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Hildes Geschichte - Die Offenbarung

Am Dienstag, dem 7. Oktober 1941, schneit es an der Ostfront zum ersten Mal. Am 10. Oktober titelte das „Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands“, der „Völkische Beobachter“: „Die große Stunde hat geschlagen: Der Feldzug im Osten entschieden! – Das militärische Ende des Bolschewismus!“

Franz Streits Division, sollte – jetzt eingegliedert in das XXXXVIII. Panzerkorps die rechte Flanke der 2. Panzerarmee sichern. Über Dimitriewka und Fatesh nahm sie einen Rechtsschwenk um 90° über Kursk vor mit Kurs auf Wornesh. Im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht wird am 2. November 1941 vermerkt:

„2. Armee: XXXXVIII. AK. drang mit 9. Pz.Div. und 95. I.D. in den Morgenstunden von Westen und Norden in Kursk ein. Bis zum Abend war die Stadt fest in eigener Hand.“

Hinter dieser schlichten, buchhalterischen „Feststellung“ lassen sich Facetten von Geschichten vermuten, die heute wieder ans Licht drängen, wie Schneeglöckchen und Krokusse als Vorboten des Frühlings nach einem langen Winter; nur dass sie nicht (mehr) künden von Aufbruch, Sieg und Zuversicht, sondern von Untergang, Tod und Schuld. Im Juli 1943 – gut 1 ½ Jahre später – wird Kursk die endgültige Wende im Osten markieren, in jenem Schicksalsjahr 1943, nach Stalingrad.

Aber nach der Eroberung von Kursk – Anfang November 1941 versucht die 9. Panzerdivision erst noch den „Sprung auf Woronesh“, gut 200 km weiter östlich; läuft sich aber gegen Monatsende „in unüberwindbarem Feindeswiderstand“ am Tim fest. Der Divisionsbericht spricht von „erbitterten Winterkämpfen ostwärts Schtschigry“, an jenem Frontabschnitt, an dem zur selben Zeit die 95. Infanteriedivision kämpft.

Dies ist von Bedeutung, weil wir zwar von Franz Streit keine Briefe zur Entwicklung und zur Situation der Überlebensbedingungen der Truppe im Osten haben. Hingegen gibt es den Bericht von Willi Peter Reese, einem Mitglied der 95. Infanteriedivision, so dass man einen Begriff davon gewinnt, was im Divisionsbericht von Carl Hans Hermann so lapidar mit „erbitterten Winterkämpfen“ Erwähnung findet. Auch Hildes Briefe sind nicht nachgelassen, ebenso wenig wie Franz‘ Briefe an Hilde. Ich muss sie erfinden, wie ich alles erfinde im dürren Geäst der wenigen Fakten und Geschichten um Hilde und Franz.

Die Eroberung von Kursk, wie sie im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht am 2. November angezeigt wird, macht im Rückblick auf den 1. November vielleicht den Kommentar Willi Peter Reeses zu den Eindrücken der ersten Schlacht um Kursk verständlich. Auch Anfang November hatte die Panzertruppe mit ihren schnellen, beweglichen Verbänden offensichtlich noch die Fähigkeit, den taktischen und auch von der Feuerkraft her unterlegenen Gegner zu überrennen. Und während das Kriegstagebuch am 1. November verzeichnet, dass die 2. Armee mit dem XXXXVIII. Armeekorps und der 9. Panzer-Division an ihrer Spitze in die Feindstellung 7 km nördlich von Kursk einbrach und gegen zäh kämpfende Gegner den Nordwestrand von Kursk erreichte, vermerkt Reese lediglich:

„Kursk. Kaum sahen wir die Stadt. Wir durchstöberten nur die Häuser nach Nahrungsmitteln und Wollsocken. Arbeitenden russischen Gefangenen nahmen wir ihr Gepäck und ihren Tabak fort. Wir rauchten heißhungrig, schliefen endlich ruhig und warm.“ Und: „In einem Dorf hinter Kursk erhielten wir wieder Ruhe. Ganz wenig Winterbekleidung, nur Decken und Kopfschützer, einige Handschuhe trafen ein. Es war in Budonowka. Gerüchte von nahen Gefechten drangen zu uns. Wir hatten die Front bald erreicht. Wir standen Posten im verschneiten Land und strengen Frost, und manche erfroren sich schon die Füße. Aber es kam Post, und in der Ruhe sammelten sich die Gedanken wieder auf das eigene Leben“ (Reese, 65).

Ganz gewiss wird Hildes zweiter Brief Franz in dieser ersten Novemberhälfte erreicht haben; vermutlich nach der Eroberung von Kursk und auf dem Marsch in Richtung Woronesh. Im Divisionsbericht der 9. Panzerdivision wird dazu vermerkt: „Ohne echte Winterausrüstung wird der ‚letzte Sprung‘ bis zum Don versucht, wechselvoll ostwärts Schtschigry gefochten, von Mann und Fahrzeug das Letzte verlangt. Der Stoß der abgekämpften Division gelingt nicht mehr: Allein die mühsam aufgebaute Abwehrfront hält.“

In dieser Nacht vom 6. auf den 7. Oktober 1941 decken ein rosa-roter Schleier und die jubilierenden Töne zu Hildes Hochzeitsphantasien noch all das zu, was die große weite Welt ebenso wie die kleine Welt Hildes in den nächsten Monaten in ein haltloses Chaos stürzen wird.

