Demenztagebuch vom 2.7.2007-13.7.2007
Vorbemerkung:
Inzwischen, nach den ersten Eintragungen ist mir die Klemme allerdings mächtig bewusst, in die ich mich - insbesondere auch bei dem auf Leo, meinen Schwiegervater - bezogenen Demenztagebuch hineinbegebe. Naturgemäß - da es ein finales Tagebuch ist - verschiebt sich der Fokus gewissermaßen hin zu einem Pol, den ich Thanatos-Pol nennen möchte. Es endet mit dem Tod Leos, aber nicht mit meinem! Auszuhalten, zu gestalten war dieser gesamte Prozess im Rückblick durch den Spannungsraum, der auf der anderen Seite durch einen Pol aufgespannt wurde, den ich Eros-Pol nennen möchte. Parellel zur finalen Begleitung meines Schwiegervaters vollzogen sich im komplexen System so viele Prozesse, ohne die ein Zusammenbruch, eine Resignation angesichts des finalen Charakters der liebevollen Fürsorge und Pflege vermutlich unabwendbar gewesen wäre. Bios wird durch Eros erst zu jener Qualität, die der anderen durch Thanotos repräsentierten Seite einen vitalen Egoismus - möglicherweise bis hin zur Egomanie entgegenhalten kann. Ich werde dies wohl nur in einer verfremdenden literarischen Aufarbeitung angehen können, denn es gibt ja den Diskretionsvorbehalt à la Sloterdijk: Diskret ist wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll! Sanfte Andeutungen hingegen gestatte ich mir.
Demenztagebuch 2.7.2007:
Eine gute Viertelstunde schreiben wir noch den 2. Juli, dann beginnt der 3. Juli. Es wäre der 83ste Geburtstag von Mama gewesen. Vor 83 Jahren ist sie geboren worden, am 27.72003 ist sie gestorben, drei Wochen, nachdem sie ihren 79sten Geburtstag noch mit uns gefeiert hat.
Demenztagebuch 3.7.2007:
Seit langer Zeit sitze ich noch einmal an eurem Grab - heute am 3.7., an dem du, Mama, 83 Jahre alt würdest. Ich komme von Tante Agnes (Schwester meines Vaters und Schwägerin meiner Mutter) und Onkel Günter, die ich nach mehr als einem Jahr wiedergesehen habe. Tante Agnes wird nächste Woche 83. Zu Willis 13. Todestag am 21.6. habe ich es nicht mehr geschafft, und auch heute bin ich eher beiläufig hier. Ich halte es wohl mit Papas Grundsatz mich eher um die Lebenden zu kümmern. An euch denke ich oft. Und jetzt fängt es an zu regnen und die Schrift nimmt Schaden.
Demenztagebuch 7.7.2007:
Frank war "schon wieder da". "Bist du schon wieder da?" hatte Laura ihn wohl beim letzten Mal begrüßt. Frank fühlt sich bei uns wohl. Vor allem ist eine positive (Aus-)Wirkung bei Claudia festzustellen. Immerhin haben die beiden schon zwei Mal bis zur Morgendämmerung gesoffen. Frank - das habe ich ja schon mehrfach erwähnt - schätzt Claudia sehr. Er erliegt immer noch und immer wieder Claudias besonderer Art - ich kann's verstehen. Insbesondere kann ich es verstehen, weil ich Claudia verändert erlebe. Gestern Abend habe ich ihr gesagt, das würden wir beide alleine nciht mehr hinkriegen: Bis zum Morgengrauen (im Hochsommer!) in der Küche sitzen und zu saufen. Dafür sind uns unsere Gesichter zu langweilig geworden, obwohl du, Claudia mit deinen fast 51 Jahren ein besonders hübsches und schönes, manchmal auch aufregendes Gesicht hast (ist mit fast 60 noch genauso!). Aber zweifellos hat mir der Frank gegenüber gegenwärtig einen großen Vorteil: Ein aufregendes, neues, jedenfalls gemessen an Alltagserfahrungen, unverbrauchtes, aufregendes Gesicht.
Demenztagebuch 13.7.2007:
Laura hat heute endlich ihre Führerscheinprüfung abgeschlossen. Auf dem Heyerberg ging heute Abend der Punk ab. Lisa hat sich vorgestern bei einem nächtlichen Toilettengang mit Leo wieder einmal eine Venenprellung zugezogen - sie ist da superempfindlich. Die rechte Hand ist angeschwollen, sie gibt an, ziemliche Schmerzen zu haben. Aus trivialen Aktionen machen die beiden inzwischen Machtkämpfe: Anstatt - so wie früher - seine ausgewiesene Kompetenz im Pillenschlucken auszuüben, zerkaut er die "Baldrian-Nacht" in einem endlos erscheinenden Ritual. Lisa flippt dann aus und macht aus dieser Geschichte dann den Angelpunkt ihrer eng und klein gewordenen Welt.
