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Der Feldweg und die Gelassenheit

Kurze Vorbemerkung:

Ich sitze an meinem ersten Urlaubstag mitten in Koblenz auf dem Jesuitenplatz und denke bei mir so: Vorsicht da kommen Touristen! Aber das ist ein anderes Thema. Ich lese das Feuilleton der FAZ: "Der enthusiastische Eloquenzexperte", denke an Peter Sloterdijk und meine, eine unpassende, ungerechte Apostrophierung; bemerke aber sofort, dass nicht Peter Sloterdijk, sondern Roger Willemsen gemeint ist: Vom Existenzrecht des Texters: Ein Materialband zum sechzigsten Geburtstag von Roger Willemsen ("Ein leidenschaftlicher Zeitgenosse". Zum Werk von Roger Willemsen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015. 520 S., br. 24,99€.) Die Buchhandlung Heimes ist nicht weit, und ich denke: Beeile Dich - augenblicklich bist Du geneigt € 25 minus ein Cent auszugeben. Ob ich sie jetzt noch ausgeben werde, irgendwann in den nächsten Tagen, weiß ich nicht. Ein Anflug von Enttäuschung. Das Buch ist offensichtlich noch nicht ausgeliefert. Dem Grundsatz getreu, eine Buchhandlung nicht ohne den Kauf eines Buches zu verlassen, stoße ich auf ein bescheidenes Klett-Cotta-Bändchen: Martin Heidegger - Gelassenheit, 2014 in der 16. Auflage erschienen.

Martin Heidegger hält 1955 in seiner Heimatstadt die "Gedenkrede" für "unseren Landsmann, den Komponisten Conradin Kreutzer". Das erste Wort - so Heidegger - könne nur ein Wort des Dankes sein:

"Ich danke der Heimat für alles, was sie mir auf einen langen Weg mitgegeben hat. Worin diese Mitgift besteht, habe ich auf den wenigen Seiten darzulegen versucht, die zuerst in der Festschrift zum hundersten Todestag von Conradin Kreutzer auf das Jahr 1949 unter dem Titel 'Der Feldweg' erschienen sind (S.9)."

Wenn ich nun diese Freitag-morgendliche Lektüre - leicht gestört nur von den touristischen Launen in kinetischer Verschwendung daherkommender Menschen - zum Anlass nehme, mich wieder auf Martin Heideggers "Feldweg" zu besinnen, dann erfährt diese Besinnung einer Erweiterung, indem der Rahmen der Heideggerschen Gedanken selbst eine Ausweitung beansprucht. Er beginnt mit der Unterscheidung des rechnenden Denkens vom besinnlichen Nachdenken:

"Der heutige Mensch ist auf der Flucht vor dem Denken. Diese Gedanken-flucht ist der Grund für die Gedanken-losigkeit. Zu dieser Flucht vor dem Denken gehört es aber, daß der Mensch sie weder sehen noch eingestehen will. Der heutige Mensch wird dies Flucht vor dem Denken sogar rundweg abstreiten. Er wird das Gegenteil behaupten. Er wird - und dies mit vollem Recht - sagen, zu einer Zeit sei so weithinaus geplant, so vielerlei untersucht, so leidenschaftlich geforscht worden wie heute. Gewiß. Dieser Aufwand an Scharfsinn und Überlegungen hat seinen großen Nutzen. Solches Denken bleibt unentbehrlich. Aber - es bleibt auch dabei, daß dies ein Denken besonderer Art ist. Sein Eigenartiges besteht darin, daß wir, wenn wir planen, forschen und einen Betrieb einrichten, stets mit gegebenen Umständen rechnen. Wir stellen sie in Rechnung aus der berechneten Absicht auf bestimmte Zwecke. Wir rechnen im Voraus auf bestimmte Erfolge. Diese Rechnen kennzeichnet alles planende und forschende Denken. Solches Denken bleibt auch dann ein Rechnen, wenn es nicht mit Zahlen operiert und nicht die Zählmaschine und keine Großrechenanlage in Gang setzt. Das rechnende Denken ist kalkuliert. Es kalkuliert mit fortgesetzt neuen, mit immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren Möglichkeiten. Das rechnende Denken hetzt von einer Chance zur nächsten. Das rechnende Denken hält nie still, kommt nicht zur Besinnung. Das rechnende Denken ist kein besinnliches Denken, kein Denken, das dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist (S. 12f.)."

In aller Bescheidenheit weist Martin Heidegger den Einwand zurück, der davon ausgehe, das bloße Nachdenken, die ausdauernde Besinnung sei für den gewöhnlichen Verstand zu hoch: "An dieser Ausrede ist nur das eine richtig, daß ein besinnliches Denken sich so wenig von selbst ergibt wie das rechnende Denken." Jedermann könne den Wegen des Nachdenkens auf seine Weise und in seinen Grenzen folgen!

Das beruhigt auch den Josef, den Franz und selbst den Adrian. Es ist tröstlich zu hören, dass wir denn auch beim Nachdenken keineswegs "hochhinaus" müssen:

"Es genügt wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: auf das, was uns, jeden Einzelnen hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegenwärtigen Weltstunde (S. 14)."

Klingt es nur in meinen Ohren wohltuend, besinnlich - und eben nicht faschistoid, wenn der belastete MH mit Johann Peter Hebel fragt, ob es noch jenes ruhige Wohnen des Menschen zwischen Erde und Himmel gebe? "Waltet noch der sinnende Geist über dem Land? Gibt es noch wurzelkräftige Heimat, in deren Boden der Mensch ständig steht, d.h. boden-ständig ist?"

Liebe Kehrbrüder, wir hören die Botschaft wohl - doch ist sie besinnlich und der Besinnung dienlich? Selbst die in der Heimat Gebliebenen seien vielfach noch heimatloser als die Heimatvertriebenen, schreibt MH 1955 - und noch mehr:

"All das, womit die modernen technischen Nachrichteninstrumente den Menschen stündlich reizen, überfallen, umtreiben - all dies ist dem Menschen heute bereits viel näher als das eigene Ackerfeld rings um den Hof, näher als der Himmel überm Land, näher als der Stundengang von Tag und Nacht, näher als Brauch und Sitte im Dorf, näher als die Überlieferung der heimatlichen Welt (S. 15)."

Rührt Euch das nicht an? Und macht dies nicht geneigt, rund um die Scholle an der Kehrkapelle endlich ein radikales Handyverbot zu verhängen? Hat doch gegenwärtig selbst Maria mit uns Erbarmen und gibt uns ein Netz, selbst für diese Insignien einer besinnungslosen Zeit. MH ist im Übrigen nicht der Kultur- und Technik-Kritiker - bei weitem nicht der Bilderstürmer, als der er hier erscheinen mag. Seine 1955 getroffene Feststellung, dass der Verlust der Bodenständigkeit aus dem Geist des Zeitalters komme, in das wir alle hineingeboren sind, zeitigt auch andere Konsequenzen, die befremdlich wirken auf jemanden, der vor allem die überaus kritische Haltung Heideggers gegenüber dem aufbrechenden Atomzeitalter erinnert, wie sie uns noch im "Feldweg" begegnet. Hier, in seiner Gedenkrede auf Conradin Kreutzer, bemerkt er das aufdringlichste Kennzeichen des jetzt beginnenden Zeitalters, das man neuerdings Atomzeitalter nenne, sei die Atombombe. Aber dieses Zeichen sei nur ein vordergründiges:

"Denn man erkannte sogleich, daß die Atomenergie sich auch für friedliche Zwecke nutzbar machen läßt. Darum sind heute die Atomphysik und deren Techniker überall dabei, die friedliche Nutzung der Atomenergie in weitausgreifenden Planungen zu verwirklichen." Man erblicke im Atomgeschäft das neue Glück und ein riesenhaftes Geschäft: "So haben im Juli dieses Jahres achtzehn Nobelpreisträger auf der Insel Mainau in einem Aufruf wörtlich erklärt: 'Die Wissenschaft - d.h. hier die moderne Naturwissenschaft - ist ein Weg zu einem glücklicheren Leben des Menschen (S. 16f.)."

Im heißen atomaren Hauch von Hiroshima und Nagasaki waren die Eltern und Großeltern der Kinder von Fukushima schon geboren - zu ihnen gehören die verantwortlichen Politiker und Techniker, die soeben dabei sind, die japanischen Atommeiler wieder hochzufahren und die Rücksiedlung in die hochgradig kontaminierte Region um Fukushima zu betreiben. MH ahnte 1955 schon:

"Wenn wir uns durch die erwähnte Behauptung der Wissenschaft zufrieden stellen lassen, dann bleiben wir von einer Besinnung auf das gegenwärtige Zeitalter so weit entfernt als nur möglich (S. 17)."

Ich mag bei all den offenkundigen Verstrickungen und Blindheiten MHs ihm zuallerletzt seherische Fähigkeiten unterstellen. Aber präsiser kann man - trotz der German-Angst und dem vor allem ihr zugeschriebenen Versuch eines Atomausstiegs 60 Jahre später - die Entfernung von einer besonnenen Politik und Geisteshaltung (im Weltmaßstab) nicht angeben! Und warum?

"Weil wir vergessen, nachzudenken. Weil wir vergessen zu fragen: Worauf beruht es denn, daß die wissenschaftliche Technik neue Energien in der Natur entdecken und freisetzen konnte?" MH spricht von einer radikalen Revolution der Weltansicht und von einer völlig neuen Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt: "Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie... Der Mensch beginnt bereits, von der Erde weg in den Weltraum vorzudringen... In absehbarer Zeit erden an jeder Stelle der Erde Atomkraftwerke errichtet werden können... Die entscheidene Frage lautet jetzt: Auf welche Weise können wir die unvorstellbar großen Atomenergien bändigen und steuern und so die Menschheit dagegen sichern, daß diese Riesenenergien nicht plötzlich - auch ohne kriegerische Handlungen - an irgendeiner Stelle ausbrechen, 'durchgehen' und alles vernichten (S. 19)?"

Warum nur - bei aller Besinnung - lässt sich der MH des Feldwegs dazu hinreißen, diese Frage (doch noch) optimistisch zu beantworten. Natürlich hat er Tschernobyl und Fukushima nicht erlebt: "Wenn die Bändigung der Atomenergie gelingt, und sie wird gelingen, dann beginnt eine ganz neue Entwicklung der technischen Welt." Gleichwohl mahnt er hellsichtig:

"Die Umwälzungen, die kommen, kann niemand wissen... Die Mächte, die den Menschen überall und stündlich in irgendeiner Gestalt von technischen Anlagen und Einrichtungen beanspruchen, fesseln, fortziehen und bedrängen - diese Mächte sind längst über den Willen und die Entscheidungsfähigkeit des Menschen hinausgewachsen, weil sie nicht vom Menschen gemacht sind (S. 19)."

Zwei Jahre nach der Entzifferung des DNS-Moleküls durch James D. Watson beruft sich MH wiederum auf das internationale Treffen der Nobelpreisträger in Lindau und zitiert den amerikanischen Chemiker Stanley: "Die Stunde ist nahe, wo das Leben in die Hand des Chemikers gelegt ist, der die lebendige Substanz nach Belieben ab- und aufbaut und verändert."

Hellsicht ist das eine, nüchterne Vorausschau das andere:

"Man nimmt einen solchen Ausspruch zur Kenntnis. Man bestaunt sogar die Kühnheit der wissenschaftlichen Forschung und denkt nichts dabei. Man bedenkt nicht, daß sich hier mit den Mitteln der Technik ein Angriff auf das Leben und das Wesen des Menschen vorbereitet, mit dem verglichen die Explosion der Wasserstoffbombe wenig bedeutet (S. 20)."

Dass sich in MH ein kauziger, wenig reputierlicher Schlafmützenphilosoph entpuppt, mag man verschmerzen, dass seine Mahnungen schon lange von einer offensichtlich irreversiblen Haltung unsererseits zur Technik überholt worden sind, weniger:

"Es wäre töricht, blindlings gegen die technische Welt anzurennen. Es wäre kurzsichtig, die technische Welt als Teufelswerk verdammen zu wollen. Wir sind auf die technischen Gegenstände angewiesen; sie fordern uns sogar zu einer immerzu steigenden Verbesserung heraus. Unversehens sind wir jedoch so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, daß wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten. Aber wir können auch anders... Wir können die technischen Gegenstände im Gebrauch so nehmen, wie sie genommen werden müssen. Aber wir können diese Gegenstände zugleich auf sich beruhen lassen als etwas, was uns nicht im Innersten und Eigentlichen angeht. Wir können 'ja' sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich 'nein' sagen, insofern wir ihnen verwehren, daß sie uns ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und zuletzt veröden (S.22f.)."

 Und immerhin konnte MH - zehn Jahre nach der Befreiung - 1955 auch schon sehen, dass "sich der Mensch auf dieser Erde in einer gefährlichen Lage befindet" - und dies nicht nur, weil im anbrechenden Atomzeitalter die Gefahr eines dritten Weltkrieges nicht auszuschließen sei. Er meint vielmehr, dass die im Atomzeitalter anrollende Revolution der Technik den Menschen auf eine Weise fesseln, behexen, blenden und verblenden könnte, so "daß eines Tages das rechnende Denken als das einzige in Geltung und Übung bliebe". Ja, in der Tat, viele halten heute das Wirtschafts- und Finanzsystem für das mächtigste Funktionssystem in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Und die Finanzkrise der letzten Jahre belegt darüber hinaus womöglich, dass den Ökonomen und Finanzjongleuren selbst die Fähigkeit zum rechnenden Denken abhanden geht. Viele sehen die Welt am Abgrund - gleichermaßen am atomaren wie am finanzpolitischen Abgrund.

"Und welche Gefähr zöge dann herauf?" Das ist heute nur noch eine rhetorische Frage. Denn ist es nicht so gekommen, wie es MH vorher gesagt hat?

"Dann ginge mit dem höchsten und erfolgreichsten Scharfsinn des rechnenden Planens und Erfindens - die Gleichgültigkeit gegen das Nachdenken, die totale Gedankenlosigkeit zusammen. Und dann? Dann hätte der Mensch sein Eigenstes, daß er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist, verleugnet und weggeworfen. Darum gilt es, dieses Wesen des Menschen zu retten. Darum gilt es, das Nachdenken wach zu halten. Allein - die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis fallen uns niemals von selber zu. Sie sind nichts Zu-fälliges. Beide gedeihen nur aus einem unablässigen herzhaften Denken(S. 25)."

Wir müssen heute mehr denn je realisieren, dass MH seine Zipfelmütze in den Jahrzehnten zuvor nicht nur auf dem Kopf getragen hat. Und es fällt schwer die Chuzpe nachzuvollziehen, mit der uns MH zu einem herzhaften Denken ermuntern will. Aber es scheint so, dass die von ihm prophezeite Gleichgültigkeit gegen das Nachdenken im Zeitalter der sozialen Netzwerke Ausmaße angenommen hat, die ihresgleichen vergeblich suchen.

Vorsicht! Da hinten kommen Touristen!

 

 

 

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund