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Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL II

Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)

Der zweite Brief (hier geht's zum ersten Brief)

O’Bär und den Kleinen Herrn trennen einige hundert Kilometer voneinander. O’Bär – so mitten in den Siebzigern – ist nicht mehr ganz fit. Im ersten Brief konnten wir davon eine Ahnung bekommen. Briefe sind eine Möglichkeit schriftlich nachvollziehbaren Kontakt zu halten – im Übrigen nicht nur über erhebliche räumliche Distanz, sondern auch die Zeiten überdauernd. Wie O’Bär bereits im ersten Brief andeutet, manche Botschaft wird der Kleine Herr erst später verstehen. Und dennoch mischen sich in den Briefen des alten, dicken Opas Episodisches mit Grundsätzlichem, wie der zweite Brief dann auch zu erkennen gibt (Hervorhebungen, FJWR):

„Liebster Samuel, mein Kleiner Herr, ein Krokodil ist auf Dich losgegangen, und Du bist fürchterlich erschrocken. So nah wie Du habe ich noch nie ein Krokodil gesehen. Immerhin beruhigst Du Dich nun, schreibt Deine Mama, mit der dicken Glasscheibe, die Dich von dem riesigen Tier trennte. Manchmal brauchen wir solche Scheiben zwischen der Welt und uns. Aber wie soll ich Dir ‚Welt‘ erklären? Ich denke nicht daran, ich warte lieber, bis Du so weit bist, mir Welt erklären zu können.
Bald kommst Du zu Besuch. Ich werde Dir nicht zeigen, wie sehr ich mich nach Dir sehne. Du sollst es nicht erfahren – ich sehe mich vor! O’Bär, der mit Dir spielt, Quatsch macht, sich manchmal brummend in seine Höhle zurückzieht, O’Bär, genau genommen eine Erfindung von Dir, O’Bär ist inzwischen vorhanden. Warum ich Dich liebe? (<--bitte anklicken!) Das kann ich nur schwer für mich selber begründen. Mir fällt dazu ein pathetischer, beinahe biblischer Satz ein: Ich habe Dich als meinen Anfang erkannt. Du wiederholst auf wunderbare Weise, was ich im Laufe vieler Jahre vergaß. Du findest und erfindest Wörter, und mir gehen sie verloren. Ich hoffe, mein lieber Kleiner Herr, dass Dein Spiel und Deine Anstrengung mir auf die Sprünge helfen. So wie ich Dir nun in Sachen Krokodil beistehen möchte. Die Angst – obwohl die dicke Scheibe Dich von dem Ungeheuer trennte – wird Dir vergehen, wenn Du es umnennst, zum Beispiel in Krikodol, in eine lächerliche Erscheinung, die nicht nur im Meerwasser, sondern im Mundwasser schwimmt. Ein geschrumpftes Monster, das meinem Samuel nichts anhaben kann. Was sagst Du jetzt? Wahrscheinlich müssen wir gemeinsam ein Krikodol neu malen, mit einem Körper wie eine Odolflasche und klein, sehr klein! Nicht so groß wie das Krokodil bei Hagenbeck.

Ich sehe Dich auf dem Foto, das Deine Mama von Dir in der Schrecksekunde gemacht hat, und ich denke wieder an Dein Wort, das Du mir geschenkt hast, an >alleinde<. Ganz alleinde stehst Du da. Ich kann dieses Alleinsein mit Dir teilen, das durch Dein >d< so groß und leer wird, wie Einsamkeit nur sein kann.
Heute, nachdem wir mit Deiner Mama telefonierten, als Du mir O’Bär ins Ohr riefst, ging ich rund ums Haus spazieren, meine Beine schmerzten, kamen mir wiederholt vor wie Hölzer ohne Mark, und ich dachte an Dich, wie Du durchs Zimmer hüpfst und rufst: ‚Hoppse, poppse, hoppse, poppse‘. Da flüsterte ich vor mich hin – hätte mich jemand humpeln gesehen und mein Gemurmel gehört, der hätte mich für verrückt gehalten. Du bestimmt nicht.
So schloss ich gestern meinen Brief. Heute früh sitze ich mit dummem Kopf nach einer üblen Nacht und versuche, Dir zu erklären, weshalb ich so schlecht geschlafen habe. Ich höre auch im Schlaf nicht auf zu denken, denke Sätze, die ich schreiben könnte. Nur bin ich mit den Sätzen nie zufrieden, fühle mich unglücklich, und die Wörter beginnen zu Knoten zu werden, die Sätze knäulen sich, ich bewege sie hin und her, ohne dass ich mich an ihren Sinn erinnern kann.
Oma und ich fahren jetzt zum Markt. Wir haben dort schon ein paar Wochen gefehlt und werden sicher vom Käsemann und der Gemüsefrau gefragt, wo wir gewesen sind. Stell Dir vor, manchmal erkundigen sie sich auch nach Dir, nach dem Kleinen Herrn, der so kundig Käse verkostete und eine einzige Kartoffel kaufen wollte.
Tschau, tschau, ruft Dir Dein O`Bär zu.

Lieber Peter Härtling, Dein Samuel müsste unterdessen noch nicht ganz zwanzig sein. Am 10. Juli jährt sich Dein Todestag zum sechsten Mal. Samuel war schon 2008 – bei Erscheinen von O’BÄR nicht mehr der jüngste Deiner EnkelInnen – Fanny ist neben Marie, Brigitta, Hannah, Paul und Frederik noch in Deine Widmung mitaufgenommen worden. 2017 war Samuel wohl so etwa 13 Jahre alt. Natürlich war der Verlust von O’Bär damals ganz sicher ein tiefgreifender und von sehr schmerzhafter Natur. Aber als Wärmespender und –tauscher bist Du in der Welt geblieben. Und Deine Vermutung wird sich gewiss erfüllen, dass Samuel – und gewiss die anderen EnkelInnen – Dich vielleicht mehr und mehr verstehen werden. Aber es wird wohl mehr sein, was da fließen kann und darf. Deine Kollegin Helga Schubert hat auf unvergleichliche Weise auf den Punkt gebracht, warum Deine EnkelInnen – wenn sie Dich erinnern – mit einem prall gefüllten Rucksack ihren Lebensweg erwandern können:

Auf die Frage nach der Freude (nach ihrem Tod) antwortet Helga Schubert: „Ich bin mir sicher, dass die mir nahen und wichtigen Menschen, auch nach ihrem Tod, in mir bleiben. Sie werden mich sehen und mich zu schützen versuchen, mich warnen und trösten, obwohl sie körperlich tot sind. Das würde aber auch bedeuten, und das habe ich noch nie bedacht, dass ich nach meinem Tod auch noch in den Menschen bleibe, denen ich nah und wichtig war, dass ich sie nun beschützen, warnen und trösten kann, wenn sie das wollen, auch wenn meine sterbliche Hülle, zu Asche verwandelt, schon lange auf dem wunderschönen Friedhof neben dem überlebensgroßen braunen Holzkreuz in der Erde ist. Darauf freue ich mich: auf eine Verbundenheit über den Tod hinaus, auf Leichtigkeit und Wohlwollen. Alle Schwere ist dann weg."

Daher danke ich Dir, lieber Peter Härtling, dafür, dass Du all die Sätze aufgeschrieben hast; dass Du Dich nicht hast irritieren lassen von den Knoten, in die sich Deine Wörter verknäult haben. Wir entziffern den Sinn Deiner Wörter – so, und dies will ich für Dich hoffen, wie es Samuel und alle Deine EnkelInnen vermutlich tun. Vielleicht gelingt es Dir im Elysium mit Dir ins Reine zu kommen. Du bist nicht schuldig geworden. Als das verantwortliche, ideologisch versiffte Nazi-Dreckspack den Hass und die Unmenschlichkeit in eure Herzen und Hirne säten, warst Du ein kleiner Junge – zuletzt eben einmal dreizehn Jahre alt -, als das tausendjährige Reich im Sumpf seiner Verbrechen und Lügen versank. Und es ist Dir zu danken, dass wir den heutigen hirnlosen, geschichtsvergessenen Verleugnern deutscher Schuld Deine Schriften entgegenschleudern können.

Teil III zu O'BÄR AN ENKEL SAMUEL hier!