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Gaudeamus igitur – Studium

Ein erster kleiner Exkurs: Werde der du bist – Wissenschaftssozialisation (10)

Ich sitze hier im umgebauten und sanierten Haus meiner Schwiegereltern; der Blick auf den querterrassierten Heyerberg – inmitten von Weinbergen – signalisiert mir zumindest, dass ich angekommen bin. Es ist meine zehnte Adresse in einem Leben, für das sich im kommenden Jahr (2022) das siebte Jahrzehnt runden würde. Dorthin gelangt zu sein – an diesen Ort, erfüllt mich gleichermaßen mit Genugtuung wie mit schlichtem Unglauben. Von den Pferden, die man mir angeboten hat, und die ich bestiegen habe, bin ich nicht – zumindest nicht final – heruntergefallen. Sie haben mir treu zur Seite gestanden und bekommen bei mir ihr Gnadenbrot. Das eine hat mich durch die Welt des Berufs und der Wissenschaft getragen; das andere, dessen Zügel ich nicht immer fest in der Hand hatte, hat immer – manchmal auch ohne mein Zutun – den Weg zu den Futtertrögen gefunden. Die wenigsten von uns bleiben souverän in allen erdenklichen Lebenslagen. Dass ich nun schauen kann, hat zu tun mit einer materiellen Auskömmlichkeit. Was mir anvertraut worden ist, habe ich zumindest nicht verschleudert. Wie ich nun in die Welt zu schauen vermag, das wiederum verdankt sich einer verrückten Drift durch die Welt der Bücher und des Geistes. Wenn ich mit zunehmendem Alter und vielleicht auch zunehmender Reife die sogenannte Luhmannsche Lektion lernen durfte, bedeutet, dass mir das Herz (und auch der Kopf) sehr viel leichter ist als noch vor mehr als vierzig Jahren. Manchmal fühle ich bis heute die Versuchung, mich in der Sprache zu Hause zu fühlen, sie zumindest als Vehikel nutzen zu können, das mir sowohl Erinnerungen erlaubt als auch – immer wieder neu – die Chance eröffnet, die mir nahen Menschen meiner Liebe über den Augenblick und das konkrete Handeln hinaus zu vergewissern – am Anfang war das Wort. Und ganz gewiss – dies hat sich über all die Jahrzehnte bewahren lassen – war Sprache immer das Medium, über das ich mich von missliebigen Phänomenen oder Zeitgenossen distanzieren konnte, bis hin zur finalen Attacke (da kann auch schon einmal die Frage auftauchen und auf Beantwortung drängen, ob Alexander Gauland  und Björn Höcke Drecksäue sind, und ob man mit einer solchen Annahme sus scofra – den Wildschweinen – nicht zu nahe treten würde.

Ganz behutsam habe ich dann mit der Zeit die Seiten gewechselt, weil ich Norbert Bolz folge, wenn er bemerkt, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen: „Man denke nur an den Ehestreit. Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu strukturieren. Auch reicht der Bezug auf die Sprache nicht aus, um die Stiftung von Sinn zu begreifen. Luhmann versteht Sprache deshalb ‚nur‘ als Variationsmechanismus, also in Sprache mutiert Gesellschaft. Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit“, darum gehe der Streit zwischen Luhmann und Habermas (40).

Der Seitenwechsel:

1986 – vor 44 Jahren – habe ich meine Dissertation veröffentlicht. Die wissenschaftstheoretischen Kernaussagen hatten Bekenntnischarakter – zumindest war ich selber fest davon überzeugt. Mit einem offenen Bekenntnis wäre ich ganz sicher auf den Widerstand meiner Betreuer gestoßen (Prof. Dr. Heino Kaack und seinerzeit von PD Dr. Ulrich Sarcinelli). Wenn ich nun eine längere Passage wiedergebe, verblüfft mich vor allem, wie sehr ich mich heute mit der seinerzeit als kritikwürdig betrachteten Position Luhmanns identifiziere und die kritischen Vorbehalte Habermasens für mich relativiert habe. Ja, auch damals ging es schon um die wissenschaftstheoretischen Giganten Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Es ist im Übrigen frappierend und erhellend, wenn man die folgende Passage im Kontext der Covid19-geschuldeten Politik liest – insbesondere mit Blick auf die Debatte um die Einschränkungen von Grundrechten (Dissertation, S. 100ff.):

„Die Kernaussage Luhmanns impliziert – sozialisationstheoretisch gewendet – einen Sozialisationstyp, der ein nahezu motivloses, selbstverständliches Akzeptieren bindender Entscheidungen soweit verinnerlicht hat, dass – wie Easton/Dennis formulieren – ein funktionaler Handlungsspielraum des politischen Systems durch einen ‚diffuse support‘ seitens der Bevölkerung gewährleistet ist …] In gewisser Weise – so Luhmann – ist ‚Opportunismus bestandswesentlich geworden, denn Werte können nicht mehr durch sture Rangprioritäten festgelegt werden. Dem entspricht die Bedeutung von kognitiven Wertstrukturen, die auf der Grundlage abstrakter Grundhypothesen (z.B. die Verteilung sozialer Chancen und Positionen erfolgt in dieser Gesellschaft nach gerechten Kriterien = Leistung) relativ enttäuschungsfest sind.“ Weiterhin ist die Rede von einer „effektiven Systemintegration, die – zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften – unauflöslich an eine komplementäre funktionale Sozialintegration“ gebunden ist. Und nun einmal genau hinschauen und – jetzt in der zweiten Februarhälfte 2021 beobachten, was sich nach einem Jahr Pandemiedruck und –erfahrung möglicherweise verändert: „Das heißt, die Voraussetzungen für eine effektive Systemintegration (Regierbarkeit) sind voraussichtlich in dem Maße gegeben, wie der einzelne bzw. die Masse der Bevölkerung z.B.

  • den Staat als Rechtsstaat bewertet, in dem politische Entscheidungen durch legitimierte Gremien zustande kommen;
  • glaubt, seine/ihre Interessen – zumindest überwiegend – in einer wählbaren Partei vertreten zu sehen;
  • davon ausgeht, durch politische und wissenschaftliche Eliten (rationale) Problemlösungsstrategien angeboten zu bekommen, die er durch seine Wahlentscheidungen beeinflussen kann;
  • davon ausgeht, das politische System sei 1. in seinen politischen Eliten glaubhaft und identifikationsfähig, 2. auf der Problemlösungsebene effizient und 3. In seinen Leistungen bzw. Entscheidungen sozial und gerecht.

Jürgen Habermas geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass ‚im Publikum der Staatsbürger‘ die gebrauchswertorientierten – und das heißt: an Erfolg kontrollierbaren Erwartungen zunehmen. Das steigende Anspruchsniveau verhalte sich zum wachsenden Legitimationsbedarf proportional: die fiskalisch abgeschöpfte Ressource ‚Wert‘ müsse die knappe Ressource ‚Sinn‘ substituieren. ‚Fehlende Legitimationen müssen durch systemkonforme Entschädigungen ausgeglichen werden. Eine Legitimationskrise entsteht, sobald die Ansprüche schneller steigen, als die disponible Wertmasse, oder wenn Erwartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen nicht mehr befriedigt werden können.‘ Diesem Bedürfnistyp entspricht eine politisch abstrakte Grundhaltung, verbunden mit einer überwiegend privatistischen Karriere-, Freizeit- und Konsumorientierung. Habermas hat den zugrundeliegenden Einstellungskomplex in den zwei Syndromen des ‚staatsbürgerlichen und familial-beruflichen Privatismus‘ zusammengefasst.“

