Hildes Geschichte - Die Offenbarung (II)
Aber eines nach dem anderen:
Gebangt und gezittert um ihren Franz hatte Hilde seit ihrer Trennung – und der noch ungeahnten Schwangerschaft – am 9. September 1941. Den durch die „anderen Umstände“ ausgelösten Schlag vor den Kopf hatte Hilde genommen wie ein zum k.o. getroffener Boxer. Sie hatte gewankt und war zu Boden gegangen. Sie hatte das klare Empfinden, dort liegen bleiben zu müssen, weil ihr die Beine den Dienst versagten. Sie hatte das noch stärkere Verlangen, dort liegen bleiben zu dürfen, weil sie glaubte vor Scham vergehen zu müssen. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie diesen Zustand jemals würde überwinden können.
Es waren einerseits Änne, die sie vor sich selbst schützte, die in ihrer eigenen Hilflosigkeit die Unantastbarkeit des ungeborenen Lebens beschwor und damit Hilde zu einer Bestätigung und Wiederbelebung ihres zutiefst christlich begründeten Selbstbildes verhalf. Andererseits waren es die Briefe Franzens, die zur christlichen Atemspende den unbändigen vorwärts gerichteten Lebenswillen in ihr weckten. Sie wollte leben, sie würde leben und vorangehen, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wie ein Panzer, der eine Bresche in Feindesland schlug.
Das Feindesland begann mitten in der eigenen Familie:
Änne hatte Hilde davon überzeugt, dass Weihnachten die rechte und im Grunde genommen auch die letzte Gelegenheit wäre, das Heft des Handelns in der eigenen Hand zu behalten. Änne hatte mit christlichen Ritualen nicht viel im Sinn. Möglicherweise vermittelte ihr dies die Inspiration, das christlichste aller Feste zu nutzen, um zwar keine „unbefleckte Empfängnis“ zu suggerieren, aber immerhin auf Milde und christliche Nächstenliebe zu setzen.
Auf den heiligen Geist würden sie sicherlich vergeblich hoffen und auch Josef, der seine schützende Hand über Maria hielt, würde sich – auch wenn er der Namenspatron von Hildes Vater war – nicht sogleich in Gestalt der alles hinnehmenden und verzeihenden Vatergestalt schützend vor Hilde stellen.
Die größten Sorgen und Befürchtungen bezogen sich jedoch auf Hildes Mutter, die vermutlich vor lauter christlicher Demut und Engstirnigkeit eher engherzig reagieren denn Jesaia gemäß – der Maria Magdalena gedenkend – ihr Herz weit öffnen würde für die Mühseligen und Beladenen.
Nichts überdauert andererseits die Generationen wohl mehr als die im christlichen Glauben verankerten Rituale – zumindest dann, wenn sie mit der Familie jene Geborgenheit und letzte Zuflucht verbürgen, die von der Urchristenheit bis zum heutigen Tag die unverbrüchliche Zugehörigkeit ihrer Schäflein zur Gemeinde garantieren. Hilde hatte ihre Eltern gebeten, am heutigen Heiligen Abend Änne aufzunehmen. Die Eltern schätzten Änne sehr – und da Änne allein in der Welt stand, war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie einen Platz bekam an der bescheidenen Tafel der Lahnsteins. Der Christbaum stand bereits geschmückt mit Silberkugeln, wenigen Strähnen sorgsam verteilten Lamettas und 12 ausgewogen verteilten weißen Kerzen in der Ecke gegenüber des großen, die Stube auch wohlig wärmenden Herdes. Fürs Festmahl war alles vorbereitet. In der großen Kasserolle schmorte seit geraumer Zeit ein Hasenbraten. Der Vater hatte den Hasen am Tag zuvor geschlachtet, gehäutet und ausgenommen, Leber und Nierchen, sowie Herz und Lunge gesondert gelagert. Es gab Feldsalat und Endivien aus dem eigenen Garten, ebenso wie die im Herbst geernteten Zwiebeln, Schalotten, Möhren und Sellerie, die für eine gute Bratensauce sorgen würden. Mit den im Lehmkeller eingelagerten Kartoffeln war für ein reichhaltiges und üppiges Festmahl gesorgt. Hilde, die am frühen Nachmittag mit Änne an der Weihnachtsfeier im „Goldenen Pflug“ teilgenommen hatte, wollte pünktlich um 17.00 Uhr mit Änne zu Hause sein – zur Bescherung in der Familie.
