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Arno Frank und Erich Kästner: Wie kann das sein?

Sehr geehrte Leserbrief-Redaktion,

nachstehend mein Leserbrief zu Arno Frank: Wenn der Faschismus plötzlich an meine Tür klopft (SPIEGEL 40/25, S.100-102):

Ich habe nur eine zustimmende Randbemerkung (und ein Gedicht): Arno Frank, Du irrst Dich, wenn Du meinst, "Ginsterburg" und dieser grandiose Essay, der uns allen noch einmal die Leviten liest, würde nichts ändern. Wir brauchen Kerle wie Dich, die ihr Wissen und ihre Bildung mit dem Vermögen verbinden zu einer knallharten Ansprache, um einer kollektiven Intelligenzhemmung vorzubeugen, solange es noch nicht zu spät ist!

Erich Kästner: Wie kann das sein?

Wie kann das sein?
Mein Kopf sagt nein!
Mein Herz will schrein!
Wir sind die Enkel jener Schinder,
deren widerlichster sprach: zuerst die Kinder!

In Posen nahm er* sie beim Wort        *Heinrich Himmler
und sprach von Anstand vor den Schloten;
sie schufen jenen Ort,
belebt von Henkern und von Toten.
Sie hielten sich daran und töteten (zuerst) die Kinder!

Die Herrenrasse sagt: der Freund! - der Feind!
Und Carl der Schmitt* ermuntert sie, das Fremde auszumerzen.      *Kronjurist der Nazis
Der Herrenmensch marschiert im Wahn vereint
enthemmt, bar jeder Regung noch im Herzen.
Er mordet, was im Wege steht und tötet immer auch die Kinder - (zu allerst) die Kinder!

Und Schinder wachsen nach – aus Blubo und aus BrauSi*     *Blut, Boden, Brauchtum und Sippe)
Der Abschaum pflanzt sich fort, gebiert den Bastard,
der tackert sich die Ahnentafel auf die Stirn;
hat ne Kloacke dort, wo andre haben Hirn.
Wer glaubt, dass die mal waren Kinder?

Nie wieder! Wer versteht das nicht?
Spricht RvW* doch von Befreiung!     *Richard von Weizsäcker           
Und Willy Brandt kniet nieder und bittet um Verzeihung;                                         
bekennt sich zu den Grenzen – zum Gewaltverzicht!
Wie kommen BluBo, BrauSi in das Hirn verführter Kinder?

Wenden wir’s mal kämpferisch mit Erich Kästner!
Der dichtete – bevor die Erste Republik zusammenbrach – das Marschliedchen.
Und irrte sich fatal, der Kästner Erich!
Denn die SS marschierte bis nach Stalingrad und Auschwitz hörte ihre Liedchen.

Wir machen's besser – ein Ruck geht durch die Republik.
Nie wieder? Ja, das ist wohl heute, wir machen es publik!
Wir hören noch den Kästner rufen – nach über neunzig Jahren
und sind uns sicher, dass wir wachsam und auch klüger waren!

 

Nur drei Zeilen für einen Leserbrief? Ja, aber auch ein Gedicht. Und in der Folge darüber hinaus eine Würdigung des Essays von Arno Frank, der einleitend bemerkt: "Wenn der Faschismus plötzlich an meine Tür klopft - Essay Ich habe einen Roman über gewöhnliche Menschen geschrieben, die nach 1933 der Barbarei verfielen. Nun begegne ich ihnen wieder - in der Realität."

Enkel hüten. lesen, schreiben, essen, schlafen - eigentlich passiert es selten, dass ein wortgewaltiger Autor wie Arno Frank von meinen Suchscheinwerfern nicht erfasst wird. Aber man benötigt eher einen feinfühligen Seismographen, um die erste Begegnung mit ihm nicht zu verpassen:

"Ein Schriftsteller sucht nach einer Antwort auf die Frage von Bertolt Brecht: "Wo waren all die guten Menschen, als ihre Nachbarn in den Tod gingen?" Fünf Jahre wühlte er sich durch das, was Margarete Mitscherlich >eine unheheure Anhäufung von Inhumanität< und Helmut Schmidt die >Scheiße des Faschismus< genannt hat. Es stellt sich heraus, dass die guten Menschen leider oft verhindert waren. Im Lichtspielhaus. In der Oper. Im Alltag. Umso größer der Stein, der ihm nach der Abgabe des Manuskripts vom Herzen fällt. Erledigt. Erleichtert blickt er seinem Buch nach der Veröffentlichung hinterher, eine Flaschenpost mit ungewissem Ziel. Vorbei. Denkt jedenfalls der Schriftsteller - und irrt. Denn plötzlich erscheint, worüber er geschrieben hat, wieder im Rückspiegel, tippt ihm von hinten auf die Schulter, steht in der Zeitung, klopft an die Tür wie ein vergessener Schulkamerad: >Hey, erkennst du mich nicht? Ich bin's wieder der Faschismus! Kommraus, wir spielen!"

