menschen beginnen, Krankheitsbilder und Krankheitsprozesse in einem psychosomatischen Nexus zu deuten. Dies begegnet mir persönlich immer wieder im Hinblick auf die fatalen beruflichen Verstrickungen meines Neffen und die beziehungsprägenden Desaster meiner Cousine. Auf Seite 35 von Dietmar Kampers Traumbuch taucht zum ersten Mal das Kürzel "S.B." auf:

"'S.B.' fragt, ob ich die Krankheit dem Umstand zuschreibe, dass sie sich nicht vollständig von mir getrennt habe."

Dietmar Kamper windet sich und findet eine Antwort, die zeigt, dass er im Juli 2000 - mehr als ein Jahr vor seinem Tod - noch dazu neigt, den Körper mit dem Intellekt zu besiegen, wobei die Emotionen dabei keinen wirklichen Ort finden:

"So vertrackt. Ich sagte, dass ich mit Dantes Kiste die Fallenstruktur solcher Fragen verlassen habe und dass ich höchstens den Umstand markiere, dass auch uns die amour passion nicht gelungen sei, dass also Kladow schließlich dem Kalkül dieser Trennung mit gegenteiligem Ende gedient habe. Es sei um den Abstand gegangen, um den genauen Abstand, von dem aus die Beziehung und die Trennung zu einem Kunststück hätte werden können. Im übrigen aber gelte das, was auf dem zerschlissenen Wimperl meiner Ritterrüstung stünde, arabisch: Wer nicht an seiner Liebe stirbt, der kann auch nicht durch sie leben." (35)

Dietmar Kamper bekennt sich im Anschluss zu den vielen kleinen Toden, die er schon gestorben ist, ohne schon tot zu sein. Denn er meint, er wäre schon viel früher gestorben, wenn er nicht die Kritik jenes Bildes begonnen hätte. Eine Kritik,

"die eine tätige Kritik ist, die Kritik des Leichenhaften, demzufolge nur eine tote Geliebte eine gute Geliebte ist. Eine Zeit lang war es, um der Falle zu entgehen, das abschiedliche Leben von Anfang an, dann, mit Dir, begann die Verführung ins Irdische, ins rückhaltlos irdische Leben. Mit der Absage an jeglichen Ewigkeitsfanatismus. Und dem mehrfachen Lob der Sterblichkeit." (35f.)

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund