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Wir werden alle sterben
"Fest steht: Wir alle werden sterben. Die statistische Todeserwartung liegt in Deutschland für Männer etwa beim 77. Lebensjahr und für Frauen etwas beim 82. Lebensjahr. Das Sterben wird mit einer etwas 50%igen Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus stattfinden. Bezeichnenderweise taucht der Begriff Todeserwartung in den Statistiken nicht auf, sondern der der Lebenserwartung. Haben wir die Hoffnung, der Tod werde vielleicht schlussendlich doch vermeidbar sein? [...] Bis zum Alter von 25 Jahren besteht für viele das gute Leben im Lernen und täglich neuen und überraschenden Eindrücken. Die 35jährigen verstehen darunter Geldverdienen, Erfolg und Karriere und/oder Familiengründung. Vieles scheint für viele noch möglich. Manche müssen dann aber spätestens ab 50 begreifen, dass man sterben muss und dass man - gemessen daran, worauf man seine Hoffnungen setzte - irgendwie vielleicht doch gescheitert ist. Man ist in der Lebensphase der Herzinfarkte, der gescheiterten Ehen, der Hormonsubstitutionen, des Karriereknicks, der hoffnungslosen Liebe zu dreiundzwanzigjährigen Frauen und der Schlaflosigkeit im Morgengrauen. Manche ziehen eine Lebensbilanz: Es geht zwar irgendwie immer weiter, aber eben nicht mehr schnurstracks in die gute alte Zukunft von morgen und übermorgen. Die Perspektive wechselt. Plötzlich, so scheint es manchem, hat die Biologie die Macht übernommen: biochemische Prozesse, die auch mit noch so viel gutem Olivenöl, Anti-Aging-Therapien, Vitaminpräparaten, Fatburnern, Testosteronsalben oder Entschlackungskuren in Südtirol oder Vorpommern nicht auzuhalten sind.
Wir sind durch unsere enorm gestiegene Lebenserwartung und durch die geringe Kindersterblichkeit verwöhnt oder vielleicht besser: erfahrungsbehindert. Wir können inzwischen lange Zeit ohne den Tod leben, vielleicht sogar mit der Hoffnung, nicht zu sterben. Die Folge: Wir werden immer ängstlicher. Je weniger Erfahrungen wir mit dem Tod machen, umso größer kann die Todesangst werden. Diese Todesangst wiederum kann zur Lebensangst bzw. Lebensverzagtheit führen. Das Leben wird nicht mehr im Angesicht des Todes geführt und genossen. Stattdessen muss man den Tod ständig fernhalten, wodurch der Todesangst aber immer noch mehr stärkende Nahrung zugeführt wird. Ohne den Tod lässt sich einfach nicht gut leben!
Trotzdem ist man hoffnungsvoll versucht, jenen Erschöpfungszustand aufzuhalten, der trotz regelmäßiger Darmspiegelung, Yoga, Fitnesstraining und gesunder Ernährung irgendwann vom Tode beendet werden wird. Erschwerdend zum individuellen Überlebenskampf kommt hinzu, dass der Tod selbst zu einem Problem geworden ist. Den Tod als natürlich, profan und irreversibel zu begreifen ist zwar eine selbstverständliche Erkenntnis der Aufklärung und der Vernunft, aber er steht in scharfem Widerspruch zu den Prinzipien derselben Rationalität: der Verheißung unbegrenzten Fortschritts und der Überzeugung, die Natur in jeder Form beherrschen zu können. Der Tod wird zum - vielleicht sogar dem - Skandal. Er taucht bei aller aufgeklärten Rationalität wieder auf als der beängstigende Dämon, der durch eine fortwährende Sabotage bewirkt, dass die schöne, gutgetunte Körpermaschine kaputtgeht.
Nach wie vor finden deshalb die unterschiedlichsten Versuche statt, das Paradoxon aufzulösen bzw. des Todes Herr zu werden. Der Kampf ist das verbreiteste Mittel. [...] Der Körper ist aber weiterhin der natürliche und der einzige ernst zu nehmende Feind des Überlebens. In der Tat ein Paradox: In dem Kampf, der das Überleben des Körpers bezweckt, trifft der Einzelne auf eben denselben Körper als seinen Erzfeind. Der Traum vom Überleben macht den Körper zum wichtigsten Angriffsziel. Die persönliche Ungewissheit stärkt die Tatkraft und spornt zum Handeln an. Die Hoffnung ist dabei der wichtigste Energielieferant. Die praktische Betätigung im Kampf mit dem Lebensbedrohenden kann dann vielleicht sogar die Beschäftigung mit dem Tod als dem unausweichlichen Ende vergessen machen. Und es gibt viel zu tun: Sport treiben, vernünftig essen, ausreichend Ballaststoffe zuführen, weniger Fett aufnehmen, Rauch und Raucher meiden, Verunreinigung von Wasser, Erde und Luft bekämpfen. Mit all diesen Praktiken wird das nicht lösbare Problem Tod lösungsorientiert und voller Hoffnung in eine Reihe handlicher Probleme aufgelöst. Altern wird zu einer handhabbaren Angelegenheit. Der unausweichliche Ausgang und Skandal der Anit-Aging-Medizin sieht dagegen anders aus: Jahrelang bereitet man viele kleine optimal zusammengesetzte Mahlzeiten zu, isst zu festgelegten Zeiten, schläft lange in optimal gestalteten Räumen auf optimalen Schlafstätten, walkt nordisch, strecht vorschriftsmäßig und entspannt verbissen. Man schluckt wechselnde Hormone, formt entsprechend den Restkörper, lässt planmäßig alle Vorsorgedaten erheben. Man raucht schon lange nicht mehr, trinkt wenig Alkohol, sorgt aber für eine immer ausreichende Flüssigkeitszufuhr - und stirbt dann eines Tages trotzdem, aber gesund!
Viele Menschen scheinen sich selbst und vor allem ihren Körper in erster Linie als ein Mangelwesen zu empfinden, dessen man sich schämen muss. Nachdem man zunächst geboren wurde, läuft man, je älter man wird, Gefahr, irgendwie geworden zu sein, statt - wie es sich doch überall sonst geziemt - sich regelkonform hergestellt zu haben. Wird dann diese Scham in energisches Handeln verwandelt, wird uns der eigene Körper, wie er uns durch die Geburt, das Leben und die Laune der Natur zugemutet wurde, zur Zumutung, zu einem Zustand, den wir umgestaltend angehen müssen. Schämte man sich in früheren Zeiten, zum Beispiel nach dem Sündenfall, noch seiner Nacktheit, so ist der nackte Körper heute wahrlich kein Problem mehr. Ein Problem ist aber der unbearbeitete oder unzureichend bearbeitete Körper, gleichgültig ob unbekleidet oder bekleidet. Wobei natürlich die Nacktheit die Versäumnisse meist deutlicher hervortreten lässt. Ein Mensch, der sich nach heutigen Vorstellungen korrekt verhält, ist eine Person, die durch hoffnungsvolles Handeln auf sich selbst und ihre Umwelt einwirkt und sich selbst und ihre Umwelt gestaltet. Der Tod bedeutet das endgültieg Ende dieses Gestaltens und daher die radikalste Infragestellung des persönlichen Selbstbildes als handelndes Subjekt. Das gilt nicht nur für die eigene Person, sondern manchmal sogar noch radikaler im Angesicht des Todes anderer. Auch hier erlebt sich der Hinterbliebene als ein Subjekt, dessen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten radikal in Frage stehen. Der Tod wird dann zu einem Problem der Hinterbliebenen, weil sie in ihren Vorstellungen von Machbarkeit und damit in ihren Hoffnungen radikal enttäuscht worden sind (a.a.O., S. 41-45)."
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