Hildes Geschichte - Kann denn Liebe Sünde sein?
Der Sonne nach mochte es am frühen Abend, vielleicht gegen 19 Uhr sein. Hilde blickte sich panisch um. Sie war ganz alleine und Gott sei Dank war weit und breit kein Mensch zu sehen. Hilde spürte, wie ihr Herz raste; sie hatte das Gefühl, dass ihr der Kopf zersprang und die Beine versagten. Das Brückengeländer gab ihr Halt und langsam wurde sie ruhiger. Die Ahr, die bis zur Brücke von Kastanienalleen gesäumt, durch sanfte, von Wiesen begrünte, gepflegte und begradigte Uferanlagen sanft dahin strömte, veränderte auf der anderen Seite der Brücke ihren Charakter. Die in gleichmäßigen Abständen platzierten Kastanienbäume, die beiderseits überdimensionierte, schattenreiche grüne Tunnel bildeten, wurden nach wenigen Metern von großen Trauerweiden abgelöst, die weit ausladend über den Flusslauf ragten. Buschwerk löste die gepflegte Begrünung ab und machte das Ahrufer unzugänglich. Nach ungefähr zweihundert Metern veränderte die Ahr auf der Höhe des Zuflusses des Mühlbaches mit einem leichten Linksknick ihren Lauf und verschwand in einem urwaldmäßig sich ausbreitenden Grün. Der gelbe Heinrich als Vorbote des Herbstes tauchte die Ufer im milden Abendlicht in ein eindringliches Gelb.
Hilde entschloss sich, nicht sogleich nach Hause zu gehen, sondern einen Umweg zu nehmen, der sie einige hundert Meter ahrabwärts führen sollte, bevor sie sich dann abseits der Ahr auf einen Feldweg wieder in Richtung Stadt orientieren wollte. Diesen Weg hatte sie schon so oft mit dem Fahrrad zurückgelegt, um dem Vater das Esskesselchen zu bringen, wenn er den Tagesdienst im Klärwerk der Stadt versah.
Hilde ging jetzt ruhigen und gemessenen Schritts, um ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Aber die wellenartig auf sie einstürzenden Gefühlskaskaden erschwerten dies nicht nur durch ihre Heftigkeit. Sie hatte vielmehr den Eindruck in einer Brandung zu stehen, die sie bei ablaufendem Wasser immer wieder an Land schleuderte, andererseits aber ihr gleichzeitig den Boden unter den Füßen wegzog und einen unwiderstehlichen Sog hinaus ins offene Meer entstehen ließ. Hilde erreichte nach einigen hundert Metern das Wehr, an dem die Ahr zu Hochwasserzeiten etwa zwei Meter in die Tiefe stürzte. Jetzt im Spätsommer lag die Wehrmauer fast frei und das Wasser plätscherte eher gemächlich in die Tiefe, als dass sich – wie im Frühjahr und nach heftigen Regenfällen – jene wilden Strudel bildeten, in denen schon Menschen ertrunken waren. (12) Hilde spürte durch Franz zum ersten Mal den Sog des offenen Meeres, und sie hatte das Gefühl zu ertrinken. Sie ertrank in einem Gefühlsmeer, das Gedanken und Gefühle wild durcheinander wirbelte. Hildes Körper erstarrte von den Haarspitzen bis zu den Zehen in Konvulsionen zwischen Gänsehaut und warmen Wellen wohligen Eintauchens in sich selbst. Dieses Gefühl ein einziger körpergroßer Schwamm zu sein, über den sich warmes Wasser ergießt, der sich in edle, wohlriechende Seifen eintaucht und dann den kantig-weichen männlichen Körper eines geliebten Wesens liebkost, nahm ihr den Atem. Hilde schloss die Augen, hörte das sanft gurgelnde Dahinplätschern des Flüsschens, das sich in ihrer Phantasie jedoch schnell zu einem reißenden Strom auswuchs und sie weit hinaus trug in das offene Meer, das – indem es sich auf diesen Massekern der ersten Liebe verdichtete – kaum mehr die Kraft hatte, sie an Land zu spülen. Die Brandung kam gegen diesen Sog nicht mehr an. Wie lange würde es dauern, bis sich die Kräfte umkehren würden und eine Flut sie ans Land zurück werfen würde. Und was würde diese Sturmflut an Land noch unbeschadet lassen? Würde sie ein Haus, ein Heim finden, darin zu wohnen und Menschen, die sie noch kannten, und die sie noch kannte?
