Amos Oz - Von einem, der die Welt zwingen wollte und weise wurde - Interview aus dem Frühjahr 2015
Dazu musste Amos Oz zuerste einmal Halbweise werden - auch im Sinne von halb weise. Iris Radisch enthüllt in ihrer kurzen Einleitung jenes Geheimnis, das Amos Oz fast sein Leben lang mit sich herumgetragen hat und erst in seiner Autobiographie Eine Geschichte von Liebe und Finsternis offenbart: Der kleine Amos verliert seine Mutter, die in den Tod geht, und er beginnt die Revolte gegen alles, was die Traditionen einer berühmten osteuropäischen Gelehrtenfamilie ausmacht: "Er legte den Namen seines Vaters ab und nannte sich Oz, was Kraft bedeutet." Er trat in ein Kibbuz ein, lebte dort vierzig Jahre, heiratete und sah seine Kinder groß werden.
"Doch am Ende seines Lebens stellte er fest, dass man seiner Herkunft niemals entkommt und die Eltern in seinem Inneren nicht zum Schweigen bringt."
Zu dieser Einsicht gehört zentral die wohl gewichtigste Facette eines Selbstbildes, die dem Eingeständnis eines Lebens zwischen Scheitern und Don Quichotterie gleichkommt:
"Als ich 14 war, rebellierte ich gegen die Welt meines Vaters. Ich änderte meine Namen. Ich wollte werden, wie er nie gewesen war. Er war ein Gelehrter, ich wollte Traktorfahrer werden. Er war ein Intellektueller, ich wollte Farmer werden. Er war ein Rechtsnationaler, ich wollte Sozialdemokrat werden. Er war ein kleiner Mann, ich wollte ein groß gewachsener mann werden. Wie Sie sehen, ist mir nichts davon gelungen. Ich bin ein kleiner Mann und sitze hier in meiner Wohnung voller Bücher. Ich tue genau das, was mein Vater von mir wollte."
Damit ist ein zentrales Leitmotive des Interviews begründet. Neben der monumentalen Frage nach den Wurzeln des Antisemitismus drängen sich die Fragen nach dem Verhältnis der Generationen auf: "Man wird die Eltern in sich nicht los? fragt Iris Radisch:
"Das geheime Gespräch mit den Toten hört nicht auf. Mein Vater starb vor 45 Jahren, und noch immer streite ich an jedem Tag mit ihm. Wenn die Eltern sterben, bücken wir uns, heben sie auf, stecken sie irgendwo in uns hinein und sind für den Rest unseres Lebens mit ihnen schwanger. Jeder Mensch ist eine Art Matroschka und trägt die Traumata, die Sehnsüchte und die Enttäuschungen der vorangegangenen Generationen mit sich herum."
Ich selbst habe die Neigung, die Bilanzen weltweit anerkannter und gehörter bzw. gelesener AutorInnen zu nutzen, um mit ihnen die Trivialitäten und den Unsinn dieser Welt gegen den Strich zu bürsten. So stellt Iris Radisch mit Blick auf Amos Oz fest, dass er nach dem Tod seiner Mutter - als 15jähriger in einen Kibbuz eingetreten sei und dort sein halbes Leben verbracht habe. Oz antwortet:
"Der Kibbuz Hulda war die beste Universität. Wenn ich die Jahre, die ich im Kibbuz verbracht habe, durch Europa, durch indische Aschrams oder südamerikanische Dschungel gereist wäre, hätte ich nicht einen Bruchteil dessen über die Menschen gelernt, was ich im Kibbuz gelernt habe."
Ob das wohl jemand versteht, dessen Lebenssinn sich in touristischer Laune und kinetischer Verschwendung erschöpft? Ansonsten hat Oz auch noch durchaus Bemerkenswertes zu sagen. Er sagt es mit und durch die Protagonisten von "Judas", seinem letzten Roman. Es geschehe ja nicht viel in diesem Roman:
"Drei Leute sitzen einen Winter lang in einem Haus am Rand von Jerusalem. Sie sind 25, 70 und 45 Jahre alt. Ein junger Revolutionär, ein alter Antiidealist und eine von den Männern enttäuschte Frau."
Mehr braucht's ja auch nicht - vielleicht, um doch ein wenig Dynamik in diese bescheidene Welt zu tragen, dass sich die drei Leute in einem einsamen Jerusalemer Haus lieben lernen? Oz bejaht:
"Menschen ändern sich. Das fasziniert mich. Wir verändern uns, und wir verändern die anderen. Durch Ehen, durch Freundschaften, durch Elternschaft, durch Arbeit, durch Bücher." Und auf seine Protagonisten gewendet: "So wie der junge Mann, der an einem Buch über Jesus aus jüdischer Sicht schreibt, am Ende nicht mehr an seine revolutionären Ideen glaubt. So wie Abrabanel unter dem Einfluss der anderen nicht mehr an die universelle Liebe glaubt."
Ja die Liebe! Die Liebe sei ein sehr intimes Gefühl: "Und wir haben nicht so viel davon in uns, um alle Menschen zu lieben. Menschen können in ihrem Leben allenfalls fünf bis zehn andere Menschen lieben [...] Und diese Liebe hat nichts mit singenden Vögelchen im Sonnenschein zu tun, sie ist gefährlich, sie macht Angst, sie ist eine sehr egoistische Angelegenheit. Der Roman attackiert die Idee von der universellen Liebe."
Eine andere zentrale Frage ist die nach Judas: "Was interessiert Sie an Judas?"
Amos Oz erzählt die Judasgeschichte als die "Urgeschichte des Antisemitismus". Sie sei seit 2000 Jahren das Tschernobyl des Antisemitismus:
"Denken Sie an die Renaissancebilder vom letzten Abendmahl. Die Jünger sehen alle sehr arisch aus, blond und blauäugig. Judas sitzt in der Ecke und ist ein hässliches semitisches Monster mit einer schrecklichen Nase. Das ist keine Nazikarikatur im Stürmer, das ist Renaissancekunst, 400 Jahre vor Goebbels. Der Holocaust hat hier seinen Ursprung. Wir sind alle Judas, Gottesverräter, Geldgierige, Zyniker."
Ob es auch Versöhnliches gibt? Nicht wirklich! Iris Radisch meint am Ende, die Grundstimmung des Romans sei zutiefst pessimistisch. Der alte Mann, in dem sie glaubt Amos Oz am stärksten glaubt wiedererkannt zu haben sage einmal: "Fast alle Menschen gehen mit geschlossenen Augen durchs Leben, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod".
"Ja", antwortet Amos Oz, "aber am Ende lieben sich drei Menschen. Es war nicht alles vergebens." Das sei mehr als die moderne Literatur uns im Allgemeinen zugestehe. "Aber die Leute gehen auf den letzten Seiten auseinander", wendet Iris Radisch ein.
"So ist das Leben" antwortet Amos Oz, der im Übrigen meint, er selbst sei gar nicht so wichtig: "Heute bin ich noch da, morgen werde ich weg sein."
Wenn die Seele Hilfe braucht
Es gibt Schieflagen der Seele, aus denen sich ein Mensch allein nicht befreien kann. Zuweilen braucht er dann die Unterstützung eines Therapeuten. In der aktuellen DOCTOR-Beilage der ZEIT (November 2016 Nr. 5 zur ZEIT 46/16) gehen Redakteure u.a. der Frage nach, was Psychotherapie bringt, wem welches Verfahren helfen könnte, was mit uns dabei geschieht und welche neuen Erkenntnisse über die "sprechende Medizin" vorliegen.
Ich selber bekenne freimütig, dass mir in meiner tiefsten Lebenskrise - in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts - meine intensiven Kontake zur IGST in Heidelberg eine vollkommen neue Lebensperspektive eröffnet haben. Und ich mag nicht wirklich darüber spekulieren, wo ich heute ohne diese drei Jahre der therapeutischen Begleitung und des intensiven (Selbst-)Lernens wäre.
Seit Ende der neunziger Jahre fließen diese Erfahrungen auch in mein Arbeit an der Uni ein; der Schwerpunkt "Lehrergesundheit" und die "Grenzsituationen" bilden seither das Zentrum meiner Arbeit.
