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Hildes Geschichte - Ein Kind für den Führer

Franz Streit war Berufssoldat seit 1936; nach einer Gebirgsjägerausbildung in Sonthofen zuerst Mitglied der 4. Leichten Division, aus der am 3.1.1940 die 9. Panzerdivision wurde. Er hatte Kenntnis vom Schreiben des Reichsführers der SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, Heinrich Himmler. Unter dem Signum:  „SS-Befehl für die gesamte SS und Polizei“ schreibt dieser

am 28.10.1939:

„Jeder Krieg ist ein Aderlaß des besten Blutes. Mancher Sieg der Waffen war für ein Volk zugleich eine vernichtende Niederlage seiner Lebenskraft und seines Blutes. Hierbei ist der leider notwendige Tod der besten Männer, so bedauernswert er ist, noch nicht das Schlimmste. Viel schlimmer ist das Fehlen der während des Krieges von den Lebenden und der nach dem Krieg von den Toten nicht gezeugten Kinder…“

Mit Verweis auf die Idee, dass nur der „ruhig sterben könne“, der „Söhne und Kinder“ hat, führt Himmler weiter aus:

„Über die Grenzen sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittlichen Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden, von denen das Schicksal allein weiß, ob sie heimkehren oder für Deutschland fallen…“

Und weiter:

„Im vergangenen Krieg hat mancher Soldat aus Verantwortungsbewußtsein um seine Frau, wenn sie wieder ein Kind mehr hatte, nicht nach seinem Tode in Sorgen und Not zurücklassen zu müssen, sich entschlossen, während des Krieges keine weiteren Kinder zu erzeugen. Die Bedenken und Besorgnisse braucht ihr SS-Männer nicht zu haben; sie sind durch folgende Regelung beseitigt:

  • Für alle ehelichen und unehelichen Kinder guten Blutes, deren Väter im Kriege gefallen sind, übernehmen besondere, von mir persönlich Beauftragte im Namen des Reichsführers SS die Vormundschaft. Wir stellen uns zu diesen Müttern und werden menschlich die Erziehung und materiell die Sorge für das Großwerden dieser Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit übernehmen, so daß keine Mutter und Witwe aus Not Kümmernisse haben muß.
  • Für alle während des Krieges erzeugten Kinder ehelicher und unehelicher Art wird die Schutzstaffel während des Krieges für die werdenden Mütter und für die Kinder, wenn Not oder Bedrängnis vorhanden ist, sorgen. Nach dem Kriege wird die Schutzstaffel, wenn die Väter zurückkehren, auf begründeten Antrag des einzelnen wirtschaftlich zusätzliche Hilfe in großzügiger Form gewähren.

SS-Männer und Ihr Mütter dieser von Deutschland erhofften Kinder zeigt, daß Ihr im Glauben an den Führer und im Willen zum ewigen Leben unseres Blutes und Volkes ebenso tapfer, wie Ihr für Deutschland zu Kämpfen und zu sterben versteht, das Leben für Deutschland weiterzugeben willens seid.

                                                                                                                                                                                        Der Reichsführer SS H. Himmler.“

 

Zumindest begreifen wir, dass Himmler – zweifellos im Einvernehmen mit der NS-Führungselite – hier im Begriff war, eine Staatsdoktrin zu begründen, die zu einem „Saatbeet für 200 Millionen“ beitragen sollte. Wir wissen auch, dass SS-Angehörige und deutsche Frauen dieser Aufforderung gefolgt sind, und dass die Bejahung unehelicher Kinder integraler Bestandteil der „Züchtungsidee“ einer „nordischen Rasse“ war.

Nicht nur Franz hatte ganz sicher Kenntnis von dieser „Staatsdoktrin“; auch Hilde wurde mit den Auswüchsen einer entsprechenden Praxis konfrontiert – oder sollte man nicht eher sagen „begünstigt“? Ohne den mit den Entbindungsheimen der NSV geschaffenen Rahmen hätte Hilde ihren „Bastard“ nicht zur Welt bringen können. Dort gehörten Himmlers Verlautbarungen zum Schulungsmaterial und sorgten immerhin dafür, dass auch die Niederkunft Hildes in einem fürsorglichen und geschützten Raum möglich wurde. In einer von bürgerlicher Moral weitgehend gesäuberten Gesellschaft und im Verbund eines damit propagierten Frauen- und Mütterbildes sollte Hilde ein leuchtendes Beispiel dafür abgeben, wie junge Frauen bereit waren, „im Glauben an den Führer und im Willen zum ewigen Leben unseres Blutes und Volkes ebenso tapfer wie willfährig das Leben für Deutschland weiterzugeben“.

 

Wir wissen heute, wie die Geschichte weitergegangen ist. Wir wissen, dass es letztlich auch den Himmlers und Bormanns nicht gelungen ist, bürgerliche Moralvorstellungen per Dekretum von der Agenda der Moralgeschichte zu wischen. Und auch Gerda Bormann, die sich für die Abschaffung der Monogamie und die Einführung der „Volksnotehe“ einsetzte (ein Konzept, das jedem Mann per Gesetz mehrere Frauen zugestand), die selbst Mutter von 11 Kindern war, und die ihren Mann in seinen wechselnden Liebschaften unterstützte, blieb ja nur eine Fußnote in der Geschichte des Nationalsozialismus.

Und Hilde, die allmählich in einen sicht- und wahrnehmbaren Zustand der Segnung des Leibes hineinwuchs? „Ich wünsch mir eine kleine Ursula – und überhaupt ganz viele Kinder mit Dir, nur mit Dir“, hatte sie Franz geschrieben und innerlich gejubelt, als die Antwort von Franz sie anscheinend bestätigte und glückselig gemacht hatte. Das heilige Sakrament der (Ein-)Ehe „bis das der Tod euch scheidet“ war Hilde ein ewiges Gebet und kam ganz sicher der Erfüllung all ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte gleich.

Die wenigen Wochen – vielleicht Monate – bis in den Januar/Februar 1942 mögen trotz aller inneren Spannungen und Zerrissenheit vielleicht die glücklichsten im Leben der eben erst 17-jährigen jungen Frau gewesen sein; voller Erwartung, ausgerichtet auf ein Leben, das sich nur in der Wahrnehmung einer naiven, soeben erst erweckten Frau noch nicht als Illusion, ja eine geradezu unausweichliche Katastrophe offenbarte. Franz hatte intuitiv die ihm zugedachte Rolle bestätigt. Er reagierte liebevoll und fürsorglich, er kündigte seinen baldigen Besuch an. Er verschwieg konsequent das Leben der anderen, das Leben Gerdas und seines Sohnes Gert. Was ihn dabei intuitiv leiten mochte, war einerseits die ständige Schwebe zwischen Leben und Tod – nie war die Gegenwart einer ganzen Generation junger Männer so brutal zwischen diesen beiden Polen aufgespannt. Andererseits irritierte ihn nach wie vor das Driften zwischen den beiden Frauen, deren eine die heile Familienwelt zu Hause und aus der Entfernung suggerierte, während die Unerreichbarkeit der anderen in ihm diesen merkwürdigen, sehnsuchtsgetriebenen Hunger verursachte, an dem er sich vielleicht mehr und mehr zu verzehren begann.

In ihm löste die innere genauso wie die äußere – ständig als Lebensbedrohung daherkommende – Spannung eher noch den unbändigen, brutalen Lebenswillen aus; immer noch in der siegesverwöhnten wie – gewohnten Gewissheit, es noch packen zu können, diesem Krieg noch die endgültige, finale Wende geben zu können.

Der 1914 geborene Franz Streit war ein gut ausgebildeter durch viele Schlachten gestählter Handwerker des Krieges und repräsentierte die schon ausgemendelte, übrig gebliebene Elite des deutschen Soldatentums – Berufssoldat von Anfang an. Für Franz war ja Russland nicht die erste Etappe in diesem ausufernden Krieg. Er hatte ja alle – vor allem die so erfolgreichen (als Blitzkriege bezeichneten) Feldzüge in Polen, Holland, Belgien, Frankreich und auf dem Balkan bereits hinter sich. Verfügt man da bereits über eine gewachsene Mentalität und einen entsprechenden soldatischen Habitus? Irgendwann – vielleicht erst 70 Jahre später – wird sich die Frage stellen, ob neben der Vaterschaft noch irgendetwas anderes zu retten sein würde? Wo der Vater die sehnsüchtige Suche der Tochter zu einem seligen Ende bringt, wirft der Großvater und erst recht der Urgroßvater all die Fragen auf, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unausweichlich machen.

