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Hildes Geschichte - Hildes Traum

Franz adressierte den Brief fein säuberlich und gab ihn mit

einem zweiten Brief an seine Frau auf der Poststelle ab. Auf dem Rückweg zur Unterkunft spürte Franz, dass eine Wetterwende bevorstand und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die ihn aus dem Westen soeben noch erreichten. Irgendwie hatte Franz nun zwei Frauen, ohne dass ihm seine Situation unmittelbar vor dem ersten Wintereinbruch in Russland Gelegenheit gegeben hätte, darüber in der angemessenen Weise nachzudenken.

Vielleicht war es ein Glück, dass Franzens Post zügig und noch vor dem ersten Erstarren aller Bewegung im Osten ihren Weg nach Westen nahm und schon 10 Tage später endlich im Postfach des „Goldenen Pflugs“ landete, wo sie unvermutet mit einem breiten Lachen und einem wohlwollenden Nicken des Rezeptionisten am Nachmittag des 6. Oktober in die Hände Hildes gelangte. Hilde bedankte sich herzlich und war wie der Blitz verschwunden.

Hilde verzog sich in die Wäschekammer; dort würde sie jetzt am Nachmittag ganz bestimmt ungestört sein. Mit zitternden Händen öffnete sie den dicken Briefumschlag und faltete die Seiten auf. Franz hatte jeden einzelnen Brief mit Datum gekennzeichnet, so dass Hilde die Blätter der Reihe nach ordnen konnte, bevor sie zu lesen begann. Sie zögerte ein wenig, nahm die 5 Blätter in beide Hände, strich dann mit der rechten Hand darüber, führte die Blätter zur Nase und sog tief den Duft auf, den sie zu riechen dachte. Franz hatte in den Briefumschlag im DIN-A-5 –Format eine Weizenehre hineingegeben, aus der sich einige Körner gelöst hatten. Quer zur Schrift auf dem ersten Blatt hatte er notiert:

„Liebes Hildchen, damit Du weißt, warum wir diesen Krieg führen! Dem Nährstand soll zur Ernährung unseres Volkes niemals mehr das Mehl ausgehen!“ Dann begann Hilde zu lesen. Und mit jeder Zeile schwanden all ihre Selbstzweifel dahin. Sie konnte und wollte Franz zwar nicht folgen in seinem Begehren, dass noch nicht alles vorbei sein möge, bevor er endlich an die Front komme. Umso mehr aber öffnete sich ihr Herz allein schon bei dem Hinweis, wie schön die Karpaten seien und wie gut es sich dort sicherlich leben ließe. Heiß und kalt – so wie am 9. September – wurde es Hilde jedoch bei Franzens Worten, mit denen er seine Sehnsucht offenbarte. Und dass ihm das Herz schwer sei, trieb ihr unvermittelt die Tränen in die Augen. Ihr Herz pochte, dass Franz es in Rußland wohl hören und fühlen mochte und die Angst tat das Ihrige, als sie las, dass russische Flieger im Angriff waren. Hilde biss sich auf die Lippen, um an sich zu halten. Erst die nächsten Blätter beruhigten sie ein wenig und Hilde glaubte Franz vor sich zu sehen mit seinem breiten, gewinnenden Lachen und mit ihrem Brief in seinen Händen. Ja, wie schön und hell konnte die Welt sein – wenn Franz nur da wäre. Und ihre Tränen wuchsen zu einem Sturzbach an, indem sie las, dass Franz ihr Herz in sich und auf seiner Brust trage. Zitternd und voller Inbrunst sagte sie laut vor sich hin, was Franz geschrieben hatte: „Manchmal glaube ich, daß mich

Dein Herz beschützt, so daß mir nichts geschehen kann!“ „Ja

Franz!“, schluchzte Hilde leise, „daran glaube ich ganz fest!“

Was für Hilde inzwischen zu einer kaum begreifbaren und

bezweifelbaren Realität geworden war – die wundersame Tatsache „gebenedeit zu sein unter den Weibern“, die Einsicht in einen Zustand „guter Hoffnung“, wie man zu sagen pflegte, der zugleich ihre noch gar nicht wirklich begründete Existenz vollkommen in Frage stellte; diese erst langsam ins Bewusstsein dringende Einsicht wuchs sich ausgelöst durch diesen Brief – in Hilde zu einer regelrechten Trotzreaktion aus. Mit einem Mal wurde die Welt hell und schön. Franz würde kommen. Sie würde Franz heiraten und mit ihm eine Familie gründen – und sie würden Kinder haben – nicht nur das eine, das sie seit dem 9. September unter ihrem Herzen trug, nein: viele Kinder – 5, 6 oder sieben Kindern würden sie das Leben schenken und ihnen gute Eltern sein. Hilde wurde von einer unbeschreiblichen Euphorie erfasst. Sie packte Franzens Brief und lief hinaus zu Änne, die sich eben für den Abenddienst zurechtmachte.

„Änne, Änne, schau – endlich ein Brief von Franz – es geht ihm gut, und er schreibt, dass der Krieg bald vorbei ist – und wie sehr er mich vermisst! Alles wird gut, und ich heirate Franz!“ „Ja, Hildchen, aber jetzt zieh dich um, es wird Zeit. Wir reden heute Abend drüber“, antwortete Änne ruhig und sah besorgt und mitleidig auf ihr Hildchen.

Lass ihr noch ein wenig von ihren Träumen, dachte Änne bei sich. Was da kommen mag, wird schrecklich genug. Änne entstammte selbst jenem Milieu, in dem der Katholizismus nichts von der Leichtigkeit hatte, die ein aufgeklärtes Bürgertum zur Rechtfertigung seiner Verfehlungen und kleinen Sünden im Rheinland erfunden hatte. Der Gang, den Hilde vor sich hatte, würde sie an die Grenzen der Selbstachtung führen und der herablassenden Verachtung einer so boshaften und selbstgerechten wie gnadenlosen Gemeinde aussetzen. Hinzu würde die kindlich – naive Hilflosigkeit einer tief gläubigen Mutter und der Zorn eines ehrbewussten Gardesoldaten in Person des Vaters kommen. Änne war sich vollkommen im Klaren darüber, dass Hilde in ihr den einzigen Wellenbrecher und Schutzhafen finden würde. Und dies schwor sie sich an diesem frühen Abend des 6. Oktober 1941: Ihrer Fürsprache und ihrer unverbrüchlichen Treue sollte sich ihr Hildchen ein für alle Mal sicher sein.

Aber vorerst würde sie Hildes kurzen Weg durch den Märchenwald wohlwollend und aufmerksam begleiten bis zu der Weggabelung an der Orpheus Eurydike verlieren würde. Aber anders als in der Sage würde sie dafür sorgen, dass Hildchen überleben und Orpheus zum Teufel gehen würde.

Franz adressierte den Brief fein säuberlich und gab ihn mit einem zweiten Brief an seine Frau auf der Poststelle ab. Auf dem Rückweg zur Unterkunft spürte Franz, dass eine Wetterwende bevorstand und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die ihn aus dem Westen soeben noch erreichten. Irgendwie hatte Franz nun zwei Frauen, ohne dass ihm seine Situation unmittelbar vor dem ersten Wintereinbruch in Russland Gelegenheit gegeben hätte, darüber in der angemessenen Weise nachzudenken.

Vielleicht war es ein Glück, dass Franzens Post zügig und noch vor dem ersten Erstarren aller Bewegung im Osten ihren Weg nach Westen nahm und schon 10 Tage später endlich im Postfach des „Goldenen Pflugs“ landete, wo sie unvermutet mit einem breiten Lachen und einem wohlwollenden Nicken des Rezeptionisten am Nachmittag des 6. Oktober in die Hände Hildes gelangte. Hilde bedankte sich herzlich und war wie der Blitz verschwunden.

Hilde verzog sich in die Wäschekammer; dort würde sie jetzt am Nachmittag ganz bestimmt ungestört sein. Mit zitternden Händen öffnete sie den dicken Briefumschlag und faltete die Seiten auf. Franz hatte jeden einzelnen Brief mit Datum gekennzeichnet, so dass Hilde die Blätter der Reihe nach ordnen konnte, bevor sie zu lesen begann. Sie zögerte ein wenig, nahm die 5 Blätter in beide Hände, strich dann mit der rechten Hand darüber, führte die Blätter zur Nase und sog tief den Duft auf, den sie zu riechen dachte. Franz hatte in den Briefumschlag im DIN-A-5 –Format eine Weizenehre hineingegeben, aus der sich einige Körner gelöst hatten. Quer zur Schrift auf dem ersten Blatt hatte er notiert:

„Liebes Hildchen,

damit Du weißt, warum wir diesen Krieg führen! Dem Nährstand soll zur Ernährung unseres Volkes niemals mehr das Mehl ausgehen!“ Dann begann Hilde zu lesen. Und mit jeder Zeile schwanden all ihre Selbstzweifel dahin. Sie konnte und wollte Franz zwar nicht folgen in seinem Begehren, dass noch nicht alles vorbei sein möge, bevor er endlich an die Front komme. Umso mehr aber öffnete sich ihr Herz allein schon bei dem Hinweis, wie schön die Karpaten seien und wie gut es sich dort sicherlich leben ließe. Heiß und kalt – so wie am 9. September – wurde es Hilde jedoch bei Franzens Worten, mit denen er seine Sehnsucht offenbarte. Und dass ihm das Herz schwer sei, trieb ihr unvermittelt die Tränen in die Augen. Ihr Herz pochte, dass Franz es in Rußland wohl hören und fühlen mochte und die Angst tat das Ihrige, als sie las, dass russische Flieger im Angriff waren. Hilde biss sich auf die Lippen, um an sich zu halten. Erst die nächsten Blätter beruhigten sie ein wenig und Hilde glaubte Franz vor sich zu sehen mit seinem breiten, gewinnenden Lachen und mit ihrem Brief in seinen Händen. Ja, wie schön und hell konnte die Welt sein – wenn Franz nur da wäre. Und ihre Tränen wuchsen zu einem Sturzbach an, indem sie las, dass Franz ihr Herz in sich und auf seiner Brust trage. Zitternd und voller Inbrunst sagte sie laut vor sich hin, was Franz geschrieben hatte: „Manchmal glaube ich, daß mich Dein Herz beschützt, so daß mir nichts geschehen kann!“ „Ja Franz!“, schluchzte Hilde leise, „daran glaube ich ganz fest!“

Was für Hilde inzwischen zu einer kaum begreifbaren und bezweifelbaren Realität geworden war – die wundersame Tatsache „gebenedeit zu sein unter den Weibern“, die Einsicht in einen Zustand „guter Hoffnung“, wie man zu sagen pflegte, der zugleich ihre noch gar nicht wirklich begründete Existenz vollkommen in Frage stellte; diese erst langsam ins Bewusstsein dringende Einsicht wuchs sich ausgelöst durch diesen Brief – in Hilde zu einer regelrechten Trotzreaktion aus. Mit einem Mal wurde die Welt hell und schön. Franz würde kommen. Sie würde Franz heiraten und mit ihm eine Familie gründen – und sie würden Kinder haben – nicht nur das eine, das sie seit dem 9. September unter ihrem Herzen trug, nein: viele Kinder – 5, 6 oder sieben Kindern würden sie das Leben schenken und ihnen gute Eltern sein. Hilde wurde von einer unbeschreiblichen Euphorie erfasst. Sie packte Franzens Brief und lief hinaus zu Änne, die sich eben für den Abenddienst zurechtmachte.

„Änne, Änne, schau – endlich ein Brief von Franz – es geht ihm gut, und er schreibt, dass der Krieg bald vorbei ist – und wie sehr er mich vermisst! Alles wird gut, und ich heirate Franz!“ „Ja, Hildchen, aber jetzt zieh dich um, es wird Zeit. Wir reden heute Abend drüber“, antwortete Änne ruhig und sah besorgt und mitleidig auf ihr Hildchen.

Lass ihr noch ein wenig von ihren Träumen, dachte Änne bei sich. Was da kommen mag, wird schrecklich genug. Änne entstammte selbst jenem Milieu, in dem der Katholizismus nichts von der Leichtigkeit hatte, die ein aufgeklärtes Bürgertum zur Rechtfertigung seiner Verfehlungen und kleinen Sünden im Rheinland erfunden hatte. Der Gang, den Hilde vor sich hatte, würde sie an die Grenzen der Selbstachtung führen und der herablassenden Verachtung einer so boshaften und selbstgerechten wie gnadenlosen Gemeinde aussetzen. Hinzu würde die kindlich – naive Hilflosigkeit einer tief gläubigen Mutter und der Zorn eines ehrbewussten Gardesoldaten in Person des Vaters kommen. Änne war sich vollkommen im Klaren darüber, dass Hilde in ihr den einzigen Wellenbrecher und Schutzhafen finden würde. Und dies schwor sie sich an diesem frühen Abend des 6. Oktober 1941: Ihrer Fürsprache und ihrer unverbrüchlichen Treue sollte sich ihr Hildchen ein für alle Mal sicher sein.

Aber vorerst würde sie Hildes kurzen Weg durch den Märchenwald wohlwollend und aufmerksam begleiten bis zu der Weggabelung an der Orpheus Eurydike verlieren würde. Aber anders als in der Sage würde sie dafür sorgen, dass Hildchen überleben und Orpheus zum Teufel gehen würde.

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© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund