Gibt es etwas Neues beim Vermessen der Lust?
"Mein Sex! Selbstbewusst, mutig, tabulos!" Das ist die Ergebnisliste in Kurzform, die der SPIEGEL (21/2015, S. 102-110) in seiner neuesten Ausgabe gewissernmaßen als Headline montiert. Aber ist denn nicht schon alles gesagt? Vielleicht kann man - was man weiß bzw. was man wissen könnte - immer wieder anders sagen. Der achtköpfige Thinktank in Sachen Sex beginnt jedenfalls mit einer Fragebatterie, die Frauen und Männer gleichermaßen neugierig machen könnte:
"Sind die Frauen heute alle aufgeklärt und selbstbestimmt, gieren sie nach Sex wie die Kerle, lieben sie Pornos und vergnügen sie sich mit erotischen Spielen jeder Variante? Oder sind sie immer noch das prüdere Geschlecht, diejenigen, die darauf warten, erwählt zu werden, statt selbst auszusuchen? Geht es den Frauen am Ende gar nicht so sehr um Sex, sondern vielmehr oder immer noch um die große Liebe? Und schließlich bekommen sie, was sie wollen?"
Dass die Wissenschaft seit geraumer Zeit versucht, diese Fragen zu beantworten - "ohne Scheu, ohne Stereotype" - ist möglicherweise die eigentliche Botschaft. Die AutorInnen weisen wohl zu Recht darauf hin, dass Befragungen zum "Thema Sex" häufig unzuverlässig seien und Modetrends folgten. Sie beziehen sich in ihrer Analyse auf eine Längsschnittstudie - "Studentische Sexualität im Wandel" -, bei der Frauen und Männer im Jahr 1966 erstmals zu ihrem Liebesleben befragt wurden. Der zentrale Befund:
"Junge Frauen zeigen sich deutlich experimentierfreudiger als noch in den Neunzigerjahren; ihr Erfahrungschatz ist seitdem bemerkenswert gewachsen."
Also muss ich mir zunächst einmal die Frage stellen, warum ich diesen Beitrag überhaupt gelesen habe? Für die StudentInnen-Generation der 60er Jahre bin ich ein wenig zu jung (sieht man einmal vom zuletzt in der ZEIT kolportiereten MILF-Phänomen ab) - die StudentInnen-Genertion der 90er Jahre oder gar die aktuelle (nehme) habe ich nur aus der Perspektive des Hochschullehrers (wahr)genommen. Aber spannend bleibt doch immerhin die Möglichkeit, sich selbst - und sein Umfeld - im Spiegel neuerer Befunde zu betrachten. Denn manchmal lernen ja auch die Alten von den Jungen. Die Befunde selbst, die im SPIEGEL auf mehr als 8 Seiten - allerdings mit Fotos unterlegt - präsentiert werden, lassen sich recht kompakt zusammenfassen:
- Vaginalsex ist demnach - wie eh und je - die beliebteste Form des Beischlafs. Allerdings gebe es eine "viel größere Bereitschaft neue Sexpraktiken auszuprobieren".
- Während in den neunziger Jahren nur 30% der Frauen mit ihrem Partner Pornos angeschaut hätten, seien es aktuell 44%.
- Einen Vibrator benutzten seinerzeit lediglich 11% der Studentinnen; mittlerweile seien es 38%.
- Der Anteil der Frauen, die Erfahrung mit Fesselspielen hätten, habe sich von 18% auf 36% verdoppelt.
Spannend und vielleicht überraschend erscheinen die Ergebnisse zur Treue: "Bei aller Offenheit für sexuelles Neuland: Fremdgehen ist verpönt. 70% der Frauen verlangten in den Neunzigerjahren Treue von ihrem Partner. 85% tun es heute. Die große Mehrheit junger Akademikerinnen (74%) wünscht sich gar eine 'lebenslange Beziehung' - vor 16 Jahren waren es knapp 60%. Sie treffen laut Studie auf junge Männer, die ähnliche Vorstellungen haben."
