<<Zurück

 
 
 
 

Versuch über die Liebe - Alain de Botton im "Interview"

Auf der Bühne des Café Hahn ist ein großes französisches Bett aufgebaut. Adrian Nemo und Alain de Botton haben es sich auf diesem Bett bequem gemacht:

Adrian:   Lieber Alain de Botton, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie sozusagen eine Zwischenlandung arrangieren konnten. Ich weiß, dass Sie wenig Zeit haben. Ihr Taxi steht schon bereit. Ich habe den Schwiegervater eines guten Freundes gewinnen können – einen ehemaligen Testfahrer bei Porsche –, er wird Sie gleich zum Flugplatz Hahn fliegen, pardon fahren, so dass Sie hoffentlich pünktlich zu Ihrer nächsten Verabredung kommen werden.

A. de Botton:   Vielen Dank, ich finde das sehr aufmerksam und sehr entgegenkommend von Ihnen. Ich hatte Ihnen ja fernmündlich schon mitgeteilt, dass es mich wieder einmal erwischt hat und dass ich noch in der Nacht in Zürich sein muss. Aber das mit dem Bett wäre doch nicht nötig gewesen. Ich fühle mich durchaus frisch und fit.

Adrian:   Entschuldigung lieber Alain, so ist das auch nicht gemeint. Ich habe mir gedacht, es wäre vielleicht ein eindrückliches, anschauliches Arrangement, das die Ausgangslage oder vielleicht besser den Ausgangspunkt Ihres „Versuchs über die Liebe“ besonders betont.

A. de Botton:   Eine verrückte Idee, aber von einer guten Bekannten, die jetzt – ich glaube – für SAT.1 Fernsehen macht, habe ich gehört, dass Sie das Café Hahn häufig liebevoll auch crazy Hahn nennen.

Adrian:   Ja, fühlen Sie sich wohl im crazy Hahn, machen Sie es sich bequem und versetzen Sie sich noch einmal in Ihren Versuch über die Liebe, auch wenn sich heute Abend nicht gerade das zutragen wird, was man eine schicksalhafte Begegnung nennen könnte. Sie eröffnen Ihren Roman ja mit dem Hinweis, nirgendwo äußere sich die Sehnsucht nach einem Schicksal stärker als in unseren romantischen Vorstellungen…

A. de Botton:   Ja, ja, ja… und allzu oft sind wir gezwungen, unser Bett mit Menschen zu teilen, die unsere Seelen nicht ergründen können…

Adrian:   Sie locken uns auf eine Fährte, an die Sie selbst nicht recht glauben mögen!?

A. de Botton:   Ach, nein, ich fand es einfach amüsant die Geschichte einer romantischen Liebe zu erzählen, aber gleichzeitig so etwas parallel zu schalten, wie eine eher analytische Perspektive, mit der man den romantischen Überschwang des Erlebens ein wenig konterkarieren kann. So bekommt man doch ein Gefühl für die Begrenzungen und Fallstricke, die dem romantischen Liebesmythos zwangsläufig innewohnen.

Adrian:   Die grandiose Eröffnung endet also eher in einer rhetorischen Frage: „Dürfen wir uns nicht ein einziges Mal der Zensur unseres Verstandes entziehen und uns sagen, dass dieses Zusammentreffen Teil unseres Schicksals ist?“

A. de Botton:   Vielleicht hilft Ihnen ein Hinweis aus Kapitel 1, Absatz 3, in dem Chloe – neben unserem Helden im Flugzeug sitzend – die Hinweise auf die Sicherheitskonstruktionen mit dem lapidaren Hinweis kommentiert: „Wir werden alle sterben, wenn dieses Ding abtrudelt.“ – ganz im Gegensatz zur bebilderten Beschreibung des „idealen Absturzes“, die Chloe studiert und laut kommentiert und bei dem – wie sie ironisch anmerkt –, „die Passagiere weich und gefasst auf der Erde oder im Wasser landen, die Damen ihre hochhackigen Schuhe ausziehen, die Kinder geschickt ihre Schwimmwesten aufblasen, der Rumpf des Flugzeugs unversehrt bleibt und das Kerosin sich wunderbarerweise als unbrennbar erweist“.

Adrian (ernüchtert und konsterniert wirkend):   Das heißt also, eigentlich wird der aufmerksame Leser schon auf der zweiten Seite Ihres Buches darauf hingewiesen, dass die romantische Liebe eher einer Fata Morgana gleicht als einer realen Perspektive?

A. de Botton:   Aber mein lieber Adrian, ich glaube eher, dass solche Hinweise sekundär sind und vor allem auch immer wieder durch das in Frage gestellt werden, was die Menschen erleben und vor allem durch das, was sie tun. Natürlich sind die meisten Menschen vollkommen hingerissen von den rhetorischen Fragen in Kapitel I,1; und vor allem beantworten sie diese Fragen – jedenfalls der größte Teil – ganz und gar nicht im Sinne einer Ernüchterung.

Adrian (mit leicht schwärmerischem Blick):   Ja, da haben Sie ohne Zweifel Recht. (Adrian steigt aus dem Bett, tritt an den vorderen Bühnenrand und deklamiert de Botton mit hinreißender Pose im Original:) Ist es da nicht verzeihlich, wenn wir (wider alle Regeln unseres aufgeklärten Zeitalters) glauben, dass es uns vom Schicksal bestimmt sei, eines Tages plötzlich dem Mann oder der Frau unserer Träume gegenüber zu stehen? Ist es nicht entschuldbar, wenn wir mit einer gewissen abergläubischen Treue an ein Geschöpf glauben, das sich als Antwort auf unser brennendes Verlangen erweisen wird? Und obwohl unsere Gebete vielleicht nie erhört werden, obwohl der trostlose Teufelskreis gegenseitigen Nichtverstehens vielleicht nie ein Ende haben wird – sollte der Himmel doch eines Tages Erbarmen mit uns haben, ist es dann wirklich von uns zu erwarten, dass wir die Begegnung mit dem Prinzen oder der Prinzessin dem bloßen Zufall zuschreiben? Dürfen wir uns nicht ein einziges Mal der Zensur unseres Verstandes entziehen und uns sagen, dass dieses Zusammentreffen nichts anderes als ein unvermeidlicher Teil unseres Schicksals ist?

Die Zuhörer im wohlgefüllten Hahn (mehr Frauen als Männer) sind aufgestanden und applaudieren Adrian begeistert – einige wenige, die auf ihren Stühlen sitzen geblieben sind, schauen den anderen eher resigniert, aber durchaus wohlwollend zu.

A. de Botton:   Sehen Sie, mein lieber Adrian, wir folgen Ihnen, alle möchten dem Helden meines Romans folgen, wenn er von Cupidos Pfeil getroffen räsoniert: „Es schien, als hätte der gigantische Geist im Himmel vom Augenblick unserer Geburt an unsere Umlaufbahnen immer wieder subtil verändert, damit wir uns eines Tages im Shuttle von Paris nach London begegneten.“ Die Liebesgeschichten, die nie geschrieben werden, weil jemand das Flugzeug verpasst oder die Telefonnummer verliert, will niemand hören.

Adrian:   Man muss Ihnen zugestehen, dass Sie die inkongruente Perspektive von Anfang an parallel laufen lassen. Ihre Rationalisierungsstrategien mit Wahrscheinlichkeitserwägungen finde ich allerdings geschmacklos. Sie errechnen durch allerlei Taschenspielertricks ja zum Schluss eine Wahrscheinlichkeit von eins zu sechsunddreißig, dass die beiden zumindest im selben Flugzeug (wenn auch nicht unbedingt auf zwei Plätzen nebeneinander) sitzen. Schade, dass Arnold Retzer noch nicht hier ist. Der hätte das jetzt mit dem lapidaren Hinweis kommentiert, dass man mit der Einführung der Wahrscheinlichkeitsrechnung gleichzeitig aufhören könne, den anderen zu lieben.

A. de Botton:   Genau das bringt unseren Helden ja zu der resümierenden Frage, wie er zu der Vorstellung kommen konnte, dass die Rolle, die Chloe nach und nach in seinem Leben spielen sollte, ebenso gut von einer anderen Person hätte ausgefüllt werden können, waren es doch die Augen Chloes, in die er sich verliebt hatte, und ihre Art, sich eine Zigarette anzuzünden oder zu küssen, sich am Telefon zu melden und sich das Haar zu kämmen?

Adrian:   Wenden wir uns lieber einem anderen Kapitel zu – vielleicht dem sechsten: „Marxismus“?

A. de Botton:   Lieber Adrian, Sie haben ein gutes Gespür dafür, die Haare in der Suppe zu finden. Erinnern Sie sich: „Wenn wir ein Wesen (einen Engel) ansehen und uns, ganz erfüllt von unerwiderter Liebe, ausmalen, welche Freuden es bereitete, wären wir im siebten Himmel mit ihm, sind wir geneigt, eine nicht zu unterschätzende Gefahr zu übersehen – nämlich wie bald die Anziehung verblassen kann, falls unsere Liebe eines Tages erwidert wird.“

Adrian:   Aber wir verlieben uns doch, weil wir uns danach sehnen, uns selbst zu entfliehen, mit einem Menschen, der so schön, intelligent und witzig ist, wie wir hässlich, dumm und langweilig sind!? So oder ähnlich haben Sie es doch selbst formuliert!

A. de Botton:   Es geht mir eigentlich nur darum, dass es für die meisten Menschen wohl leichter ist, Cupidos Pfeil abzuschießen als ihn zu empfangen. Liebe ist leichter zu geben als zu nehmen.

Adrian:   Tut mir Leid, aber das verstehe ich nicht – das wirkt mir ein wenig zu kapriziös und zu kokett. Ich weiß zwar worauf Sie hinauswollen, denn dahinter steckt ja die Frage: Wenn sie/er so wunderbar ist, wie kann es dann möglich sein, dass sie/er jemanden wie mich lieben kann?

A. de Botton:   Ja, es gibt von dem Marx, der lachte, diesen alten Witz darüber, dass er sich nicht herablassen würde, einem Club anzugehören, der jemanden wie ihn als Mitglied aufnähme – eine Wahrheit, die in der Liebe ebenso gilt, wie wenn es um eine Clubgemeinschaft geht.

Adrian:   Ach kommen Sie, wo ist der Knackpunkt – gibt es da etwa einen Gedanken, um den wir uns alle notorisch herummogeln?

A. de Botton:   Natürlich, mein lieber Adrian. Wenn uns die geliebte Person wiederliebt, werden wir gezwungen, zu uns selbst zurückzukehren, und werden folglich wieder an all die Dinge erinnert, die uns vor allem anderen in die Liebe getrieben haben. Vielleicht war es am Ende gar nicht Liebe, was wir wollten; vielleicht suchten wir lediglich jemanden, an den wir glauben konnten, aber wie können wir weiterhin an das geliebte Wesen glauben, jetzt da es an uns glaubt?

Adrian:  Also wissen Sie, Therapeuten oder Wissenschaftlern mag ich das ja noch zugestehen – Entzauberung ist ihr Job! Selbst Roland Barthes, hat als Wissenschaftler darunter gelitten. Erinnern Sie sich an die „Mythen des Alltags“? Im Schlusskapitel „Notwendigkeit der Mythologie“ beschreibt er es als Maß unserer gegenwärtigen Entfremdung, dass es uns nicht gelingt, über ein unstabiles Erfassen des Realen hinauszukommen: „Wir gleiten unaufhörlich zwischen dem Objekt und seiner Entmystifizierung hin und her, unfähig seine Totalität wiederzugeben. Wenn wir das Objekt durchdringen, befreien wir uns, aber zerstören es, und wenn wir ihm sein Gewicht belassen, achten wir es zwar, aber geben es mystifiziert wieder. Es könnte scheinen, dass wir noch für einige Zeit dazu verurteilt sind, auf exzessive Weise vom Wirklichen zu sprechen.“

A. de Botton:   Ja, mein lieber Adrian, Roland Barthes war nahe dran – aber er ist wie kein anderer ein großer Apologet der Liebe geblieben: „Man muss ein Wagnis eingehen. Wagen zu lieben…“

Adrian:   Aber Sie gehen einen Schritt weiter, nicht wahr!? Den Schritt in den Liebesabgrund: „Liebe wird begehrt, kann aber unmöglich angenommen werden, aus Furcht vor Enttäuschung, die folgen muss, wenn das wahre Ich offenbar wird – eine Enttäuschung, die normalerweise schon einmal eingetreten ist (vielleicht seitens des Vaters oder der Mutter), jetzt aber auf die Zukunft projiziert wird.“

A. de Botton:   Ja, Marxisten finden das Innerste ihres Wesens so abgrundtief unannehmbar, dass sie meinen, Intimität müsse sie notwendigerweise als Scharlatane entlarven. Warum also das Geschenk der Liebe annehmen, wenn man mit Sicherheit weiß, dass es einem gleich wieder weggenommen wird? Wenn du mich jetzt liebst, dann nur, weil du nicht mein ganzes Ich siehst, denkt der Marxist, und wenn du nicht mein ganzes Ich siehst, müsste ich ja verrückt sein, mich immer mehr an deine Liebe zu gewöhnen bis zu dem Augenblick, da du mich so siehst, wie ich wirklich bin.

Adrian:   Ein Glück, dass wir nicht alle „Marxisten“ sind: Warum sollten andere besser von mir denken, als ich von mir selbst denke? Ich biete Ihnen eine andere Variante an: Warum sollte ich von mir selbst nicht so gut denken, wie es andere tun!? Mir geht nämlich dieser larmoyante, kokette selbstbezichtigende Defaitismus ziemlich auf die Nerven!!!

A. de Botton:   Sie haben Recht, wir halten uns viel zu lange mit den „Marxisten“ auf. Obwohl wir icht unterschätzen sollten, wie viele es davon gibt. Außerdem passen sie nur zu gut in unsere widersprüchliche, paradoxe Welt, denn der Schrei der „Marxisten“ ist ein einziger Widersinn: Fordere mich heraus, und ich werde dich lieben; ruf mich nicht pünktlich an, und ich werde dich küssen; schlaf nicht mit mir, und ich werde dich anbeten.

Adrian:   Mit Verlaub gesagt, das ist doch der – oder zumindest einer der Reize, die das Verliebtsein so unvergleichlich machen. Das sind die Spielereien und Neckereien der frisch Verliebten – perspektivisch gesehen bieten Sie jedoch noch ein viel ernüchterndes Bild an: „Wir würden nicht lieben, litten wir nicht unter einem Mangel, doch paradoxerweise stört uns ein ähnlicher Mangel beim anderen. In der Erwartung, eine Antwort zu finden entdecken wir nur das Duplikat unseres eigenen Problems. Wir erkennen, wie sehr auch die anderen darauf angewiesen sind, ein Idol zu finden, wir sehen, dass der geliebten Person unser Gefühl der Hilflosigkeit nicht entgeht, und sind daher gezwungen, die kindische Passivität aufzugeben, mit der wir uns hinter göttlicher Bewunderung und Verehrung verstecken, und statt dessen die Verantwortung auf uns zu nehmen, zu der beides gehört: tragen und getragen zu werden.“

A. de Botton:   Dies und noch mehr: Dieser Ansicht nach können Liebende nämlich gar nichts anderes tun, als hin- und herzuschwanken zwischen den Zwillingspolen des Sich-Sehnens und des Ärgers über. Die Liebe kennt keinen Mittelgrund. Sie ist lediglich eine Richtung: Was sie begehrt, kann sie, hat sie es einmal erobert, nicht mehr begehren. Die Liebe sollte daher bei ihrer Erfüllung verglühen, sich selbst verzehren; der Besitz des Begehrten löscht das Begehren.

Adrian:   Famos! Es gelingt mir mit Ihrer Hilfe, Roland Barthes endlich zu verstehen. Indem er das verliebte Subjekt erfindet, das in seiner Liebe nicht erhört wird, kann er das Begehren auf das begrenzen, was per definitionem unerreichbar bleibt. Er entgeht dem schalen Geschmack desjenigen, der nicht mehr begehren kann, was er begehrte, weil er es erobert hat.

A. de Botton:   Deshalb ist die Phase in der Beziehungsdynamik so ungemein attraktiv, wo Unausgewogenheit den Takt vorgibt: die Balance zwischen exzessiver Verletzlichkeit und exzessiver Unabhängigkeit.

Adrian:   Aha, alle tanzen auf dem Hochseil, allerdings ohne Netz und doppelten Boden! Das ist wohl dann auch die Phase, wo uns noch die Tatsache verborgen bleibt, dass die Haut, die unsere Körper trennt, nicht nur eine physische Grenze ist, sondern – wie Sie sagen – tiefere psychologische Widersprüche repräsentiert, die zu transzendieren ein törichtes Unterfangen wäre. Übrigens haben Niklas Luhmann und Peter Fuchs dafür die unaufhebbare Differenz zwischen System und Umwelt erfunden.

A. de Botton:   Ja, ein alter Hut: Man kann das auch prosaischer ausdrücken. Sobald dann das Werk der Phantasie, die Gedankenkosmen in einem Konzertsaal gespielt werden, kommen die engelsgleichen Wesen, die durch unser Bewusstsein schwebten, auf die Erde herab und enthüllen sich als materielle Wesen, die mit ihrer (oft unangenehmen) seelischen und physischen Geschichte beladen sind – wir erfahren, dass sie eine bestimmte Zahnpasta benutzen und sich auf eine bestimmte Art die Fußnägel schneiden, dass sie Beethoven Bach und den Kugelschreiber dem Füllfederhalter vorziehen.

Adrian:   Was mich beeindruckt hat an Ihrem Buch, ist vor allem die Tatsache, dass Sie nicht als Happy-End-Fetischist enden, gleichwohl aber nicht der Abwertung des Verliebten das Wort reden.

A. de Botton:   Ja, vermutlich, weil ich dieser Verliebte auch immer ein bisschen bin oder umgekehrt er ein Teil von mir. Und warum soll ich dann leugnen, dass die Liebe ihre Verrücktheit dadurch offenbart, dass sie sich weigert, die angeborene Normalität des geliebten Menschen anzuerkennen. Daher sind Liebende so langweilig für jene, die an der Seitenlinie stehen.

Adrian:   Respekt! Aber wir können uns ja leicht vorstellen, wie langweilig erst ein Leben wäre, bei dem man immer nur an der Seitenlinie steht. Aber, mein lieber Alain de Botton – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich jedenfalls bin gegenwärtig nicht verliebt –, so könnten wir doch eigentlich in aller Radikalität einmal den Liebesmythos dekonstruieren. Im Dekonstruieren seid ihr Franzosen – pardon, eigentlich sind Sie ja Schweizer – doch unerreicht.

A. de Botton:   Ja, ich bin Schweizer und lebe in London. Aber sei’s drum. Ich bin dabei. Philosophen beschränken in der Regel den erkenntnistheoretischen Zweifel auf Tische, Stühle, die Höfe der Colleges in Cambridge und die gelegentlich unerwünschte Ehefrau. Diese Fragen auf Dinge auszudehnen, die uns wirklich angehen, nämlich zum Beispiel auf die Liebe, heißt, die erschreckende Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass der geliebte Mensch nur eine innere Phantasie ist, mit wenig Verbindung zu irgendeiner objektiven Realität.

Adrian:   So gesehen wäre ein verliebter Philosoph eine Paradoxie?

A. de Botton:   Zumindest können Liebende nicht sehr lange Philosophen bleiben; sie sollten vielmehr dem religiösen Impuls Raum geben, das heißt, sie sollten glauben und Vertrauen haben – im Gegensatz zum philosophischen Impuls, der bedeutet, zu zweifeln und zu fragen. Sie sollten das Risiko zu irren und zu lieben dem Zweifeln und dem Leben ohne Liebe vorziehen.

Adrian:   Zur Liebesbeziehung gehören ja nun mal immer zwei. Und wenn einer von beiden philosophische Neigungen und mehr noch Begabungen hat?

A. de Botton:   Also, ich möchte es einmal umdrehen und so antworten: Täuschungen sind an sich nicht schädlich; sie tun nur weh, wenn man der einzige ist, der an sie glaubt, wenn man keine Umgebung zu schaffen vermag, in der sie aufrechterhalten werden können.

Adrian:   Das dreizehnte Kapitel interessiert mich besonders! Sie haben es schlicht „Intimität“ genannt. Unmittelbar im ersten Absatz schildern Sie eine Szene, die ein Dilemma offenbart, das eigentlich von allen frisch Verliebten konsequent ignoriert wird. Chloe offenbart ihrem Helden im Verlauf eines Gesprächs, dass sie nicht zusammenziehen könnten. Sie habe nämlich ein Problem: „Ich muss mein eigenes Leben leben, sonst löse ich mich auf. Es ist nicht nur, dass ich die Tür hinter mir zumachen können muss… Nicht dass ich dich nicht wollte, es ist eher die Furcht, dass ich dann nur noch dich will und irgendwann feststellen muss, dass nichts von mir übrig ist.“ Interessant ist, wie Sie im weiteren Verlauf einen operativen, eher trivialen Begriff von Intimität begründen, indem Sie schildern, wie die Protagonisten wechselseitig Gewohnheiten voneinander annehmen: „Diese allmähliche Durchdringung brachte einen gewissen Grad von Intimität mit sich.“

A. de Botton:   Ja, ich meine eine gewisse Entgrenzung, die zweifellos auch einen ungemein entlastenden Charakter hat: Unser Held stellt fest, dass irgendwann – ziemlich schnell – der Punkt erreicht war, an dem der Körper nicht länger die Augen des anderen spürte: „Chloe konnte im Bett liegen und lesen und dabei einen Finger in die Nase stecken, um ein Hindernis zu entfernen, es dann zu einem Kügelchen rollen, bis es trocken und fest war, und es dann hinunterschlucken. Die Vertrautheit mit dem Körper ging über die sexuelle Vertrautheit hinaus. Wir konnten an einem heißen Sommerabend nackt nebeneinander liegen, ohne unsere Nacktheit irgendwie zu erwähnen. Wir konnten Schweigepausen riskieren; wir waren nicht länger paranoide Redende, die auf keinen Fall das Gespräch stocken lassen wollten, damit die Stille sich nicht als verräterisch erwies (‚Was denkt sie/er über mich in diesem Schweigen?’). Wir wurden einer in des anderen Vorstellung selbstsicherer, und das ewige Verführen (die Furcht vor dem Gegenteil) erledigte sich damit von selbst.“

Adrian:   Was mir auffällt, ist in der Folge Ihre Art und Weise das Paar von seiner Umwelt abzugrenzen; aus dem Blickwinkel der Systemtheorie würde das kaum anders aussehen.

A. de Botton:   Ach ja, Sie meinen die Stelle, wo ich die Auffassung vertrete, die Intimität beseitige nicht den Ich/Außenwelt-Schrägstrich, sondern sie verlege ihn nur außerhalb des Paars. Aber Sie sollten Ihren Zuhörern unbedingt empfehlen, gerade an der Stelle ein wenig zu schmökern.

Adrian:   Ja, ich glaube, ich verstehe. Der eigenwillige Humor, mit dem Sie sozusagen Ihren beiden Protagonisten erlauben, durch verfremdende Elemente und Jokes dem Verschmelzungsmagma zu entgehen, der hat was. Am besten gefällt mir die Stelle, wo beide ihre sexuellen Handlungen in eine völlige Distanziertheit kleiden: „Madame, was machen Sie da, wenn ich fragen darf, mit meinem ehrenwerten Glied?“ – „Werter Herr“, erwiderte sie dann, „das ehrenwerte Verhalten Ihres Glieds geht Sie überhaupt nichts an.“ Oder Chloe sprang aus dem Bett und sagte: „Sir, bitte verlassen Sie auf der Stelle mein Bett, Sie müssen völlig falsche Vorstellungen von mir haben; wir kennen einander kaum!“ Auf der anderen Seite fallen Sie immer wieder zurück in die Romantizismen und erweisen sich zum Beispiel als Melancholiker par excellence: „Sonntagabende hatten mich schon lange traurig gemacht – sie erinnerten an den Tod, an unerledigte Arbeiten, an Schuld und Verlust.“

A. de Botton:   Wenn Ihnen jemand in dieser Situation einen Kuss gibt und flüstert: „Du hast wieder diesen Blick des armen verirrten Waisenjungen“ – dann spüren Sie deutlich den Unterschied zwischen jemandem, dem Sie mit Ihrer melancholischen Grundhaltung auf den Wecker gehen, und jemandem, der sich auf Ihre Empfindungen einlässt, ja ihnen geradezu eine Sprache gibt und Ihr Leiden an der Welt zu lindern vermag.

Adrian:   Sie lassen Ihren Helden in dieser Situation voller Überschwang bekennen: „Das hatte noch nie jemand über meinen Gesichtsausdruck gesagt, doch als Chloe es aussprach, fand ich sogleich, dass es der konfusen Traurigkeit entsprach, die ich gerade empfand, und sie linderte. Ich empfand auf Grund dieser Bemerkung eine tiefe (und vielleicht übermäßige) Liebe zu ihr – dass sie wahrgenommen hatte, was ich empfand, selber aber nicht hätte formulieren können, dass sie bereit war, in meine Welt einzutreten und sie für mich zu objektivieren. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie den Waisenjungen daran erinnerte, dass er ein Waisenjunge war, und ihn so nach Hause holte.“

A. de Botton:   Es ging mir um die Empfindung, die wir vielleicht alle zutiefst in uns tragen. Vielleicht stimmt es, dass wir nicht wirklich existieren, bis jemand da ist, der uns existieren sieht, und dass wir nicht eigentlich sprechen können, bis jemand da ist, der versteht, was wir sagen; kurz, wir sind nicht ganz lebendig, solange wir nicht geliebt werden.

Adrian:   Andererseits lassen Sie eine Traurigkeit aufscheinen, wie sie wohl nur von erfahrenen Verliebten realisiert wird, die es schon öfter erwischt hat. Ich erinnere mich an eine Szene, wo Sie Ihren Helden aufhorchen und zu der Schlussfolgerung gelangen lassen, dass er für Chloe – wie besonders er zum gegenwärtigen Zeitpunkt für sie auch sein mochte – immer nur im Rahmen bestimmter Definitionen existierte: „Als ich Chloe von ‚diesem Typ, mit dem ich vor ein paar Jahren zusammen war’, reden hörte, wurde ich plötzlich tieftraurig: ich stellte mir vor, wie sie in ein paar Jahren (während sie über ihren Thunfischsalat hinweg einen anderen Mann anblickte) mich als ‚diesen Typ, mit dem ich vor einiger Zeit zusammen war…’ beschrieb.“

A. de Botton:   Ja, wir werden von anderen etikettiert, charakterisiert und definiert…

Adrian:   Das klingt nüchtern und ernüchtert!

A. de Botton:   Ja, meinetwegen. Unser Held stellt nüchtern fest, „dass Chloeba und ich zusammen waren, bedeutete, dass für uns, für den Augenblick zumindest, genügend Raum gelassen wurde und wir uns so ausdehnen konnten, wie es das Fließen in uns verlangte“.

Adrian:   Warum ist das Buch denn an der Stelle nicht zu Ende? Das ist doch genau der Punkt, vor dem wir Respekt haben sollten, weil wir den Respekt voreinander noch nicht verloren haben!

A. de Botton:   Das wäre doch eine unbotmäßige Verkürzung: Wir nähmen das – zumindest gegenwärtig – dominierende Merkmal einer Beziehung und würden etwas als das etikettieren, das nur ein Teil ist. Bliebe in dieser Gefühlswelt noch Raum für all die Untreue, Langeweile, Gereiztheit und Gleichgültigkeit, die sich oft mit der Liebe verknüpft finden?

Adrian:   Ach ja, die Geschichte mit Alice! Ich glaube, dass Sie da im fünfzehnten Kapitel en passent etwas ansprechen, was allen Verliebten widerfährt. Man kommt zur Besinnung, indem man registriert, dass es auch noch andere Menschen auf dieser Welt gibt, dass der Vorrat an Gemeinsamkeit – so unerschöpflich er auch scheint – begrenzt ist.

A. de Botton:   Ja, das Sehnen kann sich nicht immer und ewig auf jene richten, die wir kennen; ihre guten Eigenschaften sind längst ausgemessen und insofern fehlt ihnen das Geheimnis, nach dem unser Sehnen verlangt.

Adrian:   Lassen Sie Ihren Helden in der Eifersuchtsszene aus diesem Grund bereits eine eher „philosophische“ Haltung einnehmen? Das „typische Betrugsszenario“ definieren Sie ja durch die klassische Frage: „Wie konntest du mich mit X betrügen, wenn du doch sagst, du liebtest mich?“ Ihr Alter Ego hingegen philosophiert, dass nicht unbedingt ein Widerspruch zwischen dem Betrug und einer Liebeserklärung bestehen müsse. „Ich liebe dich“ könne immer nur bedeuten: „Ich liebe dich jetzt.“

A. de Botton:   Das ist die eine Seite. Die andere Seite gesteht sich ein, dass Chloe ja selbst kein unveränderliches Wesen ist, sondern ein ständig sich verändernder Bedeutungszusammenhang.

Adrian:   Bedeutungszusammenhang???

A. de Botton:   Pardon. Mein Held formuliert es durchaus in menschlicheren Worten: „Ich hätte ein grenzenloser Biograph sein müssen, um alle diese Wechsel zu verzeichnen, statt dessen war ich ein träges Gewohnheitstier. Erschöpfung bedeutete oftmals, den reichsten Teil von Chloes Leben – ihre Lebendigkeit unbeachtet vorbeiziehen zu lassen. Oft bemerkte ich (weil Chloe mir so vertraut geworden war) über längere Phasen hin gar nicht all die Mutationen, die durch ihren Körper gingen, oder die Linien, die sich über ihr Gesicht zogen… Die Vorstellung von ihr war jetzt etwas Gewohntes, ein festes Bild vor meinem inneren Auge.“

Adrian:   Und diese beiden gegenläufigen Entwicklungen, die auf der einen Seite die wechselseitig zunehmende Transparenz zu einer Belastung, vielleicht sogar zu einer Zumutung werden lassen und die auf der anderen Seite die Vielfalt und Buntheit der Welt wieder in den Horizont gelangen lassen, führen aus Ihrer Sicht zu dem, was Sie die „Tragödie der Liebe“ nennen?

A. de Botton:   Nun, die Tragödie der Liebe besteht darin, dass sie sich der zeitlichen Dimension nicht zu entziehen vermag. Wenn man mit einem gegenwärtig geliebten Menschen zusammen ist, empfindet man den Gedanken an die eigene Gleichgültigkeit gegenüber früheren Lieben als besondere Grausamkeit. Die Vorstellung, dass du der Person, für die du heute alles hingeben würdest, in ein paar Monaten vielleicht schon ausweichst, indem du auf die andere Straßenseite gehst, hat etwas Erschreckendes.

