Hildes Geschichte - Franzens Plan (Konspiration II)
Franz war in der Frühe schon aufgebrochen, ohne die anderen. Mit Hilde hatte er einen Plan geschmiedet, der ihnen wenigstens einige Stunden der unbehelligten Zweisamkeit gewähren sollte. So war er schon früh in Remagen. Bereits am Morgen des 6. September war Franz dorthin gefahren und hatte alles erkundet und vorbereitet. In einer kleinen Pension hatte er – mit der vorgeblichen Absicht einer Übernachtung – ein Zimmer gemietet. Die Pension lag in einer Straße zum Rhein hin, dort, wo sich in Remagen ein Milieu „zum letzten Abend“ gebildet hatte, dort, wo niemand Fragen stellte und doch jeder wusste, dass es für viele Soldaten die letzten „unbeschwerten“ Stunden vor dem Weg ins Schlachthaus sein würden.
Hilde war ebenfalls in der Frühe aufgebrochen. Zu Hause hatte sie sich – wie so oft – mit dem Hinweis verabschiedet, sie würde bei Änne übernachten, während sie sich im „Goldenen Pflug“ den Tag „frei“ genommen hatte wegen eines dringenden Verwandtenbesuchs in Hönningen an der Ahr.
Hilde hatte eine Tasche gepackt, so wie sie es gewohnt war, wenn sie zu ihrer Oma nach Hönningen fuhr. Außerdem hatte sie eine Kerze und Streichholz eingepackt „für alle Fälle“! Als der Zug nach Remagen um 9.17 Uhr auf dem Bahnsteig in Bad Neuenahr hielt, stand Hilde in der kleinen Bahnhofshalle und tat so, als studiere sie den Fahrplan. Sie wollte auf keinen Fall irgendjemanden auffallen oder gar Menschen über den Weg laufen, die sie kannten und möglicherweise dumme Fragen stellen würden. Als der Schaffner fast schon das Signal zur Abfahrt gab, stieg Hilde in den letzten Waggon ein. Sie war selbst erstaunt über ihre Ruhe und Kaltschnäuzigkeit. Die Eisenbahn setzte sich langsam und stampfend in Bewegung. Ein leichter Ostwind hüllte den Zug in eine mächtige weiße Wolke aus Dampf, der dem mächtigen Schlot der Lok entwich. Hilde blieb im Einstiegsbereich stehen und hoffte so, mit anderen Fahrgästen gar nicht in Berührung zu kommen. Der Zug hatte eben erst Fahrt aufgenommen, als er sein Tempo auch schon wieder verlangsamte. Aus dem Rückfenster konnte Hilde das Haus der Nachbarn in der Kreuzstraße erkennen. Es überragte das Elternhaus um mehr als das Doppelte. (20) So markierte es im Osten das Ende der Stadt. Mit den Nachbarskindern, Theo, der knapp zwei Jahre älter war und der gleichaltrigen Agnes war sie in den letzten zehn Jahren Haus an Haus und Garten an Garten aufgewachsen. Sie dachte daran, dass Theo jetzt auch schon fast ein Jahr fort war und wie es ihm wohl gehen mochte. Da setzte sich der Zug auch schon wieder in Bewegung. Die erste Station „Heimersheim“ war nur wenige Minuten von Bad Neuenahr entfernt in östlicher Richtung. Der Bahnhof lag am Fuße der Landskrone, dem imposanten Kegelberg mit einer abgeschnittenen Kuppe. Er schob sich jetzt in Hildes Blickfeld, und sie konnte die Winzer bei der Weinlese erkennen. Das weiter werdende Tal öffnete sich jetzt hin zur „Goldenen Meile“. In der strahlenden Sonne bot der Spätsommer die Idylle eines geschäftigen und betriebsamen Erntens und Ackerns. Dort, wo 1945 hunderttausend deutsche Kriegsgefangene ums nackte Überleben kämpfen sollten, war im letzten Kriegssommer ohne Bombenterror an der „Heimatfront“ noch lebendige Zuversicht in eine hoffnungsfrohe Zukunft.
Hilde nahm dies alles nur am Rande wahr. Wie in Zeitlupe zogen Wagen und Menschen, Felder und Wiesen an ihr vorbei. Nachdem der Zug Bodendorf verlassen hatte, wusste Hilde, dass die nächste Station Remagen sein würde. Alles verlief nach Plan und Hilde verbarg alle Zweifel, alle Unruhe und alle Ängste in einer tiefen, dunklen Seele, die an diesem Tag über alle Gewissensbisse obsiegte.
In einer langen, nicht enden wollenden Schleife zog die Lokomotive nun die ratternden Waggons langsam Richtung Zielbahnhof. Erst jetzt kam ein Schaffner auf sie zu, der sich vom ersten Wagen bis hin zum letzten Waggon vorgearbeitet hatte: „Bitte die Fahrkarte!“ sagte er freundlich zu Hilde, die ihre Karte die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte, so dass sie leicht angeschwitzt war. „Na, mein Fräulein, so heiß is et aber net. Die Karte is ja janz aufjeweicht!?“ Hilde errötete leicht und lächelte verlegen. „Is ja schon jutt, mein Fräulein, nur denken se dran – der Zuch endet hier!“ „Ja, Dankeschön“, antwortete Hilde höflich, „ich weiß!“
Sie wartete eine Weile bis fast alle Fahrgäste den Zug verlassen hatten. Dann stieg sie aus und sah sich auf dem Bahnsteig um. Viele Soldaten ordneten dort noch mühsam ihr Gepäck und suchten den Ausgang. Hilde mischte sich in das geschäftige Treiben und fühlte sich unter den vielen fremden Männern, die kaum Notiz von ihr nahmen, sicher und registrierte die Nichtbeachtung mit großer Genugtuung. So schob sie sich in der Masse dem Ausgang entgegen wie die Lemminge, die auf den Abgrund und ihr schnelles Ende zustreben. Für viele der Soldaten mochte dies wohl zutreffen, während Hilde in eine Welt aufbrach, von der sie in keinster Weise ahnte, dass sie Beginn und Ende gleichermaßen bedeuten sollte; einen Wendepunkt, an dem etwas geschehen sollte, was nicht hätte geschehen müssen.
In diesem Augenblick fasste ihr von hinten jemand an die Schultern und sprach sie an: „Mensch Hilde, was machst du denn hier in Remagen?“ Hilde erschrak, drehte sich ängstlich um und blickte Theo, dem Sohn der Nachbarn und Jugendgefährten ins Gesicht. (22) Der wiederum wich einen Schritt zurück und entschuldigte sich verwundert, warum ihn Hilde entsetzt, wie einen Geist aus der Unterwelt, anschaute. „Hab ich dich so sehr erschreckt?“, fragte Theo entschuldigend. „Nein, nein, ich war nur in Gedanken“, entgegnete Hilde und holte die Kerze aus der Tasche. „Ich bin auf dem Weg zur Apollinariskirche, meine Tante ist krank, und ich möchte eine Kerze für sie aufstellen.“ Theo, der in Uniform und mit Seesack vor ihr stand, wies auf den Bahnhof und meinte dann: „In einer halben Stunde, kurz vor 13 Uhr geht mein Zug. Ich habe drei Wochen Urlaub, bevor es wieder zurück geht. Sollen wir etwas trinken?“ „Nein, nein“, entgegnete Hilde, „ich bin in Eile, hab heute Frühdienst und muss schon um 16 Uhr wieder auf der Arbeit sein, das ist alles sehr knapp mit der Zeit. Und dir geht es gut, du bist gesund und siehst kräftig aus?!“ „Ja, wir sind in Frankreich stationiert und bauen dort Flugzeughallen. Das Essen ist sehr gut und auch sonst kann ich nicht klagen. Dann beeil dich jetzt, wir sehen uns bestimmt in den nächsten Tagen. Soll ich zu Hause etwas ausrichten?“, fragte Theo und lachte Hilde an. „Nein, bitte nicht, die wissen nicht, dass ich hier bin. Ich will nur schnell zur Kirche hoch und die Kerze aufstellen“.
Theo, der sie mit seinen weißen Zähnen aus einem braun gebrannten Gesicht anstrahlte, wirkte mit den stramm zurückgekämmten, welligen blonden Haaren kerngesund und merkwürdig zufrieden. „Ja, dann geh ich mal zum Bahnsteig. Ich freu mich auf zu Hause und vielleicht können wir mal gemeinsam Hasenfutter holen“. „Ja, ganz bestimmt!“, rief Hilde ihm zu und winkte zum Abschied.