Gegenwärtig - immer zu Beginn des Semesters erarbeite ich mit meinen Seminarteilnehmern die Grundlagen einer "Lebenslauftheorie" im Anschluss an Niklas Luhmanns kurz vor seinem Tod veröffentlichten Aufsatz: "Erziehung als Formung des Lebenslaufs"(siehe auch die entsprechende PPP) . Eine der Kernthesen darin lautet:
"Der Lebenslauf ist eine Form für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens."
Aus all den in der aktuellen DOCTOR-Beilage zusammengetragenen Erkenntnisse und Annahmen stelle ich in der Folge einen kurzen Abschnitt vor. Dieser Abschnitt enthält eine Intervention, die ich schon seit 15 Jahren den Lehramtsstudierenden in modifizierter Form anbiete. Für künftige Lehrerinnen und Lehrer ist der Wechselbezug zwischen einer basalen professionellen Grundorientierung und Aspekten einer Sinnorientierung im privaten Raum überlebensnotwendig; die Betonung liegt auf den wechselwirksamen Effekten, denn die Sinnfindung bzw. Sinngebung ist selbstverständlich kein isoliertes Unterfangen, sondern entfaltet seine synergetischen Potentiale aus einem wirksamen und angestrebten Wechselbezug professioneller und privater Identitätsaspekte!
Die Kapitelüberschrift auf Seite 10 der DOCTOR-Ausgabe lautet: "Traumatisierte Menschen altern schneller. Lässt sich der Prozess aufhalten?" Ich stelle in der Folge einige wesentliche Thesen vor - samt der von mir sorgfältig wahrgenommenen Intervention:
- Psychotherapie - so die Grundannahme - sei weit mehr als "längliches Monologisieren oder punktuelles Problemlösen": Wer einmal lerne, sein Gefühlsleben zu regulieren, erwerbe eine Fähigkeit, die ihm später in allen Lebenslagen nützlich sein könne.
- In der Folge wird Bezug genommen auf Forschungen im Grenzbereich zwischen Biologie und Psychatrie. Dabei geht es um die Frage, was im Körper eines Menschen abläuft, wenn er psychisch erkrankt; was mit seinen Immunzellen, Genen und Hirnsynapsen geschieht - vor allem dann, wenn es ihm wieder besser geht, wenn er nach einer Therapie deutlich weniger Ängste, Trauer oder Stress empfindet?
- Elisabeth Binder, Direktorin am Max-Planck-Institut für Psychatrie in München glaubt in der Beantwortung dieser Fragen mit ihrem Team einen zentralen Mechanismus entdeckt zu haben, wie Gene und Umwelt bei psychischen Erkrankungen im Austausch stehen und wie traumatische Lebenserfahrungen das Stresssystem epigenetisch - also nachhaltig - verändern.
Hinsichtlich der Frage, wie durch "heilsame Gespräche" und "heilsames Lernen" umgekehrte Prozesse initiiert werden können und Gesundheit wieder stabilisiert werden kann, zeichnen sich erste Ergebnisse ab. Zunächst einmal zu Befunden, die auf einer Evidenzebene niemanden überraschen und die zunächst einmal trivial anmuten:
- "Seit längerem weiß man, dass sich schwere traumatische Erfahrungen aus der Kindheit in den Körperzellen und bestimmten Gehirnregionen manifestieren und regelrecht einbetten. Kinder, die vernachlässigt, missbraucht oder gequält wurden, sind später benachteiligt, sie altern schneller, tragen ein höheres Risiko für psychatrische Erkrankungen und für Herzleiden, Diabetes und Übergewicht."
- Das oben bereits erwähnte Forscherteam um Elisabeth Binder konnte so wohl zeigen, dass die "epigenetische Uhr", die das Tempo des biologischen Alterns regelt, wahrscheinlich durch erhöhte Stresshormone schneller tickt. Bei depressiven Patienten sei dieses Stresshormonsystem oft aus dem Lot. Mit erfolgreicher Psychotherapie normalisiere es sich ebenso wie mit Antidepressiva.