Im Februar 2021 gewinnt man den Eindruck, dass sich das gesellschaftliche System – im Zusammenspiel seiner Subsysteme – auf einen Kipppunkt zubewegt. Erstaunlich waren bislang die Akzeptanzwerte zum politischen Krisenmanagement, so dass man Jürgen Habermas weitgehend entgegenhalten kann, dass es selbst angesichts der drastischen Einschränkungen über die letzten 12 Monate nicht wirklich zu einer nachhaltigen Legitimationskrise gekommen ist, etwas worauf die AfD in überlebensgieriger Haltung wartet. Spannend in diesem Mega-Wahl-Jahr wird nunmehr sein, inwieweit die oben genannten Kriterien für eine über das politische System gewährleistete Systemintegration weiterhin Bestand haben! Erosionserscheinungen lassen sich deutlich erkennen mit Blick auf das Impfdesaster sowie mit Blick auf erkennbare Kommunikationsdefizite hinsichtlich der sogenannten Inzidenzwerte (50 bzw. 35 pro 100.000) und die damit nach wie vor begründeten Einschränkungen.

Aber eigentlich wollte ich ja nur verdeutlichen, wie ich behutsam von der einen Seite (Jürgen Habermas) zur anderen Seite (Niklas Luhmann) geraten bin – hierzu ein Zitat, mit dem ich die Festschrift zu meinem Berufsausstieg 2017 eingeleitet habe:

„Denn es geht hier (bei vielen privaten und öffentlichen Konflikten, Anm. Verf.), möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

Der neuerliche Versuch, den eigenen Spuren zu folgen und wortschöpfend jene Erinnerungs- und Reflexionsinseln einzudeichen, die sich vordrängen und die man aufspüren muss/will, soll zeigen inwieweit man aus der von mir als Luhmannsche Lektion bezeichneten Einsicht, Gewinn ziehen kann. Mit Blick auf mein Vorhaben bedeutet dies nichts anderes, als durch einen zweiten und dritten Blick vorschnelle Urteile und Bewertungen zu vermeiden.

Welche Wege hat man denn gewählt bzw. welche Wege haben sich denn angeboten oder gar aufgenötigt, um die Luhmannsche Lektion für sich annehmen zu können? Katholisch, vom Lande, aber ein Junge – vielleicht war letztere Variable in den 50er und 60er Jahren doch noch der entscheidende Unterschied, der beispielsweise die Wege meiner Cousine Gaby – ca. sechs Stunden älter als ich – und meine Wege Mitte der sechziger Jahre aus dem Gleichschritt gebracht hat? Sie hatte mich ja noch motiviert – orientierungslos, wie ich war – gemeinsam mit ihr nach der Volksschule in Bonn eine Private Handelsschule (Dr. Köster) zu besuchen. Der Hinweis ist ja bereits erfolgt, wie sehr ich mich dort deplatziert gefühlt und letztlich gequält habe. Erwähnenswert sind lediglich meine Fingerfertigkeit an der Schreibmaschine/Tastatur, und dass ich eine Zeit lang die Schulbank mit Hannes Bongartz gedrückt habe. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, wie ich auf die Werbekampagne des Aufbau-Gymnasiums in Bad Neuenahr – meiner Heimatstadt – aufmerksam geworden bin. Jedenfalls habe ich mich aus eigenem Entschluss für die Aufnahmeprüfung angemeldet und diese Prüfung auch bestanden. Wenn ich versuche mir die Frage zu beantworten, welches Selbstbild denn hier zugrunde lag, dann lohnt ein Blick zurück in die Volksschule. Ich war zuletzt – in der Klassenstufe 7/8 ein guter Volksschüler. Die Leistungsanforderungen und die Arbeitshaltung, die dort erwartet wurde, entsprachen fast zur Gänze meinem Persönlichkeitsnaturell. Natürlich müsste ich hier andere befragen. Aber ich werde kommenden Sonntag 69 Jahre alt, und ich kenne viele Geschichten über mich, auf die ich hier zurückgreifen werde.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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