Die Befunde zu sexueller Inappetenz sind weder neu noch überraschend. Die Referenzpaare - so zum Beispiel Anna und Tom - "konnten eine Sexkrise nach drei Jahren auch nicht verhindern. 'Die Lust war plötzlich nicht so stark wie früher. Irgendwann setzt ein Gewöhnungseffekt ein', sagt Anna." Die Lösungen sind vielleicht innovativ und originell: Die Rettung hätten "Sexgutscheine" gebracht: "Jeder musste sich etwas für den anderen ausdenken und auf einen Zettel schreiben." Im Beitrag "Sexuelle Allesfresser" kommt neben der Garde der weiblicher Sexualtherapeutinnen und -forscherinnen im Übrigen auch Ulrich Clement mit seiner Idee des ISS zu Wort. Denn:
Drei Jahre! Das ist ja lächerlich! 10 Jahre, 25 Jahre - gar 36 und mehr Jahre mit Höhen und mit Tiefen, darüber sollte man reden. Man könnte sich vielleicht im Sinne von "Sexgutscheinen" eine ganze "Wünschekladde" zulegen; sozusagen eine sexuelle Paarbiografie. Aber die Schlussfolgerungen aus den Befragungsergebnissen sprechen eine andere Sprache, die vielleicht - entgegen den Wünschen nach der ewigen Liebe oder zumindest nach lebenslanger Partnerschaft - eher erklären, warum heute so viele Ehen geschieden werden oder gar nicht erst geschlossen werden.
Annas Tom - so ist auf S. 106 der aktuellen SPIEGEL-Ausgabe zu lesen - wusste wohl, was auf dem Spiel stand: "Ein fehlendes oder fortwährend unbefriedigendes Sexleben wäre für Anna ein Trennungsgrund." Die SPIEGEL-AutorInnen stellen in aller Entschiedenheit fest: "Sex ist zu einem Lebensbereich geworden, den Frauen mittlerweile selbst gestalten und optimal ausschöpfen können." Silja Matthiesen, eine Hamburger Sozialwissenschaftlerin weist mit ihren Studien auf das Phänomen der "seriellen Monogamie" hin: "Viele Beziehungen sind kurz, fast immer treu... Die Bruchstelle in der Liebe kommt meist nach drei bis vier Jahren, also spätestens dann, wenn der Sex seltener und langweiliger wird."
Ein weiterer Indikator ist eine gewandelte Einstellung zur Pornografie. Hier ist es nicht Erika Lust , sondern Petra Joy, die durch ihre Filme sowohl die These stützen soll, dass "auch Frauen Voyeure sind", als auch die These, dass sich eine gewandelte Kultur im Umgang mit inszenierter sexueller Praxis beobachten lässt. Dies reicht heute von seriösen Angeboten im aufklärerischem Impetus bis hin zu den Produkten einer Pornografie aus weiblicher Perspektive.
Die AutorInnen verweisen schließlich mit der Sexualrtherapeutin Ann-Marlene Henning auf Möglichkeiten einer neuen Lernkultur in Sachen Sex: "Henning macht Hoffnung: Das - nämlich eine befriedigende Sexualität - kann man lernen und üben und sollte es auch tun. Für eine erfüllende und eine stabile Beziehung ist ein gutes Sexleben von großem Vorteil."
Und dies gilt bis ins hohe Alter!
Lassen wir an dieser Stelle doch wieder einmal Adrian zu Wort kommen. Er hat mir erzählt, dass er vor geraumer Zeit im Kino war und sich fifty shades of grey angesehen hat:
Josef: Lieber Adrian, was ist Dir in erster Linie aufgefallen?
Adrian: Ja, mein Lieber, Du hättest Dir selbst einen authentischen Eindruck verschaffen können. Ich bin ja nun Dein Jahrgang und war an diesem Abend mit Abstand einer der ältesten Kinobesucher. Also Alter war ein Unterscheidungsmerkmal und zum Zweiten das Geschlecht. Vier Fünftel der Kinobesucher waren weiblich und jung. Zu den Besuchern zählten wenige Pärchen. Mehrheitlich waren es mindestens zwei (junge) Frauen, in der Regel aber Gruppen zwischen drei und sechs oder sieben Besucherinnen. Komplettiert wurde die Besucherstruktur durch einige wenige etwas ältere Damen - kaum welche in unserem Alter. Die Atmosphäre war angenehm und entspannt - ab und zu ein Lacher oder die ein oder andere spitze Bemerkung.
Josef: Hast Du eine Erklärung dafür?
Adrian: Na ja, Du hast es doch in mehreren Beiträgen selbst beschrieben: Die jüngeren Frauen (und Männer) gehen unbefangener mit Fragen der Sexualität um. Es gibt vielleicht - soziologisch-kulturell betrachtet - so etwas, wie einen neuen Referenzrahmen, der entscheidend dafür ist, wie Heranwachsende mit Sexualität umgehen, darüber reden, sie auch öffentlich wahrnehmen und kommunizieren.
Josef: Was meinst zu mit "Referenzrahmen"?
Adrian: Der jeweilige kulturelle Referenzrahmen entscheidet darüber, was innerhalb einer Gesellschaft zum (öffentlichen) dynamischen Bestand der Kommunikation über bestimmte sozial und kulturell prägende Themenbereiche gehört. Indikatoren dafür sind einerseits die agenda-bestimmenden Medien (incl. der öffentlich-rechtlichen Medien) einerseits sowie die öffentliche - über Kommunikation - vermittelte Kommunikationskultur (vor allem auch der politisch und kulturell einflussreichen Akteure). Wenn der Regierende Bürgermeister in einer öffentliche Rede sagen kann: "Ich bin schwul, und das ist gut so!" und dabei auf eine überwiegend positive Resonanz stößt, kannst Du vielleicht ermessen, wo der Unterschied zwischen einem demokratisch verfassten Rechtsstaat mit einer offenen kulturellen Agenda und einem oligarchisch-totalität verfassten Gemeinwesen wie z.B. in Rußland ist. Es ist schlicht unvorstellbar, dass einer der politischen Repräsentanten sich dort mit einer ähnlichen Äußerung outen würde; in einem Land, in dem Schwule und Lesben um Leib und Leben fürchten müssen.
Josef: Gibt es für die SPIEGEL-Version eines zunehmenden liberalen wie normalen Umgangs mit Sexualität aus Deiner Sicht weitere Anhaltspunkte?
Adrian: Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen: In Koblenz hat vor einem halben Jahr in der Löhrstraße, kurz vor dem Übergang auf den Münzplatz ein Beate-Uhes-Laden eröffnet. Es ist einerseits bemerkenswert, dass das Leben von Beate Uhse (in den Hauptrollen: Franka Potente, Henry Hübschen u.a.) verfilmt worden ist ("Das Recht auf Liebe"). Andererseits hat man offensichtlich in der Konzeption und Präsentation dieser Läden, die früher oft nicht nur Schmuddelcharakter hatten, sondern auch an Schmuddelecken residierten, eine neue Form gefunden. Als ich mir diesen Laden angesehen habe, wurde er vorwiegend von (jungen) Frauen frequentiert; und vor allem: Frauen führen diesen Laden - nehmen Beratung und Geschäftsführung war. Ich stieß dort übrigens auch auf eine Veröffentlichung von Mia Ming: Perfekte Nächte - 100 Tipps gegen schlechten Sex (Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 2012).
Josef: Wer ist Mia Ming?
Adrian: Mia Ming ist eine (nicht mehr ganz) junge Frau, wurde im Rheinland geboren und hat mit ihren Büchern - zuletzt Seitensprünge und Seitensprünge 2 - einen beachtlichen Erfolg.
Josef: Und warum erwähnst Du gerade sie?
Adrian: Ich such Dir mal ihre Reihe über schlechten Sex 1 - 3 heraus. Dann kann ich Dir das eher begründen. Du musst Dich ein wenig gedulden. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, erzähle ich Dir dazu mehr.
Josef: Ich bin gespannt.