Hilde erschrak über so viel Kaltblütigkeit und ein leiser Zweifel nagte an ihrem Gewissen, dass sie auch noch ein religiöses Motiv zur Bemäntelung ihrer Absichten ins Feld führte. Und dass ihr ausgerechnet heute hier in Remagen der Gefährte aus Kinder- und Jugendtagen über den Weg laufen musste, beschäftigte sie noch eine Weile, während sie ziellos ein Stück des Weges Richtung Apollinariskirche ging – bis dorthin waren es aber gut 1 ½ km, und Hilde setzte sich nach wenigen hundert Metern auf ein Mäuerchen, um sich zu sammeln. Von hier aus hatte sie den Bahnhof noch im Blick, und ein Gutes hatte die unverhoffte Begegnung mit Theo dann doch noch. Wenn der Zug Richtung Ahrtal sich in Bewegung setzen würde, wäre es genau an der Zeit zum Bahnhof zurück zu gehen. Denn dann wäre es ja schon nach 13 Uhr und Franz würde vermutlich dort schon auf sie warten. Bei diesem Gedanken überflutete sie eine Hitzewelle nach der anderen. Nicht nur, weil mit einem Schlag alle Sicherheit dahin war. Es war vielmehr eine merkwürdige, ihr völlig unbekannte
Mischung aus Spannung, Neugierde und vor allem einer überbordenden Angst, die sie in allen Fasern ihres Fühlens und Denkens erfasste. Die dumpfe Ahnung, dass hier in Remagen etwas geschehen würde, auf das sie mit all ihrem Sehnen und Wollen hinstrebte, dem aber gleichzeitig der Geruch des Verbotenen und Sündigen anhaftete, stand ihr klar und unleugbar vor Augen. Und dennoch vermochte diese Klarheit sie in keiner Weise zu einer immer noch möglichen Umkehr zu bewegen. Sie hätte ja auch mit Theo nach Neuenahr zurückfahren können! Hilde erhob sich, ordnete ihre Kleider und ging entschlossen Richtung Bahnhof zurück. An einem Schaufenster blieb sie stehen, richtete die doppelt gesteckte Damenkrawatte aus. Auf die weiße Bluse drapiert, über der sie eine blaue Jacke mit Nadelstreifen trug, vermittelte sie Hilde ein fast keckes Erscheinungsbild. Sie trug das Haar bewusst so, wie bei der ersten Begegnung mit Franz am Klarissenkloster. Mit ihrer stattlichen Größe gab ihr das Jackenkleid den Anschein einer erwachsenen, selbstbewussten Frau, die – wenn sie ihre Lippen zu einem Lächeln öffnete – an diesem Tag auf besondere Weise den Zauber verbreitete, der junge Frauen zuweilen wie eine Aura umgibt. Von weitem schon sah sie Franz vor dem Fahrplan am Eingang zur Bahnhofshalle stehen. Sie setzte sich auf die Bank rechts neben dem Eingang und beobachtete Franz, der in seiner Ausgehuniform einen stattlichen Eindruck machte. Der dreifingerbreite schwarze Gürtel mit silberfarbenem Gürtelschloss war auf der Höhe der Taille eng gefasst und betonte die ausladenden Schultern. Die Jacke mit breitem Revers saß stramm und endete in Hüfthöhe über der akkurat sitzenden Faltenhose. Die Schuhe waren blank geputzt und das in die rechte Stirnseite gezogene Käppi gab Franz einen überaus verwegenen Eindruck. (23)
In diesem Augenblick drehte sich Franz seitwärts und erblickte Hilde neben dem Eingang. Langsam ging er auf sie zu. Mit einer höflichen Verneigung fragte er förmlich, ob er sich neben sie setzen dürfe. Der Bahnhofsvorplatz war inzwischen fast leer und in der Mittagssonne wirkte das Städtchen wie ausgestorben.
Franz sah Hilde an, lachte und sagte dann in aufgeräumtem Ton: „Ich freue mich, dass du gekommen bist. Ich werde gleich vorausgehen. Wir gehen von hier aus in Richtung Rhein, dann die erste Straße rechts und gleich wieder links. Die kleine Pension heißt ‚Zum Rebstock’. Das Zimmer ist auf der ersten Etage und hat die Nummer 4. Die Rezeption ist um die Mittagszeit nicht besetzt. Hab keine Angst. Geh einfach, ohne dich umzusehen hinter mir her, dann geht alles gut.“ Ein wenig verschüchtert und unsicher folgte Hilde Franz‘ Anweisungen und wartete bis er etwa 20 m vorausgegangen war und folgte ihm dann unauffällig. Was Hilde trotz allen inneren Aufruhrs und trotz aller Zweifelhaftigkeit jetzt tat, hätte ihr jemand unter „normalen Umständen“ niemals auch nur als Möglichkeit anzudeuten vermocht, nämlich wie sich eine soeben erst siebzehnjährige, blutjunge Frau einem erwachsenen, gestandenen Mann nähern und anvertrauen könnte.
War schon allein die Idee einer wie auch immer gearteten Verbindung einer so jungen Frau aus katholischem Haus zu einem erwachsenen Mann vollkommen unvorstellbar, so nahm ihr gegenwärtiges Handeln das Ausmaß eines unermessliche Schuld auslösenden Skandals an. Dumpf und als Widerhall aus den fernsten Regionen ihrer Wahrnehmung war Hilde dies irgendwie gegenwärtig und doch nicht greifbar. Noch kamen Hildes Schritte in eine Welt des Verbotenen und Sündhaften bei weitem leichter daher, als man es bei einem ordentlichen und sittsamen Mädchen, als das sie galt und als das sie sich selbst auch immer gesehen hatte, jemals für möglich gehalten hätte.
Allein nur als Verkörperung des leibhaftigen Teufels, als heimtückische Versuchung und Beschmutzung ihrer Unschuld wäre dieser Mann, dessen Schritten und Anweisungen sie folgte, in den Augen der Mutter erschienen.