Ja, der Schriftsteller heißt Arno Frank und sein Roman "Ginsterburg". Die Erzählung - so Arno Frank -, "führt ihn mitten hinein in das abschüssige Gesellschaftsgelände, auf dem ab 1933 ein ganzes Land in den Abgrund der Barbarei gerutscht ist. Hier gibt es kein Entrinnen von einer Gegenwart, die der Vergangenheit immer ähnlicher wird."

Lieber Arno Frank, das illustre Ensemble an Figuren, die Du mit Ginsterburg hinein in den Faschismus begleitest, beginnt bei uns. Und die Antwort darauf, warum vielleicht Du (1971 Geborener) und ich (1952 Geborener) heute so schreiben (können), wie wir schreiben, hat Stefan Slupetzky in seinem Roman Der letzte große Trost gegeben. Da sagt der Vater zum Sohn im Rückblick auf die Scheiße des Faschismus:

"Wer weiß? Ich lebe seit fast vierzig Jahren in Frieden, du seit über zwanzig. Welche Bestien - oder Engel - in uns schlummern, hat sich nie gezeigt. Wir sind im besten Fall Chronisten, die behaupten, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Aber sind wir wirklich bessere Menschen, nur weil uns die Zeit, in der wir leben, besser aussehen lässt?"

Wo beginnen wir? Nehmen wir einmal Deine persönliche Auslassung auf Seite 101. Da schreibst Du:

"Aufgewachsen bin ich bei meinen Großeltern, mit >Landser<-Heftchen vom Kiosk für eine Mark und Heinkel-Bombern aus Plastik zum zusammenbauen."

Nachdem ich Deinen Wikipedia-Eintrag durchgelesen habe, staune ich - Jahrgang 1971. Ich war der festen Überzeugung, dass sich die Landser-Heftchen spätestens mit den beginnenden 70er Jahren erledigt hätten, also der Zeit in der allenfalls Deine Windeln braune Spuren hinterlassen haben?!!! Denn mit den Landser-Heftchen bin ich aufgewachsen (Jahrgang 1952) - mein Neffe (Jahrgang 1962) schon nicht mehr. Schule - der Besuch eines Aufbaugymnasiums - und Studium haben dann entschieden dazu beigetragen, dass viele meiner Generation besser ausgesehen haben als unserer Eltern und Großeltern. An denen habe ich mich freilich abgearbeitet: mit den kohortenbedingten Unterschieden; mit Blick auf die unterschiedlichen Ausgangslagen, in denen der Faschismus nicht nur im Rückspiegel erschienen ist, sondern mit Einberufungsbefehlen an den Türen soeben erst der Kindheit entwachsener Jugendlicher geklopft hat.

Ich respektiere im Übrigen Helmut Schmidt, wobei meine jahrzehntelange Mitgliedschaft in der SPD eher durch Leitfiguren wie Kurt Schumacher und Willy Brandt motiviert waren. Die wirkliche Scheiße des Faschismus ist für viele - auch für Helmut Schmidt - ein ex-post-factum-Phänomen:

Im Wikipedia-Beitrag zu Helmut Schmidt ist zu lesen, >er habe in der NS-Zeit eine „innere Gegnerschaft“ zum Nationalsozialismus vertreten. Ein Vorgesetzter beurteilte ihn am 1. Februar 1942 anders: „Steht auf dem Boden der nat. soz. Weltanschauung und versteht es, dieses Gedankengut weiterzugeben.“ Auch in anderen Beurteilungen wurde ihm eine „einwandfreie nationalsozialistische Haltung“ (10. September 1943) bzw. „Nationalsozialistische Haltung tadelfrei“ (18. September 1944) bescheinigt.[15][16] In der Gesprächssendung Menschen bei Maischberger (28./29. April 2015) sagte Schmidt dazu, es sei üblich gewesen, dass Kommandeure ohne Rücksicht auf die tatsächliche Gesinnung des Soldaten Gefälligkeitszeugnisse ausstellten. Ernst genommen habe diese weder der Beurteiler noch der Beurteilte.<

 

Uwe Timm (*1940) stellt Fragen in: Am Beispiel meines Bruders , Jg. 1924 (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003):

