Hildes Geschichte - Der Feldwebel
Aber an all das, was da (noch) kommen sollte, dachte am Abend des 16. August 1941 noch kaum jemand. Abgetrennt vom feinen Speisesaal des Hotel-Restaurants, gab es eine eigene kleine Gaststube mit Bierausschank und einem Tresen. Von dort aus wurde auch das Restaurant mit Getränken und vor allem mit frisch gezapftem Bier versorgt. Da der Schankraum über einen eigenen Eingang verfügte, verkehrten hier auch viele Neuenahrer und Gäste, die nur eben auf ein Bier einkehrten.
Nachdem der Speisesaal schon verwaist war, versorgten Änne und Hilde den Ausschank. Es war ein heißer Augustabend, und die meisten Leute hielten sich noch im Freien auf. Die Sonne stand schon tief, tauchte aber noch mit beachtlicher Strahlkraft die in west-östlicher Richtung verlaufende Hauptstraße in gleisendes Licht. Da betrat ein einzelner Herr die Gaststube. Er trug eine Sonnenbrille. Erst auf den zweiten Blick erkannte man die Rangabzeichen auf den Schulterklappen des leichten, kurzärmligen Hemdes.Bestimmten Schrittes ging der schlanke, drahtige Mann auf die Theke zu und setzte sich auf einen der freien Hocker. In der rechten Hand trug er ein kleines Päckchen mit einer darauf gebundenen Heckenrose. Änne war im Restaurant und deckte ab, während Hilde mit dem Rücken zur Theke hinter der Zapfsäule Biergläser ins Wandregal räumte. Als sie sich umdrehte und in dem stattlichen Herrn den Soldaten vom gestrigen Abend erkannte, schoss ihr so urplötzlich der Schrecken in die Glieder, dass sie ein leeres Bierglas von der Spüle stieß. „Guten Abend, mein Fräulein“, sagte der Herr freundlich lachend und: „Langsam, mein Kind, ich wollte sie nicht erschrecken, das tut mir leid!“ Hilde rang nach Fassung und starrte den Fremden wohl an wie das siebte Weltwunder. „Ich wollte mich nur erkundigen, ob es ihnen gut geht und mich entschuldigen für den Vorfall am gestrigen Abend.“ Der Herr stand auf, ging einen Schritt bis zum Ende der Theke und reichte das Päckchen in Richtung Hildes. „Nun nimm schon!“ hörte Hilde Änne sagen – und: „Entschuldigen sie bitte, sie ist sonst nicht so. Sie ist ein ganz aufgewecktes Mädel, das sein Herz auf dem rechten Fleck trägt.“
Der Herr ging noch einen Schritt auf Hilde zu, reichte ihr das Päckchen und meinte: „Das mit gestern Abend tut mir leid.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und sagte erklärend: „Ich muss diese Brille tragen wegen einer Verletzung meiner Augen. Zum Glück ist sie gestern Abend heil geblieben. Ich weiß, dass dies nicht sehr freundlich wirkt. Aber hier im abgedunkelten Innenraum kann ich schon wieder ganz gut sehen.“ Er blinzelte in Richtung Hildes, während sich seine Augen langsam an das Licht gewöhnten. „Nein, nein!“ sagte Hilde plötzlich und bestimmt: „Ich möchte mich bei ihnen für mein ungeschicktes Verhalten entschuldigen. Gott sei Dank ist die Brille nicht zerbrochen. Ich bin wohl gestolpert. Das tut mir leid.“ Jetzt lachten alle drei, und Hilde nahm das Päckchen mit einem artigen Knicks entgegen und bedankte sich. „Möchten sie etwas trinken?“, fragte Änne. „Ja“, erwiderte der Herr, „ich hätte gerne ein kühles Pils. Das gibt es nämlich in meiner Heimat nicht.“ „Hildchen, dann mach mal dein Gesellenstück und zapf ein schönes Bier für den Herrn Feldwebel“, meinte Änne in Richtung Hildes, die sich inzwischen gefasst hatte. Hilde hatte den Zapfhahn schon häufig bedient und zapfte ein vorbildliches Pils mit einer ordentlichen Schaumkrone. Mit dem Ausspruch: „Ein Pils mit Feldwebel für den Herrn Feldwebel“, stellte Hilde das Bier auf der Theke ab, so dass Änne fast das Tablett aus der Hand gefallen wäre. Mit gleichermaßen verblüfftem wie tadelndem Gesichtsausdruck blickte sie Hilde an, die mit einem verschämten, aber ebenso kessen Lächeln antwortete. (6)
Der Feldwebel schaute seinerseits verblüfft und dankte mit seinem offenen Lachen, das die männlichen Züge seines fein geschnittenen Gesichts besonders betonte. Er nahm einen kräftigen Schluck und erklärte, Kameraden hätten ihm den „Goldenen Pflug“ wegen der exzellenten Gastronomie und der freundlichen Bedienung empfohlen. Änne lachte und erwiderte ebenso freundlich: Das sei wohl recht, auch wenn die Bedienung manchmal recht tölpelhaft daherkäme und durch kesse Sprüche auffalle. Dabei lachte sie Hilde an und zwinkerte ihr zu. „Wo sind sie denn untergebracht?“ wandte sie sich wieder dem Gast zu, der daraufhin antwortete: „In der Ehrenwall‘schen Klinik. Das ist wohl in Ahrweiler – eine Dreiviertelstunde Fußweg an der Ahr entlang, wenn man stramm marschiert.“ „Wie?“, schaute Änne den Feldwebel erstaunt an, „sie sind den ganzen Weg zu Fuß hierher gelaufen?“ „Ja selbstverständlich, gnädige Frau“, antwortete der sportlich aussehende Gast, „das ist ein so wunderbarer Spazierweg, aber ich werde mir jetzt ein Fahrrad besorgen, dann bin ich gemütlich in einem Viertelstündchen von Ahrweiler in Neuenahr. Ich muss nämlich jeden Donnerstag um die Mittagszeit zur Anwendung in die Badeanstalten auf der anderen Ahrseite. Mit dem Fahrrad bin ich dann schnell vor Ort. Und nach einer Stunde geht es dann zurück immer an der Ahr entlang, allerdings auf der linken Seite, da ist der Weg wohl besser und durchgehend befestigt.“ „Ja, ganz sicher“, schaltete sich Hilde ein, „und es ist ein wunderschöner Weg an der Ahr entlang. Bis zum Klarissenkloster gehe ich oft mit den Kindern!“ „Wie?“, fragte der Herr erstaunt, „sie haben schon Kinder?“ „Ach, nein“, antwortete Hilde, indem sie leicht errötete: „wo denken sie hin, ich meine die Kinder meiner Dienstherrn. Um die darf ich mich jeden Tag kümmern“. Änne verfolgte den Dialog der beiden interessiert und lenkte die Aufmerksamkeit dann bewusst auf das leere Bierglas mit der Frage: „Darf es noch ein Bier sein?“ „Danke nein, ich muss mich auf den Weg machen. Ich möchte heute in der Abendsonne zurücklaufen und noch einmal genau sehen, wie lange ich unterwegs bin, ohne übermäßige Eile. Aber ich komme nächste Woche wieder.“ Er zahlte großzügig und verabschiedete sich freundlich mit einem schneidigen: „Heil Hitler!“ Hilde beeilte sich mit Aufwischen und meinte dann zu Änne: „Ich hab‘ versprochen heute Abend nach Hause zu kommen. Ich bin morgen früh nach der Messe wieder da.“
„Hildchen“, antwortete Änne, „du machst mir keinen Blödsinn. Geh‘ bitte sofort nach Hause!“ Hilde schaute Änne erbost an und sagte kurz, aber bestimmt: „Ja, natürlich - was glaubst du denn!“