An diesem Nachmittag war Hilde unruhig und nervös. Sie hatte Angst vor dem Heiligen Abend, von dem sie glaubte, dass sie ihm das Heilige nicht nehmen dürfe, dass sie ihn nicht entweihen dürfe durch das Bekenntnis ihrer Sünde. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass Maria durch Josef vor etwas geschützt werden musste, das gewissermaßen als Urgrund der neutestamentlichen Heilsgeschichte, die Geburt des „Erlösers“ in der Gestalt von Gottes Sohn für eine breite Öffentlichkeit verdeckte. Die Urschuld erneuerte sich in dem, was die Christen „unbefleckte Empfängnis“ nennen. Und niemand wagte es, den sündigen Gedanken zu fassen, dass hinter der „unbefleckten Empfängnis“ jener Akt unausweichlich stattgefunden haben musste, der sie – unsere Hilde – am 9. September 1941 so unsäglich befleckt und mit dem Stigma einer ungedeckten Schwangerschaft geschlagen hatte. Wenn der Franz doch nur hier wäre, sie schützen, um ihre Hand anhalten würde, dann könnte sie es ja ertragen, ein „6-Monats-Kind“ zur Welt zu bringen; dann könnte man den Vater vielleicht besänftigen und die Mutter beruhigen.
Änne beruhigte ihr Hildchen; sie redete sanft und mit Engelszungen auf sie ein und versprach ihr, nichts, gar nichts auf dieser Welt würde so heiß gegessen, wie es gekocht würde. Alles, was käme – und sei es noch so heftig – würden sie gemeinsam durchstehen; nichts und niemand könne ihr etwas anhaben.
Das Essen war köstlich. Änne hatte zwei Flaschen Spätburgunder organisiert und als Weihnachtsgabe beigesteuert. Hilde erfreute den Vater mit einer Schachtel Juno und zwei Zigarren. Für die Mutter gab es ein Fläschchen 4711 – Kölnisch Wasser und Annemie erhielt neben der obligatorischen Tafel Schokolade ein kleines Etui mit einer Nagelschere und einer Feile. Änne hatte Annemie ein Lore-Heftchen mitgebracht – die Geschichte eines Waisenkindes, das zum Weihnachtsfest in eine neue Stieffamilie aufgenommen wird.
Gegen 19.00 Uhr schaltete der Vater den Volksempfänger ein und man hörte, wie der Führer auf seine typische Weise intonierte: „In diesem Krieg siegt nicht das Glück, sondern endlich einmal das Recht… Der Herrgott hat bisher unserem Kampf seine Zustimmung gegeben. Er wird uns auch in Zukunft nicht verlassen.“
Der Vater murmelte vor sich hin, dass es schon verwunderlich sei, wofür der Herrgott selbst vom Antichristen bemüht würde, und die Mutter, die das genauso sah, schaute ihn hilflos an und meinte: „Vielleicht ist die Führung im Grunde ihres Herzens doch viel gottesgläubiger, als es den Anschein hat.“ „Das wird man sehen, wenn der Krieg zu Ende ist“, meinte Änne und erzählte, dass inzwischen in Köln, in dem Viertel ihrer Kindheit alle jüdischen Familien „evakuiert“ worden seien. In dem Zusammenhang höre sie jetzt immer wieder, dass dies nicht freiwillig geschehe, und dass die Familien auch nicht alle ins Ausland abgeschoben würden. Das war ein Thema, von dem Hildes Vater nichts wissen wollte. Gerade er, der bei den jüdischen Schlachtern das rituelle Schächten gelernt hatte und der sich so manche Reichsmark nebenher verdient hatte, hatte zu den Geschehnissen ein ambivalentes Verhältnis. Bad Neuenahr galt lange als ausgewiesenes „Judenbad“, und es gab viele ansässige und wohlhabende jüdische Familien, die großen Wert auf koscheres Essen legten. Geschlachtet wurde mit einem scharfen, schartenfeien Messer, das die Halsschlagader, Luft- und Speiseröhre in einem Zug durchtrennen muss. Hierin hatte es Josef Lahnstein zu anerkannter Meisterschaft gebracht. In den letzten Jahren waren ihm seine Kunden abhanden gekommen, und er wusste nicht so recht, was er von alledem halten sollte.
Als sich Annemie mit ihrem Lore-Heftchen in die Schlafkammer verzogen hatte, der Spätburgunder Hildes Vater zu einer weinseligen Stimmung aufhalf, nahm sich Änne ein Herz und sagte klar und laut vernehmlich: „Die Hilde ist schwanger!“ Hilde, die dem Vater gegenübersaß, zuckte zusammen; die Mutter bekam große Augen und sah unvermittelt ihren Josef an. Der wiederum erweckte den Eindruck, diese unfassbare Nachricht, sei bei ihm nicht angekommen. Er leerte das Glas bis auf den Grund, zuckte mit der Oberlippe, so dass das schmale Hitlerbärtchen zu hüpfen schien. (31) Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die nicht verriet, ob das nun ein Lächeln oder der Anflug eines Entsetzens sein sollte.
Änne wiederholte in aller Seelenruhe den Satz noch einmal: „Die Hilde ist schwanger!“ Bevor Hildes Eltern reagieren konnten, brach Hilde in Tränen aus und rückte instinktiv näher zu Änne. Hildes Mutter (32) ließ nun endlich ein wiederholtes: „Ohjöh, Ohjöh“ um Herrjottswillen!“ vernehmen, während dem Vater die weinselige Röte aus dem Gesicht wich. „Der Vater heißt Franz Streit, ist 27 Jahre alt und Soldat an der Ostfront. Er war hier von Mitte August bis in den September zu Genesung in der Ehrenwall‘schen Klinik. Hilde hat ihn im „Goldenen Pflug“ kennengelernt. Er hat Hilde geschrieben, dass er sie heiraten will. Sein Urlaubsgesuch läuft, und er wird in nächster Zeit hierherkommen.“
Der Vater verließ wortlos die Stube in Richtung Garten, während die Mutter kopfschüttelnd auf ihre Tochter blickte. „Aber das kann doch gar nicht sein, die Hilde ist doch erst 17 Jahre alt und ein unschuldiges Kind!“
„Mit der Unschuld ist es nun vorbei. Als ich in Hildes Alter war, ist mir genau dasselbe passiert. Ich habe Glück gehabt. Das Kind ist nicht zur Welt gekommen. Aber Hilde möchte dem Kind das Leben schenken – sie sagt, der liebe Gott habe es gegeben und der Mensch dürfe es nicht nehmen. Und außerdem liebt sie den Franz und möchte ihn heiraten.“
„Aber die Hilde ist ein Kind. Wie stellt ihr euch das vor – und die Schande – und wer weiß – Gott behüte – ob dieser Mensch jemals aus Russland zurückkehrt!?“ Hilde sah ihre Mutter entsetzt an und brachte unter Schluchzen soeben ein Gestammel hervor, das bedeuten sollte, dass der Franz ganz bestimmt zurückkomme und sie heiraten werde.
„Ach Kind, Kind, Kind“, seufzte die Mutter und fügte hilflos hinzu: „Wie konnte das denn nur geschehen? Das ist doch ein erwachsener Mann, und du bist ein Kind!“
„Nein“ antwortete Hilde, nun ruhiger und mit leichtem Trotz: „Ich bin kein Kind mehr, und auch Franz hält mich nicht für ein Kind. Du wirst es sehen, wenn er kommt!“ Die Mutter schaute traurig und sagte nur noch: „Dein armer Papa!“
Diese letzte Bemerkung schnitt tief in Hildes Gemüt ein und fügte ihr die empfindlichste Wunde zu. Sie wusste, wie sehr sie Vaters Tochter war – wie sehr sie ihm immer auch den erhofften Sohn ersetzt hatte. Sie haderte am heftigsten genau an diesem wunden Punkt und wusste nicht weiterzuleben mit der Enttäuschung und der Schande, die sie dem Vater bereitete.
Der saß unterdessen draußen in der Kälte und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Seine Älteste, die verlässlichste, gehorsame, stets folgsame und bemühte Tochter – das konnte nicht wirklich sein, was er da gehört hatte. Es war ihm unangenehm, und er wollte über Unsägliches auch nicht reden. Er wollte und konnte es auch nicht denken. Alles sollte ganz einfach seine Ordnung haben; dann bliebe auch eine Ehre unangetastet, die der Ordnung Sinn und dem Sinn seine Ordnung ab. Und so drohte einfach eine Schande, die eine Schande war, weil sie eine Schande war. Die Kirche interessierte ihn nicht. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass nicht sein sollte, was nicht sein durfte. Ein Kerl musste sich einem anständigen Mädchen gegenüber zurückhalten. Und wenn er mehr wollte, hatte er beim Vater um ihre Hand anzuhalten. Und ein Mädel, das sich nicht zurückhalten konnte, war eben kein anständiges Mädel. Dieses Dilemma schien dem Josef Lahnstein am Vorabend der Geburt Jesu – am 24.12.1941 – unauflösbar und es würde noch einiges Wasser den Rhein und die Ahr herabfließen müssen, bis sich daran etwas ändern würde.
In der Stube hatte Änne Hildes Mutter eröffnet, dass sie Hilde jetzt mitnehmen würde und sich auch in Zukunft um alles kümmern würde. Sie würden alle gemeinsam eine Lösung finden.