Adrian:   Liegt das Unbehagen nicht in der unwiderstehlichen Versuchung, alle Zeitlichkeit immer nur retrospektiv oder prospektiv denken zu wollen? Warum genügt uns nicht die Gegenwart? Wir können doch operativ ohnehin nichts und nichts anderes als die Gegenwart leben. Carpe diem!

A. de Botton:   Ein bedenkenswerter Hinweis. Mein Held jedenfalls kommt genau an diesem Punkt nachhaltig ins Grübeln: „Hatte es nicht viele Gelegenheiten gegeben, bei denen die Freuden der Gegenwart rüde übergangen worden waren, im Namen einer nicht näher zu bezeichnenden Zukunft? Liebesgeschichten, bei denen ich es, unmerklich fast, vermieden hatte, mich dieser Liebe vorbehaltlos hinzugeben, indem ich mich mit dem Unsterblichkeitsgedanken tröstete, dass es andere Liebesaffären gäbe, die ich eines Tages mit der Sorglosigkeit der Männer in den Magazinen genießen würde, künftige Lieben, die meine unglücklichen Versuche wettmachten, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, den die Geschichte zu mehr oder weniger derselben Zeit auf Erden herumwirbeln ließ?“

Adrian:   Wenn ich Ihre Weisheiten nun gewichten könnte und sozusagen allen unseren Zuhörern zurufen könnte: „Hört her, nun kommt das, was man gemeinhin ‚den Hasen im Pfeffer’ oder „des Pudels Kern’ nennt“, dann würde ich Sie mit dem folgenden Satz zitieren: „Aber die Sehnsucht nach einer Zukunft, die nie kommt, ist nur die Kernseite der Sehnsucht nach einer Zeit, die immer bereits vergangen ist.“

A. de Botton:   Einverstanden mein lieber Adrian. Ich möchte diesen Gedanken allerdings abrunden durch meine feste Überzeugung, dass die Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben, vielleicht in der Furcht vor der Erkenntnis liegt, dass dies nun womöglich die Ankunft dessen sei, worauf man ein Leben lang gewartet hat, der Furcht vor dem Verlassen der relativ geschützten Position der Vorfreude oder Erinnerung und damit vor dem stillschweigenden Eingeständnis, dass dies das einzige Leben ist, das wir aller Wahrscheinlichkeit nach (eine Intervention des Himmels ausgenommen) je leben werden.

Adrian:   Worüber sollen wir jetzt noch reden? Ach, zeigen Sie uns doch noch einmal angesichts dieses sanften „WachaufduhastaufdieserErdevermutlichnurdieseseineLeben-Appells ein paar von Ihren düsteren Seiten; immerhin zitieren Sie ja an einer Stelle Blaise Pascal mit dem larmoyanten Hinweis, dass alles Unglück der Menschen von seiner Unfähigkeit herrühre, allein in seinem Zimmer zu sitzen.

A. de Botton:   Ja, Pascal sprach sich mit diesem Hinweis dafür aus, dass die Menschen sich ihre eigenen Mittel gegen eine schwächende Abhängigkeit von allem Gesellschaftlichen schafften. Aber – so kann man ja wohl zu Recht fragen – wie ließe sich dies in der Sphäre der Liebe erreichen? Proust erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte von Mohammed II., der, als er spürte, dass er sich in eine seiner Haremsdamen verliebte, diese sogleich töten ließ, da er nicht in der geistigen Knechtschaft eines anderen Menschen leben wollte.

Adrian:   Nicht wirklich eine Handlungsoption in unserem Kulturkreis!

A. de Botton:   Nein, deshalb schwebt über jeder Liebesgeschichte die ebenso schreckliche wie unsinnige, weil nicht zu beantwortende Frage, wie sie einmal enden wird. Es ist, wie wenn wir bei voller Gesundheit und im Vollbesitz unserer Kraft unseren eigenen Tod vorzustellen versuchen – der einzige Unterschied zwischen Liebesende und Lebensende besteht darin, dass zumindest bei letzterem uns der tröstliche Gedanke gewiss ist, dass wir nach unserem Tod nicht mehr fühlen werden. Dem Liebenden winkt kein solcher Trost: Er weiß, dass das Ende der Beziehung nicht unbedingt das Ende der Liebe sein wird, und nahezu mit Sicherheit nicht das Ende des Lebens.

Adrian:   Mit den meisten meiner anderen Gesprächspartner könnte ich an dieser Stelle zu der Frage übergehen, was denn nach der Liebe kommt – das Ende, die Partnerschaft, was auch immer? Sie begnügen sich mit der Feststellung, dass es Ihren Protagonisten wieder einmal erwischt hat. Können Sie das „Nicht, nicht jetzt“, in dem sich das Ende der Verliebtheit so unmissverständlich ankündigt, so schlecht ertragen oder sind Sie tatsächlich nicht bereit, darüber nachzudenken, wie es weitergeht, wenn die Verliebtheit sich erschöpft hat?

A. de Botton:   Nicht so vorschnell – es mag vorkommen, dass Liebe auf den ersten Blick entsteht, aber sie stirbt nicht mit entsprechender Geschwindigkeit. Warum liebst du mich nicht? ist eine ebenso unmögliche Frage (wenn auch weit weniger angenehm) wie zu fragen: Warum liebst du mich?

Adrian:   Pardon, Sie meinen also, wir sind noch lange nicht zu Ende mit dem Versuch über die Liebe?

A. de Botton:   Wir sollten uns noch einmal klar machen, dass wir im Hinblick auf diese beiden Fragen auf unseren Mangel an bewusster (verführerischer) Kontrolle über die Struktur der Liebe stoßen, den Umstand, dass die Liebe uns als Geschenk dargebracht worden ist, aus Gründen, die wir nie ganz verstehen, und ohne unser Verdienst. In einem gewissen Sinne geht uns die Antwort auch gar nichts an; sie kann nichts erklären, weil wir auf der Basis ihrer Offenbarungen nicht agieren können… Um solche Fragen zu stellen, sind wir gezwungen, einerseits auf komplette Arroganz umzuschwenken, andererseits auf komplette Demut: Was habe ich getan, um Liebe zu verdienen? fragt der demütige Liebende; kann es sein, dass ich gar nichts getan habe? Was habe ich getan, dass mir Liebe versagt wird? protestiert der betrogene oder im Stich gelassene Liebende, indem er arrogant Anspruch auf den Besitz eines Geschenks erhebt, das einem niemals von irgendjemandem geschuldet wird.

Adrian:   Oh ja, ich bitte um Nachsicht. Ganz ohne Zweifel sind diese Unterscheidungen so fundamental, dass man – ohne sie sich klarzumachen – überhaupt nicht sinnvoll über solche Modi wie „Liebe“ einerseits oder „Partnerschaft“ andererseits nachzudenken vermag; einmal ganz abgesehen von dem Elend, das solche Endpunkte bzw. Übergänge für die Beteiligten oftmals bedeuten.

A. de Botton:   Ja, sobald einer der Partner das Interesse am anderen verliert, kann der andere offenbar wenig tun, um diesen Prozess aufzuhalten. Wie die Verführung wird auch der Liebesentzug erschwert durch eine Decke des Schweigens, die über einen Angelpunkt der Beziehung gebreitet wird: Ich begehre dich/Ich begehre dich nicht – in beiden Fällen braucht es oft eine Ewigkeit, die Botschaft zu artikulieren. Über den eigentlichen Zusammenbruch der Kommunikation ist schwer zu diskutieren, es sei denn, beide Seiten hätten den Wunsch, sie wiederhergestellt zu sehen.

Adrian:   An dieser Stelle scheint zumindest so etwas auf, wie die Option darüber nachzudenken, was jenseits der Liebe oder doch zumindest der Verliebtheit möglich ist; nicht so in Ihrem Versuch über die Liebe. Aber dennoch eröffnen Sie im 19. Kapitel gewissermaßen so etwas, wie eine Selbstbescheidung, die Sie als „negative Freiheit“ beschreiben.

A. de Botton:   Ja, indem ich meinen Protagonisten zu der Überzeugung bringe, zu lernen, dass Menschen in einer Beziehung negativer Freiheit zueinander stehen, verpflichtet, einander nicht zu verletzen, aber eben mit Sicherheit nicht gezwungen, einander zu lieben.

Adrian:   Das ist die Stelle, an der Sie Ihren Helden zu der Einsicht führen, dass ihn seine Wut zwar dazu berechtigt andere zu beschuldigen – Chloe, die ihn betrogen und verlassen hat –, aber verbunden mit der Erkenntnis, dass sich so etwas wie Schuld nur mit der Möglichkeit der freien Wahl verbinden lässt.

A. de Botton:   Ja, man zürnt nicht dem Affen, weil er nicht singen kann, denn seine Konstitution hat dem Affen nie die Chance gegeben, etwas anderes von sich zu geben als ein Schnauben. Ähnlich kann man einer geliebten Person nicht vorwerfen, dass sie liebt oder nicht liebt, denn das ist eine Sache jenseits ihrer Wahl und entzieht sich damit ihrer Verantwortung.

Adrian:   Sie sind zweifellos ein Meister der Zuspitzung, in der sich die Paradoxie und Ausweglosigkeit bestimmter Situationen manifestiert, die aber auch die Ausgänge sichtbar macht, die möglicherweise hilfreich sein könnten.

A. de Botton:   Sie meinen die Stelle, an der mein Held die ganze Hilflosigkeit seiner Situation offenbart? „Die Anmaßung, mit der ich wünschte, geliebt zu werden, war erst jetzt zum Vorschein gekommen, da die Liebe unerwidert blieb – ich fühlte mich allein gelassen mit meinem Begehren, schutzlos, rechtlos, jenseits des Gesetzes, schockierend grob in meinen Forderungen: Liebe mich! Und aus welchem Grund? Ich hatte nur die übliche armselige Entschuldigung: Weil ich dich liebe…“

Adrian:   Sie treiben Ihren Helden schließlich in den Selbstmord. Für meine Begriffe ist Ihnen mit dem 21. Kapitel die lebensbejahendste und verrückteste Sequenz gelungen! Wie Sie Ihren Protagonisten statt Schlaftabletten Vitamin-C-Sprudeltabletten schlucken lassen, gibt der Schilderung nicht nur etwas Komisches, sondern gibt Ihren Helden in gewisser Weise auch der Lächerlichkeit preis. Er hat mit schäumendem Mund ausgiebig Gelegenheit darüber nachzudenken, dass er nach seinem Suizid viel zu tot sein würde, um irgendein Vergnügen aus dem Melodrama seiner eigenen Auslöschung zu ziehen. Einfach brillant! Bevor wir nun das abschließende Kapitel „Liebeslehren“ kurz streifen, sollten wir noch ein wenig von der angedeuteten Leichtigkeit des Seins zurückgewinnen.

A. de Botton:   Ellipse! Ja, ein arabisches Sprichwort sagt, die Seele reise mit der Geschwindigkeit eines Kamels. Während wir von der gnadenlosen Dynamik unserer verplanten Gegenwart vorwärtsgetrieben werden, schleppt sich unsere Seele, der Wohnsitz unseres Herzens, unter der Last der Erinnerung wehmütig hinterher und wird – je nach Bedeutung der Liebeslasten – immer langsamer.

Adrian:   „Bis meine Seele schließlich das erdrückende Gewicht der Erinnerung an sie abwerfen konnte, hatte Chloe mein Kamel beinahe umgebracht.“ So stöhnt Ihr Held zu Beginn des 23. Kapitels. Er deutet aber durch die Temporalkonstruktion an, dass sein Kamel wieder flott wird.

A. de Botton:   Ja, die Ellipse schließt sich, indem das Kamel leichter und leichter wird, während es durch die Zeit wandert. Es schüttelt Erinnerungen und Fotos von seinem Rücken ab, verstreut sie auf dem Wüstenboden und überlässt sie dem Wind, der sie im Sand begräbt, und nach und nach wird das Kamel so leicht, dass es wieder traben kann und schließlich sogar wieder zu galoppieren vermag – „bis eines schönen Tages, in einer kleinen Oase, die sich Gegenwart nannte, die erschöpfte Kreatur endlich den Rest von mir einholte“.

Adrian:   Aber was geschieht nun in Ihrem letzten Kapitel? Sie nennen es „Liebeslehren“ und eröffnen mit einem erwartungsgeschwängerten Hinweis.

