Das „Mohnheimer Schnittchen“
Zwischen Mohnfrau und „Mohnheimer Schnittchen“ (aus meinem letzten Lyrikbändchen: Die Mohnfrau)
Die Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich der Mohnfrau sind nahezu unbegrenzt, liegen aber – je nach bemühtem Kontext nahe oder zwingen sich gar auf. Wo beginnen? Das Beginnen erfordert einen harten Schnitt mit dem Skalpell durch die Erdzeitalter der je individuellen und der je dyadischen (Paar)Geschichte(n): Jede Repräsentation von Außenwelt kann dabei unabdingbar immer nur als eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation verstanden werden. Das ist sozusagen die conditio sine qua non aller (Selbst)Beobachtung.
Vor das Fürsorgliche Finale (S. 232-244) als letzter Phase der Leidenschaft setzt Detlef Klöckner in seiner grandiosen – für ins Trudeln geratene ältere Paare – höchst anregenden und hilfreichen Monographie "Phasen der Leidenschaft" als Phase IV Intime Dialoge – Gewohnheiten und Umbrüche, Freundschaft (Klöckner 2007, 198-232). Wiederverzauberung versus unromantische Fixierung nennt er die Vertikalspannung, die das Driften von Paaren in dieser Phase häufig markiert, in der, wie er meint, häufig Vertrautheit die ursprüngliche Erregung der Liebe zunehmend verdrängt. „Spannende, außerordentliche Bewegung bringen hingegen mehr die Stolpersteine des Lebens. Wenn das Stolpern nicht nur kurz erschreckt und gleich wieder beruhigt wird, wenn das Hinfallen nicht nur Narben hinterlässt, sondern das Fragile am Langlebigen aufrüttelt, ist es ein Motor des Widererwachens. Wieder verführbar zu sein ist die andere Quelle der Revitalisierung, die erneut auf den Weg bringt (Klöckner 2007, 204).“
Detlef Klöckner führt eine Reihe beeindruckender Beispiele für die Revitalisierung in die Jahre gekommener Beziehungen an; und vor allem gelingt ihm dies in einer wunderbar subtilen und einfühlsamen Sprachwelt, die andererseits an Klarheit nichts vermissen lässt. Eines seiner Beispiele möchte ich gerne aufgreifen, um mir einen Eindruck von den Gratwanderungen zu verschaffen, die viele Paare durchaus erfolgreich miteinander bewältigen. Manchmal – so Detlef Klöckner – sehne man zum Beispiel nach der „guten alten Zeit“ zurück: „Was läge näher, als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in eine Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen (Klöckner 2007, 214).“
Kann man sich vorstellen, eine solche lustbetonte, verantwortungsfreie Zeit noch einmal zu erleben, der Suggestion einer Zeitlosigkeit und einer Atmosphäre zu erliegen, die alle aktuellen Belastungen abschattet? Wo könnte man dies – eine gemeinsame Leidenschaft für den Skisport vorausgesetzt – besser als in den Alpen, sagen wir auf dem Stubaier Gletscher, für eine Woche, vielleicht mit den Briefen und den Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, die nun vielleicht schon 35 Jahre zurück liegt?
In diesem Kontext vertritt Detlef Klöckner die These, dass Treue nicht sichere, dass ein Paar gut miteinander umgehe. Verlangt sei ein Aufeinander-Eingehen, das Einhaltungen anstrebe und Ausnahmen lösungsorientiert kommuniziere, das sich als Paar fördere, ohne sich persönlich zu vernachlässigen: „Das ist einfacher ausgesprochen als getan. Manche Paare versuchen ein gutes Klima herzustellen, indem sie eine ungemütliche Unterscheidung bemühen. Sie differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordneten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (Klöckner 2007, 216).“
Das ist natürlich keine verlässliche Rezeptur. Nur im Nachhinein vermag sich herauszustellen, was zu den verträglichen und letztlich erträglichen Ingredienzien einer vitalen Beziehungskultur gehört. Dieses Büchlein (Die Mohnfrau) ist meiner Frau Claudia gewidmet, der Besonderen und der Einzigartigen (von manchen auch Moselperle genannt). Und die Geheimrezeptur zum Erhalt unserer vitalen Beziehungskultur ist u.a. im Monheimer Schnittchen aufgehoben.