Und wenn auch Hilde – streng in katholischem Glauben erzogen – nicht geschrieben haben mag, dass ihnen ein Kindlein geboren werden soll, so mag sie ihrem Franz wohl in einer Mischung aus Freude, Hoffnung und Angst eröffnet haben, dass sie guter Hoffnung sei und nach dem Lauf der Dinge im frühen Sommer des kommenden Jahres ein Kind, sein Kind, zur Welt bringen werde:

 

Bad Neuenahr, den 6. 10. 1941

„Liebster Franz,

ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Heute gegen Mittag kam endlich die lang ersehnte Post von Dir. Du kannst Dir meine Freude und Erleichterung nicht vorstellen. Jeden Tag in den letzten 14 Tagen bin ich voller Vorfreude zu unserem Karl an die Hotelrezeption gegangen und habe schon an seinem Mienenspiel, an den herabhängenden Mundwinkeln und seinen traurigen Augen ablesen können, daß wieder kein Brief von Dir bei der Post war. Heute strahlte er mich an, und sofort wusste ich, daß endlich ein Brief von Dir angekommen war. Ich habe mich mit Deinem Brief in der Wäschekammer versteckt und habe ihn immer wieder gelesen, jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Satz. Mein Herz ist leicht und hüpft vor Freude und gleichzeitig habe ich das Gefühl es hört auf zu schlagen, daß Dir etwas geschehen könnte. Vielleicht hat Dein Freund Walter Glück gehabt, und der Krieg ist für ihn vorbei – wie sehr wünsche ich mir dies für Dich, und daß Du gesund wieder bei mir sein könntest. Ich muß jetzt arbeiten und schreibe danach weiter.“

 

7.10.1941

„Mein liebster Franz,

die Abendschicht verging wie im Flug. Ich möchte, nein ich will – ich muß Dir so viel berichten. Aber ich muß für zwei Tage nach Hönningen zu meiner Oma. Wir haben noch gutes Herbstwetter, und wir helfen alle bei der Kartoffelernte. Wenn ich zurück bin, schreibe ich den Brief zu Ende und bringe ihn sofort zur Post. Ich werde ihn bei Änne verstecken, leider kann ich ihn nicht mitnehmen und in Hönningen zu Ende schreiben. Ich habe dort kein eigenes Zimmer und bin ständig mit den anderen zusammen“.

Der Ruf aus Hönningen kam, wie jeden Herbst – zuverlässig, und dennoch, wie immer, vollkommen ungelegen. Es war wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Familie zusammen stand, jeden Herbst auf eine gute Kartoffelernte hoffte und die letzten hellen und warmen Tage nutzte, um die Ernte einzubringen. Dieses Mal arbeitete Hilde, die anpacken konnte, wie ein Kerl, tatsächlich für zwei, und alle wunderten sich, mit welcher Kraft und Freude Hilde das anstrengende Tagwerk bewältigte. Die Oma nahm sie in einer Pause beiseite und sagte freundlich und stolz: „Hildchen, du bist gewachsen und kräftig geworden. Der Mann, der einmal dein Herz gewinnen wird, kann sich jetzt schon glücklich schätzen. Da ist nicht manch ein Kerl, der dir das Wasser reichen kann!“

Hilde, die sich sehr über das Lob der von ihr geliebten und verehrten Oma freute, kam auf diese Weise wieder zu Bewusstsein, so wie man aus einer Trance erwachst, in welch bedrängender und prekären Situation sie sich befand. In wenigen Monaten würde jeder Mann und jede Frau sehen, was mit ihr los war – und alle würden Fragen stellen, auf die sie noch keine Antworten hatte. Die Zeit wurde ihr lang, und sie wollte endlich den Brief an Franz zu Ende schreiben und zur Post geben.

10. 10. 1941 „Liebster Franz,

es ist schon spät am Abend, Aber ich muß Dir noch schreiben. Ich bin so verwirrt – zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. In meinem Kopf geht alles durcheinander. Ich möchte die ganze Welt umarmen und gleichzeitig schäme ich mich unendlich. Wenn Du nur hier bei mir sein könntest. Aus der Gaststube habe ich eine Zeitung, den „Völkischen Beobachter“ mitgenommen. Da steht auf dem Titelblatt in Riesenbuchstaben:

„Die große Stunde hat geschlagen: Der Feldzug im Osten entschieden! Das militärische Ende des Bolschewismus!“

Ich bin so froh, daß der Krieg bald zu Ende ist, und ich Dich in meine Arme schließen kann. Liebster Franz, ich bin schwanger, und wir bekommen ein Kind. Nun ist es heraus, und die Beichte ist noch nicht zu Ende.

Lieber, liebster Franz, als ich Dich kennen gelernt und lieben gelernt habe, war ich eben erst 17 geworden. Du kannst Dir vorstellen, wie sehr ich mich schäme, daß ich Dich belogen habe. Aber jetzt ist alles gut; jetzt wo ich weiß, wie sehr Du mich liebst und daß Du zu mir kommen wirst, sobald das möglich ist. Ich möchte viele Kinder haben und sie werden den besten Vater haben, den man sich vorstellen kann! Buch Jupp   Hildes Geschichte   final 2 page313 image30Änne hilft mir bei allem. Ich bin so froh, daß ich sie habe. Ich habe mich erkundigt, daß man Päckchen an die Front schicken kann. In der nächsten Woche schicke ich Dir ein Paket und einen Brief. Jetzt muß ich Schluß machen, damit ich morgen früh noch vor der Arbeit zur Post kann.

Liebster Franz, seit ich Dich kenne, hat die Welt ein neues Gesicht und strahlt heller als die Sonne. Ich freue mich so sehr, daß Du bald wieder bei mir bist!

           Dein Hildchen

Änne hat mit ihrem Fotoapparat Fotos gemacht. Ich lege Dir ein Foto in den Brief, damit Du mich nicht vergißt. (27=6)

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