A. de Botton:   Klar, wir müssen doch annehmen, dass sich bestimmte Lehren aus Liebesgeschichten ziehen lassen, denn sonst fahren wir munter fort, unsere Fehler bis in alle Ewigkeit zu wiederholen.

Adrian:   „Doch was sagt die Weisheit über die Liebe? Ist sie etwas, das man ganz aufgeben sollte, wie das Kaffeetrinken oder Zigarettenrauchen, oder das gelegentlich ge-stattet ist, wie ein Glas Wein oder ein Riegel Schokolade? Steht die Liebe in direktem Gegensatz zu allem, wofür die Weisheit steht? Verlieren auch Weise den Kopf oder nur große Kinder?“ Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich den advocatus diaboli spiele und mit Ihren eigenen Worten Ihre Eröffnung konterkariere.

A. de Botton:   Pardon, lieber Adrian, aber ich benötige keinen advocatus diaboli. Lesen Sie doch weiter und schauen Sie, was ich in der ironisch-sarkastischen Szene, in der Emma Bovary auf der Therapeuten-Couch sitzt, anbiete. Wir sind alle intelligenter als wir uns zu verhalten vermögen, und die Erkenntnis, wie verrückt Liebe ist, hat noch nie jemanden vor dieser Krankheit bewahrt. Vielleicht ist die Vorstellung von einer weisen oder gänzlich schmerzlosen Liebe ebenso ein Widerspruch wie die von einer Schlacht ohne Blutvergießen.

Adrian:   Also können wir uns Ihre Ausführungen über die von Ihnen so genannten romantischen Positivisten ersparen. Sie desavouieren diese Haltung, weil Sie ihr unterstellen, mit ein bisschen Nachdenken und Therapie ließe sich die Liebe zu einer weniger schmerzlichen, ja sogar gesunden Erfahrung machen. Aber das bedeutet ja möglicherweise in der Konsequenz, sich ganz von der Liebe abzuwenden?

A. de Botton:   Zumindest lasse ich dies meinen Helden ernsthaft in Erwägung ziehen: „Pessimistisch geworden durch die schwer zu bewältigenden Liebesqualen, beschloss ich, mich ganz von der Liebe abzuwenden. Wenn romantischer Positivismus nichts half, dann bestand die einzig gültige Weisheit in dem stoischen Rat, sich nie wieder zu verlieben.“

Adrian:   Und – hat’s geholfen?

A. de Botton:   Nun, wir können immer die Augen verschließen vor den Schwierigkeiten eines Problems, indem wir nach Lösungen suchen, mit denen wir die Frage auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren. Beides, romantischer Positivismus und Stoizismus, sind unangemessene Antworten auf die Probleme, die durch die Qualen der Liebe aufgeworfen werden.

Adrian:   Das heißt, wir benötigen doch andere Antworten als die eines Stoizismus, der die Liebe letztlich negiert, oder eines romantischen Positivismus, der uns suggeriert, die Liebe sei für alle zu einer schmerzlosen Erfahrung zu machen?

A. de Botton:   Na klar, es galt – zumindest in meinem Versuch über die Liebe –, die Liebe richtig einzuschätzen, ohne sich in dogmatischen Optimismus oder Pessimismus zu flüchten, ohne eine Philosophie aus den eigenen Ängsten zu konstruieren oder eine Moral aus den eigenen Enttäuschungen abzuleiten. Und bezogen auf meinen Helden heißt das schlicht gar nichts anderes: „Wie hart er auch rang, um unverrückbare Gewissheiten zu erlangen (indem er seine Schlussfolgerungen zusammenzählte und sie in klare Reihen einbettete), die Analyse konnte nie anders als fehlerhaft sein – und daher nie weitab vom Lächerlichen umherirren.“

Adrian:   Ja und??? Was heißt das jetzt? Sie wollen uns doch wohl nicht mit dieser Weisheit in den Abend entlassen – oder?

A. de Botton:   Wie es euch gefällt! Lesen Sie doch einfach Kapitel 24, Absatz 19! Mein Held ist weit von jeder Dogmatik entfernt, er fühlt sich nach wie vor der empirisch falsifizierbaren Erfahrung verbunden: „Solche Lehren erschienen um so bedeutsamer, als Rachel meine Einladung zum Essen an einem Abend in der folgenden Woche annahm. Allein schon der Gedanke an sie sandte Erschütterungen durch die Region, welche die Dichter das Herz genannt haben, ein Beben, von dem ich wusste, dass es nur eines bedeuten konnte – es hatte mich wieder einmal erwischt.“

Adrian:   Was ist denn das jetzt? Wer ist denn RACHEL??? Und was heißt: „Es hatte mich wieder einmal erwischt“?

A. de Botton:   Denken Sie doch an den von Ihnen überaus geschätzten Roland Barthes, an seine Bejahung, und an das von ihm geforderte Wagnis; das Wagnis zu lieben!

Adrian:   Und was ist mit Ihnen? Sie hatten mir ja schon fernmündlich mitgeteilt, dass es Sie wieder einmal erwischt habe.

A. de Botton (schon im Gehen):   Ach ja, Sie wissen doch, ich kann einfach nicht nein sagen. Ich bin auf dem Weg nach Zürich. Dort beginnt morgen ein großer Kongress über die Liebe. Ich bin gespannt, was es Neues gibt! (Alain wirft Adrian ein Faltblatt zu: „Paartherapie im Fokus der Liebe“ – Universität Zürich-Zentrum, Organisation: Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jürg Willi, Institut für Ökologisch-systemische Therapie, Zürich) und meint scherzhaft: Kommen Sie doch einfach mit; Arnold Retzer und Ulrich Clement gehören zu den Hauptreferenten! Wer weiß – vielleicht ist Zürich auch für Sie eine tiefere Stadt, in der man Wunder und Weihen immer zum Inhalt hat!

Adrian (grinst und denkt für sich: „Warum eigentlich nicht!? Ich bin ein freier Mann. Soll doch Josef meinen Job hier für eine Zeit übernehmen. Dann sieht er, was er an mir hat…“):   Warten Sie Alain, ich besorge mir nur noch kurz die Hygiene-Notfallutensilien – ich glaube, man sagt hier BUKO dazu –, dann kann’s losgehen!

De Botton und Adrian steigen in das bereitstehende Taxi, das mit einem Kavalierstart in 5 1/2 Sekunden auf 100 km/h beschleunigt und dem Flughafen Hahn entgegenfliegt.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund