Hildes Geschichte - Änne, Hilde und der Blitz
Änne (3) arbeitete seit zwei Jahren im „Goldenen Pflug“. Sie war zu Kriegsbeginn der Arbeit wegen von Köln in das Kurbad gezogen.
Und Hildchen, wie sie die zehn Jahre Jüngere liebevoll nannte, war ihr im vergangenen Jahr sehr ans Herz gewachsen. Hilde war die älteste von zwei Töchtern. Ihre Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen amOstrand der Stadt. Dort hatte der Vater zu Beginn der 30er Jahre ein kleines Grundstück erworben und darauf in einem „ersten Bauabschnitt“ zwei Zimmer mit einer Küche errichtet und mit einem provisorischen Flachdach versehen. Das Familienleben spielte sich in der Küche mit dem großen Herd ab. Von dort aus führten zwei Türen in das elterliche Schlafzimmer und einen weiteren Raum, in dem die beiden Mädchen schliefen.
Für Hilde war es wie eine Befreiung, das Pflichtjahr als Kindermädchen bei der Familie Broicher im „Goldenen Pflug“ zu absolvieren; einer großbürgerlichen Familie, in der sie sich schnell unentbehrlich gemacht hatte. Für Dieter und Doris,die ihr bis ins hohe Alter verbunden bleiben sollten, war sie bald zur geliebten Ersatzmutter geworden. Hilde selbst sog alles in sich auf, was fremd und neu für sie war. Sie lernte schnell und zeigte sich geschickt, wenn sie in der Gastronomie des „Goldenen Pflugs“ aushelfen durfte. In Änne fand sie schnell eine aufmerksame und fürsorgliche Mentorin und Lehrmeisterin. Da sie auf diese Weise so manche Mark zusätzlich mit nach Hause brachte, konnte sie sich des elterlichen Wohlwollens und Zuspruchs für alle „Überstunden“ sicher sein. Wie sehr konnte sie es genießen, wenn sie gemeinsam mit Änne die Gaststube für den nächsten Tag vorbereitete. Dabei war Änne so anders, einerseits verständnisvoll und dennoch auf merkwürdige Weise fremd.
Hilde hatte schon häufiger bei ihr übernachtet. Vor sechs Wochen, an ihrem 17. Geburtstag, war den ganzen Abend über – wie schon die ganze Woche – kaum ein Platz in der Gaststube zu bekommen. Aufgeregte Diskussionen zwischen offener Begeisterung und zaghafter Besorgnis bestimmten die Atmosphäre. In das beschauliche Kurstädtchen zogen Hektik und Unruhe ein.
Bad Neuenahr und die Nachbarstadt Ahrweiler waren Lazarettstädte. Alle halbwegs kriegstauglichen Wehrmachtsangehörigen wurden ihren Einheiten oder neu aufgestellten Truppenteilen zugewiesen. Am 22. Juni 1941 hatte der Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion begonnen. Allein in der ersten Phase des „Unternehmens Barbarossa“ von Juni 1941 bis März 1942 zählte die Wehrmacht mehr als eine viertel Million Tote und eine dreiviertel Million Verwundete, so dass die Lazarette sehr schnell an ihre Grenzlast stießen.
In den Wirtshäusern und Gaststuben spürte man die Unruhe. Obwohl die Mehrzahl vom Angriff auf Russland überrascht wurde, vertrat man die Auffassung, in wenigen Monaten sei der Spuk zu Ende und Russland ebenso wie Frankreich in die Knie gezwungen. Die wenigen warnenden Stimmen, die an Napoleon und die endlosen Weiten Rußlands erinnerten, verloren sich in der Aufbruchstimmung einer allgemeinen Siegesgewissheit.
An diesem Abend des 3. Juli war es spät geworden. Und nachdem es heftig zu regnen begonnen hatte, verfügte Änne Hildchens Verbleib im „Goldenen Pflug“ – zumal Änne für solche Fälle von Hildes Eltern in die Verantwortung genommen worden war. Auch wenn der Weg vom „Goldenen Pflug“ in die Kreuzstraße in gut zehn Minuten zu schaffen war, meinte Änne, jetzt gegen Mitternacht sei es besser, bei ihr zu übernachten. Hilde freute sich, bot ihr doch die gut zehn Jahre ältere, erfahrene Frau jene Sicherheit und Geborgenheit, die man als siebzehnjährige vielleicht zu Hause vermisst. So hatte sich Hilde schon früh Änne anvertraut, als die ersten Regelblutungen einsetzten. Änne hatte für alle Fragen und Probleme Antworten und Lösungen. Zu Hause gab es kein Wort der Aufklärung, sondern betretenes Schweigen und nur die eher verschämte Frage, woher sie denn die Binden habe.
Aber all das sprach ja auch aus der Sicht der Eltern für Änne, in deren Obhut sie ihre Älteste gut aufgehoben wussten. „Hildchen“ war wohl aufgefallen, dass Änne ihr mehr als freundschaftliche oder mütterliche Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Manchmal meinte sie, dass Änne fast eifersüchtig über sie wachte. Trotzdem überwog bei Weitem ein Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit.
In Ännes Zimmer, im Dachgeschoss des Hotels, stand in Ermangelung eines normalen Einzelbettes ein großes Doppelbett, und Hilde fühlte sich dort gut aufgehoben und beschützt. Änne lebte allein. In ihrem Leben gab es keinen Mann, und alles, was sie erzählte, weckte einerseits Hildes Neugierde, andererseits überwog der Eindruck, Änne habe wohl keine guten Erfahrungen mit Männern gemacht. Einmal hatte sie erzählt – und Hilde hatte keine Ahnung, dass es Ännes eigene Geschichte war –, dass ihre beste Freundin im Alter von 18 Jahren schwanger geworden war, und dann vom Vater des Kindes sitzen gelassen wurde. In ihrer Ausweglosigkeit habe sie sich einer „Engelmacherin“ anvertraut und sei bei der dann vorgenommenen Abtreibung fast verblutet. Hilde hatte sich nicht recht getraut, genauer nachzufragen, wie das denn alles habe geschehen können, und ob die Freundin das Kind nicht vielleicht doch lieber bekommen hätte. Und so gerne hätte sie doch gewusst, wie sich das denn genau mit dem Schwangerwerden und Kinderkriegen verhielt.
Auch am Abend des 15. August blieb Hilde also bei Änne. Aber sie war an diesem Abend viel zu durcheinander und verwirrt, um diese drängenden Fragen anzusprechen. Änne hatte dies längst bemerkt und näherte sich ihrem Hildchen auf äußerst behutsame Weise: „So, jetzt trinkst du erst einmal einen Schluck, dann erzählst du mir, was passiert ist!“ Hilde zog sich hastig aus, schlüpfte in ein Nachthemd Ännes und verschwand unter der Bettdecke. Sie sah Änne mit großen Augen an. Sie starrte eine Zeit lang Löcher in die Decke, nippte beiläufig an einen Glas mit Malzbier und begann trotz der Schwüle am Abend dieses 15. August zu zittern und zu bibbern. Änne nahm das Glas, stellte es beiseite und nahm Hilde in den Arm wie ein Baby, so dass sie sich langsam beruhigte.
„So, jetzt eins nach dem andern. Was ist draußen auf der Straße geschehen? Du warst ja wie der Blitz – schneller wieder drinnen in der Stube als draußen?!“
Hilde begann zu stammeln und stotterte ebenso hilflos, wie sie beinahe mitten auf der Straße eine Bauchlandung hingelegt hätte, so dass Änne sie sanft schüttelte, sie ansah und fragte: „Was war mit den Männern?“ „Ich weiß nicht, Änne, ich habe nur einen Mann gesehen. Er hat mich aufgefangen. Ich wollte doch nur das Feuerzeug überbringen. Ich bin gestolpert, und er hat mich festgehalten. Sein Gesicht war ganz nah, zum Greifen nah. Er hat gelacht, und mir ist schwindlig geworden. Dann bin ich weggelaufen.“
„Du meinst den stattlichen großen Mann mit der Sonnenbrille!?“ „Ja, Änne, ich sehe sein Gesicht genau vor mir. Er lacht mich an, hält mich fest und seine Brille fällt auf die Straße – mir ist immer noch ganz komisch!“
„Hildchen, Hildchen, mein kleines Hildchen“, sagte Änne und schaute Hilde dabei mit einer ernsten Heiterkeit an: „Dich hat der Blitz getroffen. Du hast dich in den Kerl verguckt. Mensch, Hildchen, nur das nicht! Hast du denn nicht die Aufregung in den letzten Wochen mitbekommen? Wir ziehen in den Krieg gegen Russland. Alles was Beine hat und ein Gewehr in die Hand nehmen kann, muss an die Front. Die Männer – auch diese drei Männer sind nicht mehr lange hier – wahrscheinlich haben sie ihren Marschbefehl schon in der Tasche! Mensch, Hildchen, schlag dir das aus dem Kopf! Hilde (4) wusste nicht, was sie sagen sollte; sie hatte keine Ahnung, was Änne da redete. Sie starrte Änne ungläubig und mit großen Kinderauen an. „Guck nicht so wie ein Schaf“, meinte Änne, „so fängt das immer an, aber was erzähl ich dir da, du hast ja recht, bist ja noch ein Kind, Hildchen, Hildchen, Hildchen – jetzt wird erst mal geschlafen und dann sehen wir weiter.“
Am anderen Morgen gab es ein unangenehmes Erwachen. Hilde bemerkte sofort, dass Nachthemd und Bettwäsche Blutspuren aufwiesen. Änne beruhigte sie und meinte: „Du hast da jetzt einen ganz guten Anhaltspunkt – so in etwa Mitte des Monats musst du mit deiner Regel rechnen.“ Sie versorgte Hildchen mit den notwendigen Utensilien. Dann zogen sie die Bettwäsche ab. „Ich kümmere mich darum, und jetzt lauf erst einmal schnell nach Hause, damit die daheim wissen, dass es dir gut geht.“