Für die Variante True Lies lässt sich die Rezeptur zumindest andeuten:
Man nehme einen Verflossenen (wenn möglich mit Trennungsabsichten), gewähre ihm Durchreiserecht, füge einen Vertrautheits- und Freundschaftsrahmen in Form von Asylangeboten hinzu, würze des Weiteren mit schönen romantikfähigen Orten – etwa schnee- und erinnerungsträchtigen Alpentälern. Den Teig lasse man neun Monate gehen, füge ein wenig Eifersuchtsfluidum als katalysierendes Triebmittel hinzu. Zur besseren Durchmischung lasse man ein kleines Sturmtief – vielleicht namens Emma – hindurchfegen. Man knete das Gemenge schließlich mit heilenden Händen ordentlich durch, forme kräftige Schnittchen daraus und gare dieselben 24 Stunden nahe am Siedepunkt. Man garniere ein wenig mit bahnhofschwangerer Abschiedsatmosphäre und serviere das Ganze lauwarm – fertig ist eine delikate ménage à trois. Das Ganze nenne man Monheimer Schnittchen. Schaltjahre stellen im Übrigen optimale Gedeihlichkeitsbedingungen bereit. Als Digestif (ein die Verdauung anregendes Getränk) empfiehlt sich ein hochprozentiges Destillat humorhaltiger Gedanken und Scherze – so ist eine nachhaltige Bekömmlichkeit nahezu garantiert!
Detlef Klöckner würde wohl zustimmen, dass sich diese deftige kulinarische Gabe im Sinne eines Stolpersteins als nachhaltige Revitalisierung müder Pärchen im Schlafrock anbietet. Ich weiß schon, Rudi (Krawitz), Hans (Kusenbach) und ihr Franks (Tiedemann und Windhövel) – ihr wüsstet gern mehr von den geheimnisvollen Zutaten und der Art ihrer Zubereitung! Sorry – es ist eine interaktive Rezeptur mit vielen Variationen, und ich weiß nur einen Teil von dem, was ich dazu beitrage: Faszination, Hin- und (Her)Gerissenheit, die sich mit einer gehörigen Portion Humor recht gut kultivieren lässt, Entschiedenheit, Geduld und Gelassenheit und den Blick des Begehrens, der auch heute noch weiß, was Heißhunger ist!
Aber es ergeben sich für einen aufmerksamen Beobachter ja noch ganz andere Fragen. Warum ge-rade diese Hinweise als Interpretationshilfe zur Mohnfrau? Natürlich liegt es im Sinne des weiter oben zitierten Hinweises von Detlef Klöckner im Wesen eines Durchreisenden, dass er den Mohn zwar sehen und bewundern, seiner Schönheit und Faszination erliegen kann; aber eben nur als (Durch)Reisender. Das fahrende Volk hat keinen Ort und muss immer wieder fort (am besten natürlich nach Hause). So bleibt vom Mohn der Traum – was manchmal reichen muss und allemal die Bedingung ist, um sich – mit brennender Geduld (Antonio Skarmeta) – die unerfüllten Träume und damit die wahre Liebe zu bewahren. Aber wer weiß das alles schon so ganz genau – und wann ist man Koch und wann ist man Gast!?
Und dieses Gedichtlein – „Die Mohnfrau“ – ist gar nicht entstanden, um die unerfüllten Obsessionen anderer – z.B. Durchreisender – zu kommentieren, sondern es ist eher der Ausdruck einer resignativen Reife (Arnold Retzer), die das Wahre nicht mehr in (s)einer vermeintlichen Erfüllung sieht, sondern eher im sanften Schmerz und in der Behaglichkeit des komfortablen Verzichts. Und dafür sag ich schlicht allen, die daran Anteil haben, DAnke!