Heute Abend bin ich unfreiwilliger Zeuge dieses Exzesses geworden. Im Foyer musste ich mitanhören, wie Lisa Leo attackierte, jammerte, ihm ihre Schmerzen vorhielt (die sie ja ursächlich durch ihn zu erleiden habe), ihm drohte wegzugehen, weil sie mit ihm nicht mehr zusammenleben könne. Erst als ich das Wohnzimmer betrat, ließ sie von ihm ab, teilte mir aber mit, er sei ein Bock und ärgere sie ganz bewusst und boshaft. In der Tat zerkaute und atomisierte Leo seine Baldrian in aller Seelenruhe und in stoischer Haltung, signalisierte durch seine Körpersprache Hilflosigkeit und Unverständnis. Andererseits lachte er aufgrund der Vorhaltungen Lisas und brachte sie noch mehr in Rage. Er verstehe sie doch ganz genau und sei ein elender Bock. Ansatzweise konnte ich das nachvollziehen (obwohl es scheißegal ist, ob er die Baldiran-Pille, schluckt, lutscht oder kaut!!!). Betroffen war ich, weil Lisas Jammern doch eindringlich war und immer wieder darauf hinaus lief, dass sie nicht mehr könnte.
Aktueller Eintrag:
An dieser Stelle sei aktuell eingefügt, wie eminent wichtig auch die inzwischen wirksamen Inkonsistenzbereinigungsprogramme à la Luhmann sind, indem sie Lisa im Alter von inzwischen 92 Jahren davor bewahren, auch jetzt noch diese alten konflikthaften, bitteren Erfahrungen zu aktualisieren. Sie hat sie schlicht vergessen, und ich sage: gut so! Warum sollten wir sie nicht vergessen? Weil wir erst ins Alter, ins hohe Alter voranschreiten - sofern uns die Gnade zuteil wird, die statistische Lebenserwartung zu bedienen. Und da hilft das voreilige Vergessen und Verdrängen wenig bis gar nicht!
Es ist ein schweres, schweres Los, selbst in hohem Alter, nach wie vor jeden Tag konfrontiert zu sein mit dem geistigen Verfall und einer vermuteten Obstruktion des Partners, mit dem man offensichtliche noch jede Menge Rechnungen offen hat. Leo seinerseits zeigt Unmut, beugt sich nur widerwillig dem von Lisa oktroyierten Rhythmus. Er kann sich zwar (verbal) nicht mehr verständlich artikulieren, zeigt aber in bestimmten Situationen seinen Widerwillen. Die sinnträchtigen Handlungen reduzieren sich auf seine Sorge um die beiden Ringe (Verbindungsring und "Apolls" Geschenk an ihn); Weise existiert kein Ehering mehr. Tagsüber trägt Leo die beiden Ringe, abends vor dem Zu-Bett-Gehen müssen sie sorgfältig in die Schmuckschatullen verbracht werden!. Zum abendlichen Ritual - vor dem Anlegen der Nacht-Windel, gehört der Gang auf die Toilette. Meist geht eine Menge Luft ab, ein wenig Stuhlgang, selten jedoch kann er pinkeln. So gerät die Nachtwindel immer wieder an den Rand ihres Fassungsvermögens. Leos Weg kann sich noch hinziehen, er hat sich physisch auf erstaunlichem Niveau stabilisiert - Sorge muss uns zunehmend die extreme Belastung von Lisa machen. Eine große Hilfe ist und bleibt Katayzina, unsere Pflegehilfe aus Polen. Wir sind also in einer stabilen Schwebesituation und wissen nicht, wie die nächste Woche, der nächste Monat, das nächste Jahr aussehen wird.
Aktueller Eintrag:
Am vergangenen Freitag (11.12.2015) ist meine Schwiegermutter in meinem Beisein hingefallen und hat sich den Oberschenkelhals am linken Bein gebrochen. Es ist das eingetreten, was ich immer befürchtet habe und was ich auch aus der eigenen Familie kenne: Das Stürzen mit fatalen Folgen. Lisa hatte ich an diesem späten Nachmittag noch eine Freude machen wollen - mit einem Stück Christstollen. Alles war gut. Die Tagespost hatte sie auf dem Esszimmertisch bereit gelegt. Ich hatte sie gebeten sitzen zu bleiben. Der Fernseher lief; alles war gut. Ich habe den Sturz und den Schrei gehört und sekündlich war mir klar: Das kann nur der Oberschenkelhals sein. Ich habe sie in eine stabile Seitenlage gebracht, sofort die 112 gewählt. Eine dreiviertel Stunde später war der Rettungsdienst vor Ort. Lisa ist noch am selben Abend operiert worden. Sie hat die Operation selbst gut überstanden, liegt jetzt im Brüder-Krankenhaus. Nun beginnt eine neue Phase. Wenn alles gut geht, wird sie vor Weihnachten entlassen - wir müssen wohl eine Kurzzeitpflege organisieren und danach schauen, wie es weitergeht. Die lange - seit 2010, nach Leos Tod andauernde Phase eines eigenständigen Lebens mit unserer Unterstützung auf dem Heyerberg ist vorbei! Wir sehen, der Versuch ein "Demenztagebuch" zu installieren, gelingt nur unter Einbeziehung der Aktualität. Im wesentlichen werde ich aber meinen Tagebuchaufzeichnungen folgen.