Hildes Geschichte - Das Feuerzeug
Änne war die erste Kellnerin im „Goldenen Pflug“, Hotel und Restaurant in Bad Neuenahr, mitten in der Stadt auf der Hauptstraße, unweit des Bahnhofs (1). Hildchen – wie Änne sie nannte – hatte dort nach der Volksschule ihr Pflichtjahr absolviert. Und da sie ihre Aufgaben zur großen Zufriedenheit der Eigentümer erledigte, hatte ihr die Familie Broicher angeboten zu bleiben. Sie kümmerte sich um die beiden Kinder Doris und Dieter und war zum guten Geist des Hauses geworden.
Als die ältere von zwei Mädchen hätte sie – wie man sagt – jeden Jungen ersetzt. So wollte es der Vater, und so hatte er sie erzogen. Sie war vor einem guten Monat 17 geworden; ein Wildfang, wissbegierig und voller Erwartung auf die mondäne Seite des aufstrebenden Kurstädtchens.
Am Abend des 15. August 1941 rief Änne Hildchen zu sich, drückte ihr ein silberfarbenes Feuerzeug in die Hand: „Lauf, schnell die drei Herren können erst wenige Meter weit sein. Einer von ihnen hat sein Feuerzeug liegen lassen!“
Mit wehenden Haaren und offener Schürze lief Hilde aus der Gaststube und sah drei Männer in Uniform, die soeben im Begriff waren, ein Auto zu besteigen.
„Entschuldigen sie bitte vielmals“, rief Hilde, indem sie die Straße überquerte, „sie haben ihr Feuerzeug vergessen!“ Überrascht drehten sich die drei Herren um, während Hilde abbremste, ins Stolpern geriet und versuchte, die Situation mit einem Knicks zu retten.
„Langsam mein Kind“, erwiderte der ältere der drei Männer und bewegte sich reaktionsschnell auf Hilde zu, fing sie auf und begegnete ihr mit einem breiten, offenen Lachen, indem seine Sonnenbrille zu Boden fiel (2). Hilde spürte, wie ihr das Blut stockte und eine Hitzewelle ihren Körper erfasste. Ihr Kopf schien zu platzen, und ihre Wangen fühlten sich an, wie nach einem heftigen Sonnenbrand. Sie senkte den Kopf und stammelte: „Entschuldigen Sie bitte, mein Herr“, indem sie ihm das Feuerzeug entgegenhielt.
Der Herr von staatlicher Größe hielt sie an den Schultern, richtete sie auf und berührte mit der rechten Hand sanft ihr Kinn. Behutsam richtete er ihren gebeugten Kopf auf. Dabei senkte er den Oberkörper leicht ab, so dass Hilde wieder in das offene, freundliche Gesicht eines Mannes sah, der in seiner Uniform eine außerordentliche, für Hilde ungewohnte Ausstrahlung entfaltete. „Nicht so schnell, mein Kind“, hörte sie ihn mit einer gleichermaßen sonoren wie freundlichen Stimme sagen.
Hilde sah für Bruchteile von Sekunden in ein Gesicht, dessen Züge sich in ihre Wahrnehmung so unauslöschlich einbrannten, wie die von einem Blitz auf das lichtempfindlichste Papier gebannte Welt; ein Pergament, das in wenigen Sekunden die Geschichte eines ganzen Lebens aufzeichnet und wie eine Geheimgrammatik in ihre Seele tätowiert. Sie ließ das Feuerzeug fallen, drehte sich abrupt um und lief panisch – wie von der Tarantel gestochen – in die Gaststube zurück – mitten in die Arme von Änne. „Was ist denn Kindchen, was ist denn?“ Du siehst ja aus, als hättest du den Leibhaftigen gesehen!“ Hilde lief in die Küche und begann fahrig das Geschirr einzuräumen, wobei in der Hast ein Teller zu Bruch ging. Änne ging in die Küche, wo Hilde unter Tränen die Scherben des zerbrochenen Tellers zusammenfegte. „Was hast du denn Hildchen, lass‘ doch den dummen Teller!“
Änne – zehn Jahre älter als Hilde – richtete sie auf, nahm sie in ihre Arme und hielt sie fest. Sie spürte, wie Hilde zitterte und bebte. Sanft strich sie ihr übers Haar, nahm dann ihr Gesicht in beide Hände, sah sie an und sagte: „Heute Nacht bleibst du bei mir!“