Hildes Geschichte - Franz Streit macht sich Gedanken
Wie die nächsten Tage vorübergingen, darüber hätte Hilde wohl kaum einen klaren und nüchternen Bericht geben können. Sie war einfach froh, dass alle in der Familie und im „Goldenen Pflug“ mit dem eigenen Überlebenskampf beschäftigt waren und so kaum Aufmerksamkeit füreinander aufbrachten. Früher hatte Hilde den Radiomeldungen über den Krieg nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Nur wenn sie jetzt in der Küche aushalf – beim Gemüsefegen – lief ab und zu das Empfangsgerät. Jetzt hörte sie zum ersten Mal bewusst die ein oder andere Meldung: „Der Panzergruppe 1 gelingt mit dem Übergang über den Dnjepr die Bildung eines Brückenkopfes im Süden Russlands in der Ukraine bei Saporoshje – die Einkesselung großer Teile der sowjetischen Armeen im Süden steht unmittelbar bevor.“ Vielleicht hatte Franz ja doch Recht und der Krieg im Osten wäre genauso schnell siegreich beendet wie im Westen.
Franz mochten wohl unterdessen ganz andere Gedanken durch den Kopf gehen. Schon auf dem Weg vom Kaiser-Wilhelm-Park Richtung Ahrweiler versuchte er Ordnung in einen Gedankenwust zu bringen, der ihm in dieser Form wenig vertrautn war. Er fuhr bewusst langsam, wie jemand, der einen ihm unbekannten Weg erkunden will. Am 3. September war sein 27.Geburtstag. Seit 2 Jahren war er verheiratet, hatte einen kleinen Sohn von 1 ½ Jahren. (13) Und er liebte seine Frau, eine stattliche, groß gewachsene Frau mit schwarz gewelltem Haar, hoch stehenden Wangenknochen und einem offenen, gewinnenden Lachen. „Passen sie doch auf – unmöglich!“, hörte Franz plötzlich jemanden erregt rufen, der wild mit den Armen und einem Gehstock in der Luft gestikulierte.
Im letzten Augenblick riss Franz sein Rad herum und trat in die Bremse. Franz stieg ab, entschuldigte sich höflich bei einem älteren Herrn und seiner Begleitung. Offenkundig war er in Gedanken so unaufmerksam, dass er beinahe den am Stock gehenden Herrn touchiert hätte. Franz sah sich um und gewahrte, dass er sich exakt auf der Höhe der Amseltalbrücke befand, wo er Hilde vor einer Woche „zufällig“ begegnet war. Er stellte sein Fahrrad bei Seite und setzte sich auf die Bank. Wie ein Vexierbild schoben sich die Erinnerungen an seine Frau und an Hilde übereinander (14-15),
und er versuchte beide Bilder auseinander zu halten. Das Herz war ihm schwer. Hatte er doch versucht seine Rehabilitation am Gründungsort seiner Stammdivision, in St. Pölten zu erwirken. Die Entscheidung für Ahrweiler war letztlich gefallen, weil es im Umkreis von St. Pölten keine Behandlungsmöglichkeiten für verätztes Netzhautgewebe gab – und von Ahrweiler aus musste er mehrfach in eine Spezialklinik nach Bonn, um nach dem Stand der Augenheilkunde behandelt zu werden. Er hatte erstaunliche Fortschritte gemacht und seine Sehkraft war zu nahezu 100 % wiederhergestellt – der Heilungsprozess schritt viel zu schnell voran, und auch Hilde hatte er verschwiegen, dass er nur durch Simulation eines bereits obsoleten Krankheitsbildes das Ende der Rehabilitation um eine knappe Woche hinausschieben konnte. Seine Einheit war mit der 9. Panzerdivision der Panzergruppe 1 zugeordnet worden und operierte seit Beginn des Russlandfeldzuges, am 22. Juni 1941, im Süden der Sowjetunion. Bereits am 18. August, vor wenigen Tagen, hatte die Panzergruppe 1 bei Saporoshje einen Brückenkopf über den Dnjepr erkämpft, und Franz wusste genau, was ihm bevorstand. Andererseits fühlte er sich voll und ganz genesen und in besserer körperlicher Verfassung denn je. Er war schon seit einigen Jahren Berufssoldat und nach Holland, Belgien, Frankreich und dem Einsatz auf dem Balkan mit allen Überlebenswassern gewaschen. Seiner Frau hatte er geschrieben, dass er hoffe, im Rahmen seiner Genesung auch noch einmal nach Hause zu kommen. Aber inzwischen war klar, dass mit Beginn des Russlandfeldzugs jegliche Anträge auf Sonderurlaub abschlägig beschieden wurden. So hoffte er auf kommende Weihnachten oder Ostern.