Mehrfach stellt Uwe Timm die Frage: "Wie sah der Bruder sich selbst? Welche Empfindungen hatte er? Erkannte er etwas wie Täterschaft, Schuldigwerden, Unrecht? (S. 91) Und vor allem: "Was würde der Bruder, hätte er überlebt, zu diesem Buch Ganz normale Männer  (von Christopher Browning) sagen? Wie würde er sich zu seiner Militärzeit stellen? Wäre er Mitglied in einem der Kameradschaftsverbände der SS? Was würde er sagen, wenn er heute diesen Satz lesen würde: 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG? (S. 154)

Wir - die Nachgeborenen - sollten dies alles bedenken, wenn wir uns die Frage beantworten, wie sich "unsere eigentümliche Teilnahslosigkeit angesichts der allgemeinen Drift ins Autoritäre" erklärt?

Du schreibst: "Hier brökelt es, dort zeigen sich Risse, überall wird gerüttelt - und doch verfolgen wir die systematische Demontage unserer Demokratie mit schläfrigem Kopfschütteln, mit braver Hoffnung auf einen guten Ausgang." Nein, der Totalitarismus ist kein Virus, wie Denis de Rougemont meinte. In Deutschland hat er nach wie vor eher mit einer kollektiven Intelligenzhemmung zu tun, der sich bedenklicherweise bei der letzten Bundestagswahl ein Fünftel der Wählerschaft nicht bereit war zu entblöden. Aber immerhin: Da ist noch nichts verloren!

Und solange es aufmerksame, wortgewaltige Beobachter gibt, wie Arno Frank, werden wir niemandem gestatten zu einer resignativen Haltung überzugehen, in der der Erfinder von Ginsterburg meint annehmen zu können: ">Ginsterburg< ändert nichts, auch dieser Artikel nicht, die Worte zerbröseln mir schon beim Schreiben." Es reicht, wenn ich in der eigenen Familie hinnehmen muss, dass man das Schweigen der Wortnahme vorzieht. Da teile ich ganz und gar die Auffassung des kämpferischen Arno Frank, der der Aufforderung des schulterklopfenden Schulkamerad Faschismus widersteht: "Komm raus, wir spielen." Und Arno Frank traut sich dann auch nicht nur zu denken, dass Charlie Kirk für die MAGA-Bewegung das wird, was der getötete SA-Mann Horst Wessel für die NS-Bewegung war, sondern er gibt uns genau das zu bedenken:

"Darf ich mich darüber wundern, dass überhaupt wieder irgendwelche >Bewegungen< politische Parteien ersetzen und zersetzen? Darf ich zur Kenntnis nehmen, wer der Tragödie, die gerade als Farce wiederkehrt, auch hierzulande bereits applaudiert? Natürlich darf ich das. Nur schreiben sollte ich es womöglich nicht, sonst setzt mir der neurechte Zeitgeist seine virtuellen Harpyien (Greifvögel mit den größten Krallen) auf den Hals. Oder ich bekomme kein Visum mehr für die USA."

Gemeinsam mit Harald Welzer möchte ich Arno Frank dann auch letztlich zu folgender Annahme einladen, wobei wir bedenken sollten, dass Harald Welzers: Nachruf auf mich selbst auch schon gut vier Jahre alt ist (Fischer Verlag, Frankfurt 2021). Er schreibt auf den Seiten 336f. - und das ist einstweilen ein gutes Schlusswort:

"Die Rettung der Welt ist nichts, was in die Macht einzelner Menschen gestellt ist. Punkt. Held ist man nicht, wenn man Bus fährt. Nicht mal Klimaheld. Punkt. Und mut braucht man in einem demokratischen Rechtsstaat für nichts. Punkt. Mut, um mal dabei zu bleiben, braucht man, wenn man in Belarus oder Myanmar auf die Straße geht, um für Freiheit und Demokratie einzutreten und dafür Gefängnis, Folter und Tod riskiert. Nicht, wenn man in der Bundesrepublik auf eine Demo geht oder einer NGO beitritt. Das ist eine folkloristische Überhöhung demokratischer Rechte und Pflichten. Otl Aicher, Freund von Hans und Sophie Scholl, hat in seinem autobiographischen Bericht >Innenseiten des Krieges< darauf hingewiesen, wer und was unter Bedingungen totalitärer Herrschaft mutig ist und wofür niemanden Denkmäler errichtet werden, zum Beispiel einem >kleinen Lehrer einer Dorfschule<:

>Nur wer in einer finsteren Zeit gelebt hat, weiß, was es bedeutet, vielleicht nur für einen persönlich bedeutet, wenn ein Biologielehrer vor der Klasse steht und Einführungen in Grundlagen der Naturwissenschaft gibt und dann Folgendes sagt: 'Die biologische Substanz ist als Materie wertlos. Wenn ich in der einen Hand einen Nationalsozialisten hätte, in der anderen einen Haufen Dreck, so wäre das - rein biologisch gesehehen dasselbe.' (Otl Aicher, Innenseiten des Krieges, Frankfurt/M.: Fischer 1985, S. 35)<"

Mein eigenes Schlusswort - wie so häufig - in Gedichtform:


Wer wir sind, und was wir tun?

An alle, die ein Wählervotum für die AfD erwägen

Diese Frage habe ich mir schon im Rahmen meiner Kästner-Adaption gestellt!

Wer wir sind?
Wie können wir das wissen?
Wer wir sind als Kind?
Schaut euren Eltern ins Gewissen!

Gewiss kann heute jeder seh‘n
dass – wo die Seele grob verroht,
wo Solidarität und Mitgefühl vergeh‘n
ein steter Kreislauf droht.

Klaus Theweleit ruft in die Runde:
„Seht dort, die halb-gebor‘ne Brut*,
wie ein Fanal trägt sie die Wunde,
verwandelt sie in rohen Hass und Wut.

Was heißt hier: halb-gebor'ne Brut?“
Nicht jedes Kind wird angebrüllt, geschlagen,
alleingelassen – ohne Zuspruch, ohne Mut,
auf sich gestellt in allen Lebenslagen!

Du meinst, es fehlt an Liebe und an Wärme –
vielleicht ganz schlicht: an Urvertrau'n?
Und Angst schürt das Gelärme?
Worauf soll man denn bau'n?

Ja, Angst bereitet immerfort den Grund,
mit dem beginnt die Welt sich aufzulösen,
- nur noch Fragment, kaputt und wund -
wer sind die Guten, wer die Bösen?

Natürlich ist es leicht, die Bösen auch zu packen,
in einer Welt, in der das Fremde droht.
Wir sind es nicht! So brüll(t)en immer schon die rechten Spacken.
Und sehen ab von sich – reflexhaft und verroht.

Und brüsten sich als singulär und arisch,
als einzigartig grenzt man and're aus.
Und geht ein Fremder fehl, dann ist das exemplarisch,
und alle Fremden müssen raus!

Der eigne Körper wird zur Waffe,
gestählt und taub negiert er jeden Schmerz.
Und nur ein Feind nimmt an, da klaffe
tief in uns ein triefend-blutend Loch im Herz.

Und immer wieder frag ich nach den Müttern.
Wer gebiert denn einen Hurensohn?
Es müsst ihr Herz und den Verstand erschüttern,
wenn Söhne würdelos verlieren sich in blankem Hohn.

Wer glaubt denn heute noch der Haarer
und lässt sein Kind verwahrlost schrein?
Es müsst ein Schmutzfink sein von Pfarrer,
gewissenlos im Anblick fremder Pein.

*um diese Begriffswahl nachvollziehen zu können, muss man sich mit Klaus Theweleit auseinandersetzen (geht über diesen Link)

Und wollt ihr wirklich wieder

"Mütter, die im Schoße tragen
Ein hart Geschlecht, das wie aus Erz geschweißt
Und ohne Knechtsinn, bänglich zagen
Sich kühn den Weg zum neuen Aufstieg weist?

Wollt ihr wirklich wieder

Mütter, die nicht abseits stehen,
Wenn blonde Söhne ruft der Kampfesschall,
Die schützend im Gebet zur Seite gehen
Und segnend Hände breiten überall?

Ja, wollt ihr wirklich wieder

Mütter, die da opfernd geben,
Was sie genährt mit ihres Leibes Blut.
Und wenn der Wunde tiefste schlug das Leben
Sich selbst verströmen in der Liebe Glut?" **

**den Urheber/die Urheberin dieser rot gesetzten Zeilen konnte ich nicht ermitteln

Hört doch Björn, den Höcke reden,
hört des Krahs Gekräh!
Ich frage von euch jeden:
Wollt ihr's wirklich wieder flink und hart und zäh?

Schluss mit eurem billigen Protestgehabe,
ein jeder weiß und hat gewußt -
ein jeder, auch die letzte Schabe,
wer sich bedient und labt an eurem Frust.

Steht auf und nehmt das Leben in die Hand,
steht ein für eure Sache,
ihr lebt in einem freien Land -
schon sieht sie sich - die AfD - als Wache.

Wollt ihr den totalen Sieg
zum Preise eurer Freiheit?
Wenn nicht, dann seht ihn endlich - ihren Krieg,
mit dem sie spalten uns're Einheit!