Für Willi - am 12.11.2024
Na klar würden w i r heut feiern – 69 – eine Schnapszahl, ineinander verdreht und magisch - für Willi allemal:
Willi hätte gestern vermutlich schon gefeiert, ne Karnevalsjeck am 11.11. – hinein in den 12.11., seinen 69sten Geburtstag.
So aber gibt es nichts zu feiern, und die Erinnerung schmerzt und beglückt gleichermaßen. Sie gilt ja dem, den wir gehabt haben und dem, den wir nicht mehr haben. Will sie uns mahnen?
Sorgt Euch – nicht nur um Euch, vor allem um die, die uns anvertraut sind?
Ach Quatsch: Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. (Mt 10,29)
Das hätte Willi gefallen! Unser Willi war ja kein Sammler – er war ein Flieger über den Wolken und sein Sturz war bodenlos – hoffentlich nicht ohne seinen Vater?!
Wäre er heute unter uns, so würde er feiern und sich grämen gleichermaßen? Auch für ihn wäre die große Welt in Unordnung und kämpfen würde er für ein bisschen Ordnung in seiner kleinen Welt?!
Ich lebe ja noch – und wie ich älter werde und fühle, dass der Segen meiner Ahnen über mir liegt – mich immer begleitet hat, rufe ich heute meinen Kindern und Kindeskindern zu: Sorget Euch nicht, Ihr seid gesegnet.
So würde es mein Bruder gleichfalls tun – mit seinem großen Herzen und seiner Tatkraft; auch gegen Windmühlen, wie seinerzeit Don Quichotte.
»Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden! « Das hat er uns am 21. Juni 1994 zugerufen - Jahre später hat mich seine Botschaft erreicht.
Weise wären wir beide heute - weise und alt (genug) - und klug!?
Aber ist es nicht auch so, dass der Willi (und sein Bruder) Traumwandler waren - weder realitäts- noch lebenstüchtig - mitten im Leben? Ja, auch das ist eine Wahrheit! Und viele, die nach uns kommen, müssen einen langen Weg gehen, bis sie alt, klug und weise werden - über sieben Brücken und harte Steine. Und man kann ihnen nur wünschen, dass all die bedeutsamen anderen da sind und sie begleiten.
Lieber Willi, Du warst da - 1997. Du hast mich begleitet. Du hast zu mir gesprochen durch die Stimme Deiner alten Weggefährtin Claudia aus Kempten (am Gumpen). Dafür danke ich Dir. In den düstersten Stunden meines Lebens (nach dem 21. Juni 1994) warst Du da und hast mir ins Gewissen geredet, sanft und ohne Druck. Das weiche Wasser hat geformt den harten Stein.
So steh ich heute da, kein Tor und klüger als zuvor - für mich allein, und doch nicht ganz allein? Es geht Dir gut? So vieles hat sich durch Dich und mich geformt:
Neun Jahre nach Deinem letzten Flug warst Du bei mir und unserer Mama - gemeinsam mit unserer Schwester und hast uns zugerufen: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!« Das können vielleicht jene nicht sehen, die nur die harten Steine sehen und nicht das weiche Wasser?
Du hast mich noch mehr gelehrt:
- Dass wir unser Leben leben müssen - ganz. Dass wir unsere eigenen Fehler machen müssen - aus den Fehlern anderer können wir nicht lernen!
- Dass wir hoffen dürfen - ganz für uns; aber auch für andere.
- Dass wir bei uns bleiben müssen - ganz bei uns; auch wenn wir den Segen der Toten erhoffen und erbitten.
- Dass wir noch ein bisschen leben dürfen/müssen, bevor auch wir - klug geworden (hoffentlich) die Seiten wechseln.
Bei meinen kleinen Toden, wenn ich abends die Augen schließe und mich den Bildern überlasse, die tief in mir lebendig bleiben, weiß ich schon, was dieser Seitenwechsel bedeutet - dann verschmelzen Vergangenheit und Zukunft zu einem schwarzen Loch - Sein und Seiendes gehen ineinander auf, bevor ein neuer Morgen kündet von der Last und Lust des Lebens - das a in: L a s t wandelt sich zum u in L u s t, wenn wir uns öffnen, uns erinnern, erzählen und das lähmende don't ask - don't tell in seine Schranken weisen:
Die Welt kommt zu uns (manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.
Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.
(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)
Danach - und manchmal auch zuvor -
hilft dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.
Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!
Wenn’s jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -
und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!
Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,
so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)
*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320