Hildes Geschichte - Das Päckchen
Als Hilde auf die Straße hinaustrat war die Sonne zwar schon verschwunden, aber es war noch warm und es fing eben erst an zu dämmern. Das Päckchen hatte sie in einen Stoffbeutel gepackt und drückte es fest an sich. Sie beeilte sich und nahm eine Abkürzung quer durch die Felder, die gegen Osten vermehrt noch das Ortsbild prägten. Als sie zu Hause ankam, saß der Vater noch im Häuschen des Treppenaufgangs und rauchte seine Pfeife. „Dass du auch noch einmal nach Hause kommst“, sagte er eher mit freundlichem Unterton in Richtung Hildes, die ihren Vater anlachte und meinte: „Es hat sich aber gelohnt. Heute habe ich eine Mark und zwanzig PfennigTrinkgeld bekommen."
Insgeheim freute sich der Vater und war stolz auf seine Älteste, die sich für keine Arbeit zu schade war und ihm jeden Jungen ersetzte. Er strich Hilde übers Haar, lachte sie an und sagte: „Jetzt aber schnell ins Bett, die anderen schlafen schon.“ Tatsächlich war Annemie (7) noch wach, was Hilde gar nicht recht war. Sie hatte gehofft, sie könnte noch in Ruhe das Päckchen öffnen und anschauen. Annemie hatte längst bemerkt, dass Hilde unter ihrer Bluse etwas verborgen hielt und schaute neugierig herüber. „Es ist nichts, nur eine Tafel Schokolade - magst du ein Stück?“ Annemies Augen leuchteten, und freudig überrascht streckte sie ihre Hand aus, und Hilde gab ihr einen Riegel Schokolade mit ganzen Nüssen und sagte: „Teil es dir ein und denk dran: lutschen, nicht kauen!“ „Danke“, antwortete die Schwester und verkroch sich in ihr Bett.
Die Schokolade interessierte Hilde nicht. Sie hatte längst gesehen, dass unter der Tafel eine Postkarte steckte. Das kleine Heckenröschen hatte sie gleich in den Kleiderschrank auf ihre Unterwäsche gelegt, und nun versuchte sie die Sätze auf der Postkarte, die auf der Vorderseite eine Tänzerin zeigte, im Restlicht zu entziffern:
„Liebes Fräulein,
bitte entschuldigen Sie unseren Zusammenstoß von gestern Abend. Ich hoffe, es geht ihnen gut und ich darf mich nach ihrem Wohlergehen gelegentlich erkundigen –
Franz Streit“.
Hilde zog die Decke über den Kopf und presste die Karte an sich und hatte das Gefühl zu zerspringen. Sie presste ihre Lippen aufeinander und war versucht, jeden Augenblick loszuprusten. Ganz eng rollte sie sich zusammen. Inzwischen war es dunkel und immer wieder ließ Hilde die Bilder in ihrer Erinnerung vorüberziehen; den ersten Blick in diese merkwürdigen wässrigen, leuchtend-blauen Augen, von denen sie nun wusste, dass sie versehrt waren; ihr Stolpern und in seine Arme fallen, den sanften Druck seiner rechten Hand unter ihrem Kinn, diese merkwürdige männliche und dennoch weiche Stimme: „Aber langsam, mein Kind.“
Immer wieder, so dass ihr heiß und kalt wurde, bis sie endlich erschöpft einschlief. Am Morgen wusste Hilde nicht mehr, was sie sich im wachen Zustand eingebildet hatte und was ihr vermutlich die ganze Nacht über in Traumbildern erschienen war. Sie schämte sich für ihre Träume und versuchte nicht mehr daran zu denken.
Während des Frühstücks rutschte sie unruhig hin und her und konnte nichts essen; nur eine Tasse Kathreiner wollte zur Hälfte hinunter. Da sie es allesamt gewohnt waren auch sonntags schon um halb sieben aufzustehen, erklärte sie ihren Eltern, sie gehe heute in die Frühmesse, weil sie bei der Vorbereitung des Mittagstisches helfen müsse.
Hilde war eine regelmäßige Besucherin der sonntäglichen Messe – zu Schulzeiten auch des zweimal in der Woche stattfindenden Schulgottesdienstes. Aber so lang war ihr nie eine Messe geworden, und schon um neun Uhr betrat sie das Hotel. Änne schlief noch, sie hatte erst mittags Dienst. Hilde weckte sie recht ungestüm. Obwohl Änne noch recht benommen war, bemerkte sie Hildes Unruhe.
Ihre erste Frage war, ob Hilde gestern Abend auch sofort nach Hause gegangen sei. Als Änne sich den Schlaf aus den Augen gewaschen hatte und Hilde genauer betrachtete, erschrak sie und meinte besorgt: „Lass‘ mal fühlen - hast du dich erkältet, du fieberst ja?“ In der Tat hatte Hilde rote Wangen, verneinte aber selbiges und sagte kiebig: „Ich bin von der Kirche aus hierher gerannt – das ist alles!“
„Die paar Meter!“ erwiderte Änne. „Was ist los, Hildchen? Was war in dem Päckchen?“ „Nur eine Tafel Schokolade, sonst nichts!“ „Hildchen, Hildchen, du kennst mich lange genug. Auf dem Päckchen war ein Heckenröschen drapiert. Und überhaupt kenn‘ ich dich nicht wieder: einen Feldwebel für den Herrn Feldwebel! Erst bekommst du die Zähne nicht auseinander und dann riskierst du kesse Sprüche!“ Das konnte Hilde nicht leugnen und auch ihre auffällig geröteten Wangen konnte sie nicht leugnen. Sie erschrak selbst, als sie sich in Ännes Spiegel erblickte.