Hildes Geschichte - Hildes Plan
Der Tag verging in der Anspannung von sonntäglichem Hochbetrieb. Nur der Abend erwies sich für Hilde – je später es wurde – als maßlose Enttäuschung. Jedes Mal, wenn sich die Türe zur Gaststube öffnete, schaute Hilde erwartungsvoll auf die eintretenden Gäste, so dass Änne sie irgendwann erbost anfuhr, sie solle sich gefälligst nicht zum Affen machen. Hilde fiel selbst auf, dass sie nicht richtig bei der Sache war. Sie kannte sich selbst nicht, hatte keine Ahnung was los war und wehrte sich gegen den Gedanken, dass dieser Franz Streit irgendetwas mit ihrer merkwürdigen Verfassung zu tun haben sollte.
So vergingen der Montag, der Dienstag und der Mittwoch, ohne dass sich die Spannung in und um Hilde löste. Zu allem Unglück hatte es auch noch seit Montag angefangen zu regnen. Es war kühler geworden, und Hilde blieb mit den Kindern ans Haus gebunden. In der Gastwirtschaft war nichts los, so dass sie früh nach Hause kam, wo jede Menge Arbeit auf sie wartete.
Donnerstags strahlte endlich wieder die Sonne und machte Hildes Trübsal ein Ende. Frau Broicher, die Herrin des Hauses, war bis zum Sonntag zu einem Verwandtschaftsbesuch, so dass Hilde tagsüber für die Kinder sorgen musste.
Nach der Mittagsruhe machte sich Hilde mit den Kindern auf den Weg zum Klarissenkloster. Sicher hatte sie nicht gelogen, als sie sagte, sie gehe den Weg öfter. Aber diese Variante stand lange nicht so häufig an, wie der Weg ahrabwärts bis zum Kaiser-Wilhelm Park, bei welcher Gelegenheit sie ab und zu auch zu Hause Station machte. Dann konnte sich Annemie für eine Zeit um die beiden Kinder kümmern.
An diesem frühen Nachmittag des 21. August 1941 richtete Hilde ihre Schritte zielsicher zunächst die Ahrstraße abwärts. Die Sonne tauchte die Stadt in ein gleißendes, helles Licht. Vorbei an der strahlend weißen Fassade des imposanten Palasthotels kam der kleine Dieter kaum hinterher. Hilde lockte ihn mit einer Tasche voller Brotreste: „Komm, mein Dicker, die Entchen warten schon auf uns. Sie haben Hunger und freuen sich, wenn du sie bald füttern kannst.“ Am Ende der Poststraße, auf Höhe der evangelischen Pfarrkirche bogen die drei rechts ab und eilten weiter gemessenen Schrittes ahraufwärts durch die Georg-Kreuzberg-Straße nach Westen. An der Ahrpromenade endlich verlangsamte Hilde ihre Schritte. Unter den Kastanienbäumen wehte ein sanfter Westwind. Der Schatten der Bäume milderte die Kraft der hochstehenden Sonne. Endlich, am Ende der Straße, überquerten sie die kleine Brücke über den Mühlbach und traten in den KaiserinAuguste-Viktoria-Park ein. Mit einem Mal hatte Hilde nun keine Eile mehr und schlenderte die Ahr-Promenade entlang. Doris schlief selig und zufrieden unter dem Sonnendach des mondänen Kinderwagens. Die ausladenden Baumkronen des Ahruferwegs taten das Ihrige dazu den wunderbaren Hochsommertag genießen zu können. Spaziergänger waren um diese Zeit nur vereinzelt- und eher auf der gegenüberliegenden Seite in Höhe des Dahliengartens unterwegs. Am Ende der Allee, kurz vor dem Klarissenkloster, stellte Hilde den Kinderwagen neben einer Bank ab und ging mit Dieter einige Meter das flache Ahrufer hinab. Im Schatten der Amseltalbrücke hielten sich immer einige Enten auf. Sie zerbröselte die Brotreste im Beutel so, dass Dieter maßgerechte Bröckchen entnehmen und den Enten, die sich aus guter Gewohnheit schnell näherten, vor die hungrigen Schnäbel werfen konnte. Die Ahr führte Niedrigwasser, so dass sie stellenweise nur mehr ein Rinnsal abgab, von dem – ganz im Gegenteil zur Frühjahrszeit – wenn sie Schmelzwasser mit sich führte – keine Gefahr ausging. Hilde setzte Dieter auf einen größeren Stein, überließ ihm die Brotkrummen und ging die wenigen Meter zum Kinderwagen zurück. Im Schatten einer großen Linde setzte sie sich neben Doris auf eine Bank und hing ihren Gedanken nach. Sie hatte zwar keine Uhr, aber sie spürte intuitiv, dass man vom „Goldenen Pflug“ bis zum Klarissenkloster nicht länger als eine knappe halbe Stunde benötigte. Und da sie um 14 Uhr aufgebrochen waren, konnte es höchsten ¾ Drei sein. Wenn der Herr Streit alles so machte, wie er es am Samstagabend erzählt hatte, dann musste er irgendwann in der nächsten halben Stunde hier entlang kommen. In ihrem zielsicheren, nüchtern kalkulierten Vorgehen erkannte sich Hilde selbst nicht wieder. Aber die merkwürdigen Anwandlungen von Appetitlosigkeit und zeitweiligem Schwindel gaben ihr intuitiv und auf eine untrügliche Weise das Gefühl, so und nicht anders handeln zu müssen. Aber zuerst einmal meldete sich die kleine Doris mit einem eindeutigen Quengeln. Sie hatte Durst, und nach einem halben Fläschchen Tee schlief sie zufrieden weiter. Hilde hatte nur eine Windel zum Schutz vor Wespen über sie gedeckt – ansonsten milderte ein sanftes Lüftchen die Hitze – es mochten wohl selbst im Schatten um die 30° sein – auf erträgliche Weise ab. Der kleine Dieter, der alle Brotreste verfüttert hatte, spielte unteressen in der wenige Meter entfernten Sandgrube. Hilde hatte ihm zwei Eimerchen mit Wasser gefüllt und für die nächste Zeit würde er eine wilde Matscherei veranstalten, weit weg von seiner unduldsamen Mutter, die dies nie erlaubt hätte.