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Ruth Klüger: "Der Sinn des Lebens ist das Leben"

Iris Radisch trifft Ruth Klüger im Mai 2015 in ihrer Göttinger Zweitwohnung. Wollte man Niklas Luhmanns Idee, dass der Lebenslauf die Form für die unaufhebbare Kontingenz des Lebens ist, exemplarisch illustrieren, dann findet man in Ruth Klüger ein ungemein passendes Exempel. Seit 1988 besitzt sie in Göttingen diese Wohnung, die sie 2015 im Begriff ist aufzulösen: "Dabei hätten die deutschen Leser die Germanistikprofessorin aus Irvine (USA) nie kennengelernt, wäre Ruth Klüger nicht Ende der achtziger Jahre wegen einer Gastprofessur nach Göttingen gekommen, wo sie von einem Fahrradfahrer umgefahren wurde und auf den Kopf fiel. Der Unfall war für sie buchstäblich ein Anstoß, endlich ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben: ihre jüdische Kindheit in Wien, die Deportation nach Theresienstadt und nach Auschwitz, die Ausreise nach Amerika."

Iris Radisch berichtet in ihrer Einleitung von der unglaublichen und vollkommen unwahrscheinlichen Überlebensgeschichte Ruth Klügers - müsst ihr unbedingt nachlesen: "Ihr Überleben verdankt sich einem unwahrscheinlichen Zufall." Von daher erscheint es mehr als naheliegend, dass Ruth Klügers Beziehung zu Deutschland und zu ihrer Wiener Heimat schwierig geblieben ist: "Seit beinahe sechzig Jahren lebt sie in den USA, wo sie einen deutschen Professor geheiratet und zwei Söhne bekommen hat, mit denen sie bis heute kein Wort Deutsch spricht. Dennoch hat sie nach der Scheidung in Berkeley Germanistik studiert und ist eine berühmte Auslandsgermanistin geworden, die in Princeton und Irvine deutsche Literatur gelehrt hat. Ihr Erinnerungsbuch weiterleben, das sie in Göttingen auf Deutsch geschrieben hat, wurde ein Bestseller - nicht zuletzt dank der Hilfe Reich-Ranickis, der das Buch im Januar 1993 im Literarischen Quartett feierte.

Ich beginne mit der letzten Bemerkung Ruth Klügers, die sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens auseinandersetzt, und die zu einer verblüffenden Antwort führt, die uns einlädt, zu elementaren Einsichten zurückzukehren:

Ruth Klüger meint: "Ich finde, wenn man wissen will, was der Sinn des Lebens ist, muss man sich eine Katze ansehen. Eine Katze, die den ganzen Tag schläft. Da weiß man, dass der Sinn des Lebens einfach das Leben ist."

Nun ja, das ist wohl das, was man ein Bonmot nennt. Aber was interessiert mich darüberhinaus an den Altersweisheiten von Ruth Klüger. Ich habe ja weiter oben schon bemerkt, dass ein Lebenslauf als Form für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens an Ruth Klüger exemplarisch zu beobachten ist. Und so bringt ihr persönliches Resümee dies für mich denn auch auf eine besonders prägnante Weise zum Ausdruck:

"Da kommt die Alterweisheit ins Spiel, die ja im Grunde genommen eine Alterswurschtigkeit ist. Es ist egal, man soll sich nicht einbilden, dass es die richtige Wahl gibt. Davon handelt auch der Roman, den ich noch schreiben will. Wenn alles determiniert ist, gibt es keine Freiheit. Wenn aber alles Zufall ist, was ich glaube, dann hat das den Vorteil, dass man frei ist, zu wählen. Deswegen muss man sich später keine Vorwürfe machen. Man weiß im Leben nie, was dabei herauskommt."

Naturgemäß sind es alte Menschen, die so reden. Lasst uns ihnen genau zuhören; zumal wir - bzw. ich - selbst schon alt sind/bin (soziologisch gesprochen gehöre ich mit 64 zu den jungen Alten! Ruth Klüger bemerkt all dies geradezu lapidar - dass man sich erinnere, dass man Entscheidungen getroffen habe, zu denen man stehen wolle, Entscheidungen, die man bedauere: "Aber das alles sind Dinge, die mir passiert sind. Was will man mehr vom Leben?" Und vielleicht noch dies, bevor ich mit Odo Marquardt Ruth Klüger meine Referenz erweise:

Nach einem Seitenhieb auf Max Frisch, den sie erwähnt, um anzudeuten, dass sie annimmt, Identität sei doch wohl eher ein Männerproblem, räumt sie ein, dass es da doch etwas gibt, was ihrem Leben wohl besonderen Sinn, besondere Identität verliehen habe: "Aber ich habe schon das Gefühl, wenn ich keine Kinder gehabt hätte, wäre etwas Zerfahrenes in meinem Leben [...] Interessant ist, dass ich in letzter Zeit so viel über die Vergangenheit nachdenke und meine Meinung über das, was geschehen ist, so oft ändere."

Na bitte! Und wenn ihrs mit Odo Marquardt noch einmal philosophischer versuchen wollt, dann bitte mit diesem Link!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund