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W A R U M ?

Warum die Mühe einer Auseinandersetzung mit einer 73 Jahre alten kleinen 15-seitigen Erzählung, die ganz sicher inzwischen im Großen und Ganzen des deutschen Literaturbetriebs vollkommen untergegangen ist – sofern sie jemals eine Resonanz erzeugt hat, die über die Initiationsbedeutung für die Autorin selbst hinausging??? (Angelika Schrobsdorff, Von der Erinnerung geweckt, Deuscher Taschenbuchverlag, München 1999, Seite 9-24)

Das lebensbestimmende W A R U M ?  der Angelika Schrobsdorff taugt für eine grundsätzliche Bestimmung im gegenwärtigen Klima eines bundesweiten Aufbruchs gegen wiedererstarkendes rechtes Gedankengut. Insofern taugt diese kleine Erzählung auch zu einer Besinnung gegenüber den generationenübergreifenden Auswirkungen eines menschenverachtenden Furors, der im kategorisch ausgerichteten, industriell organisierten Massenmord an 6 Millionen Juden und hunderttausenden politisch, religiös, ethnisch, sexuell oder im Hinblick auf ihre Lebenstauglichkeit stigmatisierten Menschen endete. Dass das 1000-jährige Reich nur zwölf Jahre überdauerte, ist dabei eben nicht einem massenhaften deutschen Widerstand geschuldet, sondern dem Willen, dem Opfermut und der militärischen Entschlossenheit der Alliierten.

Genau aus diesem Grund ist – bei aller tief verankerten Erinnerungskultur – politisch am extrem-rechten Rand des politischen Koordinaten- und Wertesystems (angelehnt an den Sprachgebrauch der Nazis würde man von entarteten Subjekten reden) sich breit machenden Demagogen und Hetzern à la Gauland, Höcke, Brandner, Krah, von Weidel… mit Vehemenz entgegenzutreten.

Die kleine Erzählung  W A R U M ?  erinnert uns daran, dass wir die Frage Angelika Schrobsdorffs – sie ist 2016 neunundachtzigjährig gestorben – heute erneut und schonungslos beantworten müssen. Angelika Schrobsdorff hat ihre Mutter 1939 im bulgarischen Exil bedrängt, ihr doch endlich zu sagen, was sie denn Schlimmes getan habe – und warum sie nicht nach Deutschland, in ihre Heimat, zurückkehren können?  „Ich hab dich so lieb, daß mich nichts, gar nichts daran hindern kann, dich auch weiter so liebzuhaben. Du brauchst es mir deswegen nicht zu verheimlichen.“

Was die Mutter ihrer zwölfjährigen Tochter dann endlich offenbart, übersteigt den kognitiven und emotionalen Verstehenshorizont ihrer zwölfjährigen Tochter; mehr noch: Der letzte Satz ihrer Erzählung lautet: „Ich habe keine Erinnerung mehr an die Worte, mit denen sie mir das Unerklärliche erklärte. Verstanden habe ich es nicht. Bis zum heutigen Tage. Das >Warum< ist geblieben.“

Reichen wir die Frage weiter: Was treibt heute Menschen um, bewusst und gezielt mit Begriffen und mit Bezug auf Praktiken zu argumentieren, die durch ihre Nähe zur NS-Ideologie hervortreten. Nein, man darf es Demagogen wie Björn Höcke nicht durchgehen lassen, spitzfindig die grammatikalische Doppeldeutigkeit im Gebrauch des Genetivs für sich geltend zu machen. Wenn man von einem Denkmal der Schande redet, dann tritt die intentionale Dimension des Gebrauchs im Kontext der Gesamtargumention unmissverständlich zu Tage. Ich verstehe selbst etwas von Spitzfindigkeiten, wenn ich die Frage stelle, ob Björn Höcke und Alexander Gauland Drecksäue sind? Ich würde dies niemals behaupten - allein schon nicht, um der Spezies sus cofra (sieh auch: sus scofra domesticus) zu nahe zu treten!!!

Es lohnt sich im Übrigen jene Angelika Schrobsdorff kennenzulernen, die ihre letzten Lebensjahre in Deutschland verbracht hat, die in Deutschland gestorben ist und die zum Leben und Sterben eine sehr eindeutige Haltung eingenommen hat (kleine Kostprobe im Anhang*). Ihre brutale selbst- und alterskritische bis defaitistische Haltung mag wohl auch etwas damit zu tun haben, dass ihre Frage >w a r u m< niemals so beantwortet worden ist, dass die Antworten in einer Gesellschaft lebendig geworden wären, so wie sie Aspekten unserer Erinnerungskultur und dem Adornoschen Nie wieder  gemäß wären!

 

*Anhang: Auszüge aus dem STERN-Interview mit Angelika Schrobsdorff (September 2008)

Vor 70 Jahren mussten Sie, da Sie nach den Rassegesetzen der Nazis als Halbjüdin galten, mit Ihrer Mutter und Ihrer Schwester aus Berlin fliehen. Vor zwei Jahren sind Sie aus Jerusalem zurück in diese Stadt gegangen und …

Warum bin ich hier? Warum? Voller Entsetzen fragen mich das viele Menschen. Ich kann es nicht sagen.

Vielleicht ist Deutschland Ihre Heimat.

Sind Sie wahnsinnig!

Vielleicht sind Sie hier, weil es sich leichter in der Muttersprache stirbt?

Es stirbt sich leichter in Deutschland, ja, das hoffte ich. Aber ich bin keine Deutsche. Heimat ist ein schönes Wort, und ich habe zwei Heimaten verloren: die deutsche und mein Jerusalem. In Jerusalem hatte ich mich fast mit dem Leben versöhnt. Es war das Schönste, was es gibt, und für einige Zeit war ich der glücklichste Mensch auf der Erde. Doch Israel hat sich in den letzten Jahren zu einer verrohten Gesellschaft entwickelt. Die alten Juden, die Kultur hatten, sind gestorben. Ich hatte ein unerhörtes Vertrauen in sie. Doch nun hat sich eine neue Rasse ...

Was? Wie bitte?

Ja, eine neue Rasse hat sich entwickelt: roh, grob, hartherzig, mit Ellenbogen. Eine Kriegerkaste. Die Okkupationen, die sich ständig verschärften, färbten auch ab auf die Okkupanten. Ich habe einen Gerechtigkeitsfimmel. Und das Unrecht, das die Israelis gegenüber den Palästinensern begehen, hielt ich nicht mehr aus. Ich musste weg. Aber wohin denn? Wo soll eine alte Frau hin, die weiß, sie hat die letzte Schwelle ihres Lebens überschritten?

Zur Person

Angelika Schrobsdorff wurde 1927 in Freiburg geboren. Ihre Mutter entstammte dem jüdischen, ihr Vater dem preußischen Großbürgertum. Sie flüchtete 1938 mit ihrer Mutter nach Bulgarien, wo sie bis 1947 blieb. Ihre Großeltern wurden in Theresienstadt ermordet. Ihr erster Roman "Die Herren" durfte 1962 in Bayern nicht erscheinen. Begründung: Sie als Jüdin würde sich darin so negativ schildern, dass es Antisemitismus hervorrufe. Jahrzehntelang lebte sie in Jerusalem. Dort galt sie, weil sie mit den Palästinensern sympathisierte, als Nestbeschmutzerin. Schrobsdorffs größter Erfolg war "Du bist nicht so wie andere Mütter" (1992). Vor zwei Jahren kam sie nach Berlin zurück: "Es stirbt sich leichter in Deutschland."

Und weil Sie Deutsch sprechen, sind Sie hier.

Ja. Jahrelang habe ich alles Deutsche verweigert. Ich habe die Sprache über viele Jahre abgelehnt, es ist ja eine schwere Sprache mit Ecken und Kanten, Brüchen und Rissen. Aber sie ist auch wunderbar. Und es ist für mich nun einfach praktisch, wenn ich jemand anrufen und sagen kann: "Hören Sie mal zu, mein Klo stinkt. Bitte kommen Sie her und schauen Sie nach!" In der deutschen Sprache kann ich streng werden und laut, ich kann mit ihr fluchen und schreien, ich brauche nicht nachzudenken, was "sterben" heißt oder "Bettpfanne" - das hilft im Alltag.