Hildes Geschichte - Wer Wind sät...
Hilde spürte, dass sie von unsichtbarer Hand geführt wurde und sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass in wenigen Minuten ein Herr mit Sonnenbrille hoch zu Rade vor ihr auftauchen würde. Und so war sie nicht im Mindesten überrascht, als sich genau dies zutrug – auf eine ebenso unwahrscheinliche wie unvermeidbare Weise. Im Übrigen ganz im Gegensatz zu jenem Herrn, der sich vergnügt und pfeifend – und sonnenbebrillt der Amseltalbrücke näherte und schon lange erkannt war, ohne jegliche Ahnung, dass er auf eine „zufällige“, schicksalhafte Begegnung zusteuerte, die bis weit in das nächste Jahrtausend hinein die Menschen umtreiben würde.
Vermutlich war dies auch der Grund dafür, dass Franz Streit fast zum zweiten Mal die Sonnenbrille von der Nase gefallen wäre, als er Hilde gewahr wurde. „Einen wunderschönen guten Tag, Herr Streit“, begrüßte ihn Hilde mit einem freundlichen bis verschmitzten Lachen. Ihre obere Zahnreihe blitzte im Licht. Der Schwung ihrer Unterlippe wiederholte die Rundung ihres Kinns. Und die aufsteigenden Linien – sanft konterkariert durch zwei Fältchen, die von den Nasenflügeln nach unten wiesen und auf die Weise umso deutlicher die hohen Wangen betonten – gaben Hilde einen milden, kaum erahnbaren slawischen Anflug. Das Blitzen der Zähne wiederholte sich im sonnengleichen Strahlen ihrer Augen. Im hellen Licht bildeten die äußeren Augenwinkel schmale Schlitze, von dunkeln Augenbrauen gerahmt und auf geheimnisvolle Weise betont. Hildes gewelltes, schwarzes Haar war streng zurückgekämmt, auf der linken Seite gescheitelt und jeweils durch zwei Spängchen hinter den Ohren gefasst, so dass sich das Haupthaar im Nacken in zwei Wellen formte. Die hohe Stirn betonte die Wangenknochen noch deutlicher. Hilde trug eine enge weiße Bluse, wie häufig während der Arbeit. Und ganz sicherlich eher intuitiv als bewusst kokett unterstrich diese Form des Oberkleids ihre Weiblichkeit in einer Weise, die sich nur dem männlichen Blick erschließt und die Frauen gewissermaßen nur als spiegelhaften Reflex erahnen können. Der schwarze Rock unterstrich den Kontrast ungemein und wäre Hilde aufgestanden und hätte im Zusammenspiel von Taille und Büste, von Bein und Haar sich als Gesamteindruck vermittelt, Franz Streit wär ganz sicher
von seinem Fahrrad gefallen. (8)
Auf merkwürdige und nachhaltige Weise kehrte sich die allererste Begegnung am Abend des 15. August in eine vollkommen gegenteilige Ausgangslage um. Franz Streit rang um Worte und stotterte vollkommen überrascht vielmehr als dass er in wohlgesetzten Worten seine gewohnte Selbstsicherheit zum Ausdruck
brachte: „Guten Tag, mein Fräulein, das ist aber eine Überraschung, wirklich eine Überraschung – so ein Zufall, aber es freut mich sehr sie zu treffen.“ Franz Streit trug an diesem Tag keine Uniform, sondern leichte Sommerkleidung, ein kurzärmliges weißes Hemd und eine ebenso weiße Hose, die von einem schwarzen Gürtel gehalten wurde. Sein Gesicht war leicht verschwitzt, so dass die glatt rasierte braune Haut in der Sonne wie Bronze glänzte. Sein kurzes, aus der Stirn gekämmtes, leicht gewelltes Haar war links gescheitelt und hoch bis in den Nacken rasiert. Durch sein offenes Lachen unterstrich die passgenaue Sonnenbrille, die in knapper Form nur die Augen abdeckte, einen überaus freundlichen Gesamteindruck. Die schmalen Lippen hatten einen leichten natürlichen Schwung nach oben, so dass das längliche, gleichwohl markant geformte männliche Gesicht eher Wohlwollen und Sympathie ausstrahlte. (9) Franz Streit stieg von seinem Rad und deutete an, sich setzen zu wollen. Hilde kam ihm zuvor und sagte freundlich und bestimmt: „Bitte setzen sie sich!“
Was sich nun innerhalb der nächsten 1 ½ Stunden an diesem heißen Augusttag unter dem Schutz der Kaiserin Auguste Victoria ereignete und anbahnte, hätte man nicht ohne Weiteres für mächtig gehalten, das Leben bis in die dritte Generation nach Hilde (und natürlich auch nach Franz) auf überaus prägende wie dramatische Weise zu beeinflussen.
Die Zurückhaltung, ja die Verängstigung Hildes von vor nicht einmal einer Woche war einer schlichten Offenherzigkeit und Freimütigkeit auf eine so eindeutige Art gewichen, dass es Franz fast den Atem nahm.
Nachdem er erzählt hatte, dass er am morgigen Tag und übers Wochenende voraussichtlich bis zum kommenden Mittwoch, dem 27. August , in eine Spezial-Klinik nach Bonn-Pützchen müsse – dort könne man den Verätzungen der Netzhaut mit Spezialverfahren zu Leibe rücken -, bat Hilde ihn darum, ihn wiedersehen zu dürfen. Dann aber nicht hier an der Amseltalbrücke, sondern in der anderen Richtung, am Ende des Kaiser-Wilhelm-Parks (ahrabwärts) gebe es eine Stelle, wo sie öfter Hasenfutter steche. Sie würde genau eben dies zum Anlass nehmen, sich für eine Zeit von zu Hause und vom „Goldenen Pflug“ zu entfernen. Er solle ihr seine Postadresse nennen; sie würde ihm alles Weitere schriftlich mitteilen. Jetzt müsse sie mit den Kindern nach Hause. Die Hausherrin sei zwar nicht da, aber die anderen würden sich bestimmt schon Gedanken machen, wo sie mit den Kindern bliebe.
Franz, den heute beim ersten Anblick Hildes ganz offenkundig in gleicher Weise Blitz und Donner getroffen hatten, wie vor einer knappen Woche Hilde, war sofort einverstanden. Er nannte Hilde seine Feldpostnummer und natürlich die Adresse der Ehrenwall’schen Klinik; riet ihr aber, auf keinen Fall einen Absender zu vermerken. Zuvor hatten die beiden ohne Punkt und Komma wie im Rausch erzählt, und Franz hatte Hilde gefragt, ob er sie Hilde nennen dürfe. Er sei der Franz. So war es Hilde im Sturm gelungen, Franz‘ Herz aufzuschließen und schon bei der ersten Begegnung unter vier Augen unauslöschliche Spuren zu hinterlassen. Sehr schnell hatte Hilde ihm gestanden, dass ihr seine Stimme nicht mehr aus dem Sinn gehe. Da sei so etwas Eigenartiges, das sie immerzu erschauern lasse. Franz lachte und sagte: „Ich weiß, was du meinst. Ich bin zwar in Deutschland, in Erkenschwick geboren, aber meine Familie stammt aus Österreich, aus St. Pölten. Das ist es sicherlich, was dich irritiert. Nicht allen gefällt diese Klangfärbung, die ja nahezu identisch ist mit dem berühmten ‚Wiener Schmäh‘.“ Hilde verstand zwar nicht so ganz genau die Zusammenhänge, aber so viel hatte sie verstanden, dass Franz Österreicher war und – wie er erklärte – nicht erst seit dem „Anschluss der Heimat ans Reich“ Deutschland verbunden war. Der Wehrmacht sei er bei der Aufstellung von Wehrmachtseinheiten beigetreten und seit 1940 sei er – und dies betonte er mit einem gewissen Stolz – schon Angehöriger des Panzerregiments 33 in der 9. Panzerdivision.
Zum Abschied gab Hilde scheu und zurückhaltend Franz einen Kuss auf die Wange, und wie sie so nebeneinander zu stehen kamen, bemerkte sie, dass Franz gar nicht so groß war, wie sie geglaubt hatte, sondern vielleicht gerade einmal 5-10 cm größer als sie. Franz nahm sie in beide Arme, drückte sie fest an sich, schob sie dann auf Armbeugenlänge von sich, sah ihr tief in die Augen und sagte: „Mädel, gib auf dich Acht!“ Er lachte sein unvergleichliches offenes Lachen, drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, stieg auf sein Fahrrad und fuhr davon.
Hilde jubilierte innerlich, kam sich zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben wie eine erwachsene Frau vor, andererseits fragte sie sich, ob sie noch bei Verstand sei. Nichts, was sie jemals an unausgesprochenen Prinzipien und elterlichen Erwartungen verinnerlicht hatte, passte auch nur annähernd zu ihrem aberwitzigen Auftritt und Verhalten der letzten zwei Stunden. Doris hätte längst gewickelt werden müssen und Dieter sah aus, wie ein kleines Ferkel. Aber er wirkte überaus zufrieden, und so machten sie sich flugs auf den Rückweg. Es war gut, dass niemand da war, und dass sie völlig unbedrängt und ohne sich rechtfertigen zu müssen, die Kinder versorgen konnte. Sie herzte und küsste die Kinder mehr noch als sonst. Und nach einer halben Stunde war Dieter wieder der saubere, ordentliche Junge und Doris, dieses überaus wonnige und zufriedene Kind, schlief nach dem Fläschchen und dem obligatorischen Bäuerchen schon wieder den Schlaf der Seligen und Beschützten.