Was mir persönlich nun besonders am Herzen liegt, ist der nun folgende Hinweis auf die Arbeit von Iris-Tatjana Kolassa, Professorin für Klinische und Biologische Psychologie an der Universität Ulm (siehe auch folgenden Link). Sie untersucht und begleitet mit ihrem Team traumatisierte Flüchtlinge:
- "Sie stellte fest, dass die Betroffenen mehr Schäden im Erbgut, der DNA, hatten als Gesunde. Die Teilnehmer ihrer Pilotstudie erhielten eine 'Narrative Expositionstherapie'." Was hier geschildert wird ist nichts anderes als eine besonders strukturierte und achtsame Form der (therapeutischen) Kommunikation:
"Bei dieser Methode legen die Patienten eine Schnur auf den Boden, ihre Lebenslinie: Für jedes positive Ereignis wird eine Blume daraufgelegt - etwa für das erste Mal Fahradfahren. Der Patient rekapituliert dann alle schönen Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle, die er in diesem Moment hatte." Dies ist ein bewährtes ressourcenorientiertes Verfahen, bei dem die in jedem Leben unvermeidbaren und aktualisierbaren (Ur-)Kompetenzen als Ressourcen wieder verfügbar gemacht werden.
Aber auch jedes schlechte, belastende Ereignis wird durch einen Stein markiert und ebenso exploriert. Dies ist deshalb so wesentlich, weil damit in ein vollkommen eigendynamisches und diffuses (Wieder- und Wieder-)Erleben von traumatisiernden Ereignissen Struktur und kontrollierte Erinnerungsarbeit getragen wird: "der Augenblick, in dem der Patient in den Lauf der Pistole blickt, sein Herz raste, er vor Angst zitterte und den Tod vor Augen hatte!"
"Die Traumatisierung wird somit chronologisch einsortiert, wodurch sie nach und nach ihren Schrecken verliert. Sie verankert sich als Narrativ im Gedächtnis, anstatt in unverbundenen Gedankenfetzen mit Flashbacks aus dem Off hereinzudrängen."
Zwölf Doppelstunden - also etwa 18 Zeitstunden - der aufmerksamen und achtsamen Begleitung und Intervention - so berichten die Redakteure - haben erreicht, dass bei den Patienten "die DNA-Schäden" zunächst reduziert und nach einem Jahr komplett verschwunden waren.
Mich überzeugen die therapeutischen Interventionen und die geschilderten Verläufe will ich nicht bezweifeln - will sagen: ob dies tatsächlich in der DNA der Patienten Spuren der angedeuteten Weise hinterlässt, erscheint mir nicht die wesentliche Message zu sein. Wenn solche Befunde allerdings dazu beitragen, die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren zu belegen - umso besser!
1999 erschienen die von Roland Grossarth-Maticek und Helm Stierlin publizierten Forschungsbefunde zu der Langzeitstudie: Krebsrisiken - Überlebenschancen. Im Kern - eigentlich noch überzeugender - wurde in einem Teil der Fälle die Wirksamkeit therapeutischer Begleitung herausgestellt. Im Fokus der Befunde steht bei den extrapolierten Faktoren, die einen Beitrag zu Gesundung bzw. generell zur Erhaltung von Gesundheit leisten können, die Grundfähigkeit zu einer positiven Selbstregulation. Diese wird im Kern definiert als die Fähigkeit, selbst in schwierigsten Lebenssistuationen (Krebserkrankung) noch Aspekte von Wohlbefinden zu erreichen. Erst im synergetischen Zusammenwirken entfalten dann auch andere Positivfaktoren ihre Wirksamkeit: gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung, kein Suchtverhalten, ausreichend Schlaf und Erholung, gute soziale Integration und nicht zuletzt Vererbung (die als isolierter Faktor keine signifikante Prognoserelevanz für das Erreichen eines hohen Alters) besitzt.
Ich kombiniere die vorliegenden Erkenntnisse mit den Befunden der von Uwe Schaarschmidt und seiner Forschungsgruppe vorgelegten Ergebnisse zur Lehrergesundheit (Potsdamer Studie zur Lehrergesundheit), um auf diese Weise eine präventiv wirksame Grundhaltung künftiger Lehrerinnen und Lehrer zu begründen.