Als er so in der Abendsonne seinen Gedanken nachhing, wurde ihm mehr und mehr deutlich, dass dies vielleicht eine Schicksalsfügung war, und dass die Vorstellung eines Heimatbesuchs unmittelbar nach seiner Genesung ein noch vollkommen unklares und eher diffuses Unbehagen in seiner Magengegend verursachte. Er hatte geradezu das Bedürfnis, sich mit aller Kraft in die Wange zu kneifen, so unwirklich und unmöglich erschienen ihm jene eigensinnigen und eigenmächtigen Vorstellungen und Gefühlsanwandlungen, die sich seiner zunehmend bemächtigten. Als fast 27-jähriger Mann wehrte er sich mit aller Verstandesmacht gegen eine solche weibische Gefühlsduselei, die nun eine für ihn typische nüchtern bis rationale Grundhaltung schlierenhaft zu vernebeln drohte. Gerade Frauen gegenüber hatte Franz ein eher nüchternes, ja geradezu abgeklärtdistanziertes Verhältnis. Er bildete sich nichts darauf ein, einen Schlag bei Frauen zu haben. (16) In Kriegszeiten, in Zeiten ohne wirkliche Zukunft, war man nicht schon ein Schwein, wenn man sich diese Grundhaltung zu Nutze machte. Er liebte seine Frau und seinen Sohn. Und eine andere Frau konnte ihm allenfalls als reines Körperwesen zu nahe kommen. Und da war eine wie die andere! In diesem Einvernehmen war ihm zwar Don Juan kein Begriff, aber als Grundhaltung mochte die gespielte, die inszenierte Wertschätzung, mit der man jede Frau zur Frau aller Frauen erwecken konnte, nicht fremd. (17) Es war die einzige Antwort auf eine historische und individuelle Lebenslage, in der alle schönen Werte und alle Anständigkeit schon in der nächsten Sekunde mit einem den Heldentod sterben konnten. Mit Ernst Marischkas „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau‘n“ in der wunderbaren Vertonung von Robert Stolz war seine Generation groß geworden. Aber genau in diesem Sinn kam ihm keine Frau zu nah. Auf diese Weise, dieses Leben auf dem Vulkan auch in vollen Zügen genießend, war er bestens über die letzten (Kriegs-) Jahre gekommen, mit seiner Frau und mit allen Frauen. (18) Und nun ging ihm diese junge, dunkle auf merkwürdige Weise besondere Frau nicht aus dem Sinn. Er hätte sich in den Arsch beißen mögen, er hätte sich im Nachhinein Maulschellen anlegen mögen. Was in seiner Beziehung und in seinem Umgang mit Frauen immer verfangen hatte – ihnen den Hof zu machen, ihnen das Gefühl der Einzigartigkeit zu vermitteln - schlug wie die Faust von Max Schmeling nicht nur in sein Gesicht, sondern in die Magengrube und – zum Teufel sogar tief in seine Seele zurück. Er hatte es mit Alkohol, dummen und abfälligen Sprüchen versucht, er dachte an die beruhigende Wirkung von kalten Umschlägen und Baldriantropfen. Er vermochte es nicht, angesichts des bevorstehenden Marschbefehls, einfach seiner Wege zu gehen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, sich einfach ein Weib zu nehmen von den vielen, die zweifellos seinem Charme, seinem ‚Wiener Schmäh‘ erliegen würden. Er traktierte sich selbst in seiner Wut, er jammerte wie ein waidwundes Tier in sich hinein, steigerte seine Wut und wusste dass er nächsten Mittwoch wie ein vollkommen willenloser Rüde der läufigen Hündin gegenüber dorthin zurückkehren würde, wo er gerade eben herkam.