Alexander Kluge greift Jahrzehnte später Karl Korschs „Blitzkriegstheorie“ auf und kann sehen, warum diese im „Westfeldzug“ so überaus erfolgreiche Strategie eine Mentalität und ein Selbstbild begründet, dass überspitzt formuliert darin gipfelt, „dem Feind gar nicht erst zu begegnen – die Truppe stellt ihre Funkgeräte ab und vermeidet, im Rücken des Feindes, das Gefecht“. Das ist eine „Flucht nach vorne“. Was in Polen und im Westen noch verfing, weil man buchstäblich in einem „begrenzten“ Terrain operierte, ging in Russland schief, weil man gewissermaßen „grenzenlos“ operieren musste, der Gegner zurückwich und im geeigneten Augenblick gnadenlos zurückschlug.

Hitlers Armeen siegten sich bis in den Dezember 1941 hinein zu Tode; Kesselschlacht nach Kesselschlacht erschöpfte die Reserven des Gegners offenkundig nicht, überdehnte allerdings die eignen Versorgungslinien auf verhängnisvolle Weise: „Gäbe es doch Straßen und befestigte Wege hier, wir wären längst in Moskau!“ hatte Franz an Hilde geschrieben. Aber Moskau mochte wohl die politische Metropole sein, die Grenzen der Sowjetunion lagen viele tausend km weiter im fernen Osten, und die sieggewohnten Panzerarmeen sollten in den nächsten Jahren zu spüren bekommen, wie man sie endgültig ausbluten würde und ihnen die Strategie der rückwärts, heimwärts gewandten „wandernden Kessel“ aufzwingen würde. Und war Franz tatsächlich als „Panzersoldat“ immer vorne weg, so dass man ihn wenigstens retten könnte vor den Verstrickungen, derer sich so viele Wehrmachtssoldaten nicht entziehen konnten bzw. wollten? Aber als Nazi würde er ganz sicher überzeugt gewesen sein vom „Vernichtungskrieg“ und den damit unausweichlich verbundenen Verbrechen von SD und im Hinterland operierender Wehrmachts- und Polizeieinheiten.

Zu Beginn des Jahres und hinein ins Frühjahr 1942 wollte davon allerdings zu Hause und auch vorne an der Front noch niemand etwas wissen. Und Franz würde ja letztlich auch keine Chance haben den Wahnsinn bis zum bitteren Ende hin zu Buch Jupp   Hildes Geschichte   final 2 page313 image170erleben, weil ihn sein ganz persönliches, individuelles Finale im Kontext der endgültigen Wende nach der verlorenen Panzerschlacht im Süden von Kursk bereits im September 1943 erreichen würde. Gert, sein ältester Sohn würde dann fast 3 Jahre alt sein, Ursula, seine Tochter, hatte ihren 1. Geburtstag bereits hinter sich und Werner, sein jüngster Sohn, machte vielleicht eben seine ersten Schritte. (30) Seine beiden Frauen setzten sich auf ihre je eigene Weise mit dem nun Gefallenen auseinander; die eine als offiziell trauernde und hinterlassene Kriegerwitwe; die andere hingegen führte einen eigenen brutalen Krieg an der Heimatfront, in dem sie sich den noch lebenden, den noch liebenden Krieger gleichsam wie ein Herz aus dem Leibe riss und dann entehrt und „entmannt“ den Kampf aufnahm gegen ein gleichermaßen moralisch gefestigtes wie unerbittliches Umfeld.

Selbst in den amtlichen Papieren für die kleine Ursula steht: „Vater unbekannt“. Und Hilde, die mit ihrer Unschuld auch jeden Anschein von Jugend verloren hatte, legte in dieser Zeit das Fundament für eine Persönlichkeit, an der man fortgesetzt bis ins hohe Alter würde beobachten können, woran ein Mensch wächst, sich entwickelt und vor allem, was er auszuhalten und zu ertragen vermag.

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