Diese Gedanken überfluteten Hilde in ihrer Urkraft und Wildheit. Sie verlor den Boden unter den Füßen und die Konturen an Land verschwammen zu einer dünnen Linie, die kaum noch Unterscheidungen zuließ. Hilde hatte die zehn Gebote als Kind gelernt und war jede Woche zur Beichte gegangen, seit sie mit acht Jahren das Sakrament der 1. Heiligen Kommunion empfangen hatte. Die Eltern hatten sich das „Brautkleid“ vom Munde abgespart und die Tante Apollonia hatte das Ihre dazu beigetragen – über den Rosenkranz und das erste Gebetbuch mit Goldschnitt hinaus.
Hilde war sich ganz sicher, dass sie begonnen hatte, in Sünde zu leben; Keuschheit und Schamhaftigkeit waren keine abstrakten Begriffe. Tief in ihrem Innersten konnte Hilde spüren, was es bedeutete, dem Herrn Jesu Christi versprochen zu sein, bis man aus diesem Versprechen entlassen würde, um einzutreten in das heilige Sakrament der Ehe, das alleine die Kirche zu stiften das Recht hatte. Und sie wusste, wie fromm, gottgläubig und gottesfürchtig die Mutter alles trug und ertrug, in einem Leben, das Gott gedankt und Gott geschuldet war. Nichts in diesem Leben war zu verstehen aus dem Leben selbst, keine Lust und keine Last, keine Freude und keine Schuld, kein Leid und keine Barmherzigkeit; das Leben hatte Sinn und Zweck alleine in Gott. Der Vater fügte sich im ehelichen Horizont und schützte seine Bertha vor der Welt und manchmal auch vor sich selbst; ein starker, unbeugsamer Mann, dem Gott keineswegs in seiner kleinen, herrschsüchtigen katholischen Verblendung entgegentrat, sondern der allenfalls eine Allgottlehre denken und fühlten mochte, und dem das „alles fließt“ viel näher war. Nicht nur weil er dort, wo alle Wasser zusammenfließen, seinen Dienst versah, sondern weil das ewige Werden und Vergehen ihn mit der Welt in Berührung gebracht und in ihren Widersprüchen und Merkwürdigkeiten berührt hatten.
Tränen liefen Hilde übers Gesicht, und sie wusste sich nicht zu helfen. Niemand durfte etwas erfahren von dem, was in den letzten Tagen geschehen war und vor allem was mit ihr geschehen war; und das Allerschlimmste war, dass sie nicht zu Änne konnte.
Intuitiv spürte Hilde, dass sich in Franz ein Gegenpol zu Änne gebildet hatte. Eine dumpfe, kaum benennbare Not kam sie an. Hilde fühlte sich zwischen zwei Magneten, von denen der eine ein bisschen mehr als der andere die Vernunft verkörpern mochte und dennoch keine Lauterkeit versprach. Auch in Änne spürte Hilde mehr selbstgefälliges Begehren als vorbehaltlose Vertrauenswürdigkeit. Der andere Magnet aber entfaltete dieselbe Kraft, wie jene Ebbe, die sie ins offene Meer hinaus riss. Dieser Sog zog ihr die Gedanken aus dem Kopf und trieb ihr die verbotene Lust in den Körper – und alles zusammen bewirkte, dass Hilde aus sich hinaustrat und Einzug hielt in den Körper und die Seele einer Frau, die fortan ihren eigenen Weg gehen würde.