Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?
Ich führe ja sporadisch Gespräche mit meinem alter ego Adrian. Vor Wochen hat er verzweifelt in das off dieses Blogs hineingerufen, ob da wohl jemand sei. Ich habe mich gemeldet und angedeutet, ich hätte "zu tun gehabt". Als vor einiger Zeit einer der akademischen Lehrer Rudi Krawitzens starb, hatte dieser verfügt, dass sein bibliothekarischer Nachlass in die Hände von Rudi übergehen solle. Rudi hat dieses Erbe angenommen und Mitte Januar standen 50 Umzugskartons mit dem entsprechenden Nachlass in unserem Archiv. Ich konnte einer ersten Sichtung nicht widerstehen und habe mich - wie zu erwarten - verloren. Bücher üben immer noch eine magische Anziehungskraft auf mich aus. In ausgedünnter Atmosphäre habe ich in unserem Archivraum -in den Katakomben des C-Gebäudes - mehrere Tage zugebracht und die Kartons ausgepackt. Dabei kommst Du Dir vor, als säßest Du am intellektuellen Totenbett des Nachlassers. Du nimmst Buch für Buch in die Hände; das ein oder andere betrachtest Du natürlich genauer. Als 25 Jahre Jüngerer tauchst Du ein in die Hinterlassenschaften eines ungemein breit interessierten Zeitgenossen, worin sich dann wiederum die geistige Hinterlassenschaft abendländischer Kultur offenbart, angereichert durch Anmerkungen und Rezensionen. Das hat mich irritiert und zugleich darauf gestoßen, dass ich Ordnung bringen sollte in eine eigene Welt, die sich irgendwann als Hinterlassenchaft meinen Kindern aufdrängen wird. Im vorliegenden Fall haben sich Kinder und Enkel gleichermaßen entlastet und ein eigenes Zeichen der Wertschätzung (von Hinterlassenschaften) gesetzt: Ist man nicht bereit oder in der Lage, seinen (wahl-)verwandtschaftlichen Beziehungen zu Lebzeiten eine lebendige und wertschätzende Aura zu verleihen, muss man sich nicht wundern, dass ein bibliophiles Erbe in den Katakomben eines anonymen Archivs landet.
Warum nun diese lange Vorrede? Neben den Geistesriesen abendländischer Kultur fiel ein Büchlein in meine Hände, das Rupert Riedl 1988 veröffentlicht hat. Das ist das Todesjahr meines Vaters (Jahrgang 1922). Rupert Riedl war 1988 so alt, wie ich heute bin, nämlich 63 Jahre. Er hat dem Buch den Titel "Der Wiederaufbau des Menschlichen - Wir brauchen Verträge zwischen Natur und Gesellschaft" gegeben.
Und er hat es mit einer Widmung versehen: "Dieses Buch ist der nächsten Generation gewidmet, vor allem meinen Töchtern Barbara und Sabina". Natürlich fühlte ich mich angesprochen und begann - wie so häufig - einfach quer zu lesen, ein wenig zu schmökern. Der Name Rupert Riedl war mir vertraut im Kontext eines "Wissenschaftsparadigmas", das mir seit dem Erscheinen der "Sozialen Systeme" von Niklas Luhmann bekannt ist, und in das ich selbst zunehmend "hineingewachsen" bin und das mir in seiner spröden, abstrakten Sprache zu einer intellektuellen Heimat geworden ist (siehe: "Die Luhmannsche Lektion" und "Gebrauche niemals den Imperativ").
Als erstes nahm ich mir Bertrand Russells Hühner (S. 129-134) vor. Rupert Riedl beginnt mit dem Watzlawickschen Hammer: Herr B., der ein Bild aufhängen will, findet Nägel, aber keinen Hammer. Er beschließt, sich an seinen Nachbarn zu wenden, den er gestern hämmer gehört hatte. Nach reiflichen Überlegungen, in deren Zuge ihm immer deutlicher wird, dass sein Nachbar das Ausleihen des Hammers verweigern könnte, will er sich um keinen Preis dieser Blamage aussetzen. Schließlich geht er im Sinne dieser Selbstsuggestion (self fulfilling prophecy) zu seinem Nachbarn, um ihm zu sagen: "Den Hammer können Sie sich behalten, Sie Rüpel." Riedl argumentiert in der Folge auf der Höhe einer Kritik an den naiven Prämissen einer empirisch sich verstehenden Wissenschaft:
- "Was die mutmaßlich äußere Wahrheit betrifft, die sogenannte empirische, so verhalten wir uns nach unseren erblichen Anlagen so, als würde mit der Bestätigung einer Prognose die Bestätigung der nächste Prognose wahrscheinlicher werden. Ist ein Experiment gelungen und wieder gelungen, so sagen wir uns ja nicht, dass nach statistischen Gesetzen diese Häufung nun bald in Misserfolge umschlagen werde. Im Gegenteil; Fortgesetzte Bestätigungen bringen uns einer Deutung nahe, die, in unserer Redeweise, die Wahrheit geannt wird. Damit aber entkommen wir nie der Lage jenes Huhnes, das mit jedem Tag der Fütterung seinen Fütterer mehr für seinen Wohltäter halten muss; ohne wissen zu können, dass es damit nur dem Tage näherkommt, da es im Suppentopf dieses Wohltäters landen wird. Bertrand Russell verdanken wir diese Einsicht. Und der erste Rat, den ich geben kann: Man achte auf seine Wohltäter. Dies gilt auch für alle empirischen Wissenschaften."
- Hilft uns die innere Wahrheit beim Erkennen der Welt? Rupert Riedl spricht von "innerer Wahrheit" und meint die sogenannte rationale, die sich nicht auf den lärmenden Haufen der Sinne verlasse: "Nun will die innere Stimme aber gar nicht von der Unsicherheit der Empirie abhängen. Dann aber könnte die Welt auch nur in unserer Vorstellung bestehen. Und tatsächlich gibt es keinen sicheren Grund, der dagegenspricht, dass diese Welt nur ein Traum ist; allerdings auch keinen, der dafürspricht. Das gilt ebenso für alle deduktiven Wissenschaften, Logik, Mathematik und ihre Anwendungen."
- Honi soit, qui mal y pense: "Was nun die mutmaßlich kollektive Wahrheit betrifft, so ist sie ein Kind der Unsicherheit der Empirismus-Rationalismus-Ehe. Wo immer niemand etwas wissen kann, richtet man sich, wie erinnerlich, am besten nach der allgemeinen Meinung. Und wenn alle dasselbe meinen, dann steigt diese Meinung auf wie Phönix - in die Höhen von Gewissheit und Wahrheit."
Conclusio: "Wo immer sich eine sogenannte Ein-, Weit- oder Ansicht in einem Kopf allein abspielt - und von den Einzelköpfen geht ja alles aus -, kann es so viele Ein-, Weit- oder Ansichten geben wie Köpfe. Diese Ein- oder Ansicht verdanken wir den Konstruktivisten."
Der nächste Schritt ist die Frage nach der Wahrheit. Rupert Riedl argumentiert ähnlich wie Heinz von Förster (siehe dessen Interview mit Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners), indem er bedauert, dass wir trotz dieser Ausgangslage immer noch an der "Zugänglichkeit irgendeiner wahren Wahrheit" festhielten. Selbst im ambitioniertesten Kontext der Wissenschaft führe dies zwangsläufig zu radikalen Formen der Institutionalisierung und der Abgrenzung:
"Schon zur Verständigung in jeder Wissenschaft bedarf eine jede von ihnen einer Anzahl gemeinsam getroffener Annahmen. Diese Weltdeutungs- und Kommunikations-Ansätze nennt man Paradigmen."
Besonders reibt sich Riedl - selbst im "Paradigma der Naturwissenschaften sozialisiert - am "naturwissenschaftlichen Reduktionismus", der nur "das Messbare" für wissenschaftlich erkläre. Die Pradigmen - mit den Sozial- und Geisteswissenschaften, denen der Reduktionismus für das Weltverständnis bedeutungslos erscheine, auf der anderen Seite - stünden sich unvermittelt gegenüber. Übertretungen, von welcher Seite auch immer, würden geahndet und durch Gutachter-Seilschaften gesichert:
"Diese entscheiden nun in Übereinstimmung über die Zulassung zur Veröffentlichung, weil sie nach der Übereinstimmung mit einem Paradigma ausgewählt wurden. Am Paradigma zu kratzen, welchem auch immer, ist gefährlich. Der Kritiker endet zwar nicht mehr physisch auf dem Scheiterhaufen, aber psychisch. Also muss, wer Karriere machen will - und dies muss, wer fachlich überleben will - zunächst mit den Wölfen heulen, mit dem Geheul welchen Rudels auch immer."
Das "Geheul" repräsentiert die jeweiligen Paradigmen, von denen ein jedes die Funktion einer Sprache habe, denn ohne gemeinsame Sprache könne logischerweise auch nicht miteinander gesprochen werden. Wo glaubt Rupert Riedl nun "das Vornehme der Wahrheit" zu finden? Er bezieht sich auf eine "Einsicht" des "weisen Max Planck". Er sei davon ausgegangen, dass der "wirkliche Fortschritt der Wissenschaften" darauf beruhe, dass die Alten, die einen Wechsel nicht zuließen, allmählich abträten und die Jungen das,womit sie aufgewachsen seien, für selbstverständlich hielten. Allein die beruhigende Wärme der Verständigung, der gemeinsame Nestgeruch verbürge ja noch keine "Wahrheit, nach der wir alle strebten. Wie bei den Russellschen Hühnern vertraue sie nur darauf, dass die Fütternden in den einzelnen Institutionen weiterfüttern.
Das "Vornehme der Wahrheit" finde sich - so Riedl - in den "kritischen Kleinwissenschaften, abgelöst von den großen, sich selbst bestätigenden Strömen: "unbedankt, gefährdet und bedroht von allen den Institutionen verfügbaren sozialen Strafen. Denn der Wandel zur nächstbesseren Wahrheit, für den sie kämpfen, erfüllt sich, wie wir von Max Planck wissen, in ihrer Generation gewöhnlich nicht. So würdig die Institutionen der Wissenschaften auch de facto sein mögen und wie dröhnend ihr verschiedenes Pathos: Das wirklich Vornehme in ihnen finden wir in vielen in ihnen vereinzelten Kreaturen. Jeder Kultur sei empfohlen, den Blick zu weiten, um sie zu finden."